Gemeinsam dekolonisieren

Foto: Stefanie Grolig/GfbV

 

Öffentlichkeitsarbeit für eine postkoloniale Erinnerungskultur

Das Projekt „Gemeinsam dekolonialisieren: Öffentlichkeitsarbeit für eine postkoloniale Erinnerungskultur“ wird in Kooperation zwischen dem Verein ASA-FF e.V., „Göttingen Postkolonial“, dem Stadtlabor Göttingen und der GfbV durchgeführt. In Namibia sind das Ovaherero Genocide Museum und das Amaru Arts and Community Centre in Swakopmund die Projektpartner. Finanziert wird das Projekt vom „ASA-Programm“ des BMZ. Die GfbV finanziert einen kleinen Anteil mit.

Ziel des Projektes ist es, neue Ansätze in der postkolonialen Erinnerungskultur in Göttingen und Swakopmund zu entwickeln. Dafür wurde ein Projektteam ausgewählt, in dem drei junge Menschen aus Namibia mit drei Deutschen zusammenarbeiten. Die Projektphase umfasst jeweils dreimonatige Aufenthalte des Teams in Göttingen und in Swakopmund. Aktuell sind die Teilnehmenden aus Namibia in Göttingen. Hier hat sich das Team kennengelernt, hat Göttingen erkundet, ist mit unterschiedlichsten Akteur*innen aus der Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik in Beziehung getreten und hat sich dem Thema inhaltlich genähert.

In Göttingen gibt es das „Südwest Afrika Denkmal“, das an die Schutztruppen im heutigen Namibia erinnert.

Die Stadt Göttingen war durch die Göttinger Soldaten dort präsent, aber auch durch vielfältige Beziehungen der Universität, über Netzwerke, wie Vereine, Kaufleute etc. mit den deutschen Kolonien* verbunden.

Heute befinden sich noch viele Objekte aus dieser Zeit in Göttingen. Ein Weg diese Geschichte aufzuarbeiten und damit ein Zeichen gegen die „koloniale Amnesie“ zu setzen, ist die Beschäftigung gerade mit der lokalen Geschichte. Hier knüpft das Projekt an, das über das binational besetzte Projektteam auch die beiden Städte Göttingen und Swakopmund und die beiden Kolonialdenkmäler in einen Dialog bringen will.

Das Projekt ist weiter zu verstehen als ein Schritt in einem Komplex von Versuchen in Göttingen mit der Kolonialgeschichte umzugehen. Seit vielen Jahren suchen Stadtgesellschaft und Politik Wege, ohne eine zufriedenstellende Lösung zu finden. Das Projekt wird ein konkretes Ergebnis haben: eine Aktion in Göttingen und ein digitales Produkt, die sich mit den zwei Denkmälern befassen. Gleichzeitig stößt es in Göttingen und in einem nächsten Schritt auch in Swakopmund ein neues Nachdenken über diese Zeit und die Verantwortung, die aus den deutschen Verbrechen, insbesondere dem Genozid an den Ovaherero und Nama 1904-1908, in Göttingen (und weiter in Deutschland) besteht, an.

 

 

*  Dazu zählen laut dem Stadtmuseum Göttingen: Burundi, China, Gabun, Ghana, Namibia, Nigeria, Kamerun, Papua-Neuguinea, Republik Kongo, Ruanda, Tansania, Togo, Tschad, Zentralafrikanische Republik, mehrere Inseln im Westpazifik und Mikronesien. 

 

Projektverantwortliche


Onesmus Katangu, 29, Namibia

Als Kind habe ich mich immer gefragt, warum Schwarze** von Armut und Leid betroffen sind und warum sie hart arbeiten müssen, um es den Weißen recht zu machen. Warum sind Schwarze Gemeinschaften in ihrem eigenen Land unterentwickelt? Ich habe verstanden, dass dies auf das koloniale System zurückzuführen ist, das darauf abzielt, die Menschen wegen ihres Landes, ihrer Ressourcen, ihrer Kultur und ihres Wissens zu kontrollieren und auszubeuten. Dieses kritische Verständnis der globalen Geschichte muss den heutigen und künftigen Generationen vermittelt werden, um das Bewusstsein und das Verständnis für koloniale Kontinuitäten zu gewährleisten. 

Heute sind wir Zeug*innen des anhaltenden Völkermords am palästinensischen Volk, der uns eindringlich daran erinnert, dass die Menschheit nicht aus der Geschichte gelernt hat. Mein Ziel ist es, Wege zu finden, um diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen und einen sinnvollen Wandel herbeizuführen. Die Bemühungen um eine Einigung sind jedoch auf harsche Kritik gestoßen, da die Vertreter der Ovaherero und Nama von den Gesprächen ausgeschlossen wurden. Außerdem haben die Regierungen von Namibia und Deutschland die gemeinsame Erklärung zur Anerkennung des Völkermords an den Ovaherero und Nama, der sich von 1904 bis 1908 ereignete, noch nicht unterzeichnet.

Neben der Anerkennung historischer Gräueltaten ist es von entscheidender Bedeutung, sich auf Wiedergutmachung und Heilung zu konzentrieren. Es müssen Bildungsinitiativen durchgeführt werden, um die gesamte Geschichte des Völkermordes und seine anhaltenden Auswirkungen zu vermitteln. Die Bemühungen sollten darauf gerichtet sein, den Dialog und das Verständnis zwischen den betroffenen Gemeinschaften und Nationen zu fördern und sicherzustellen, dass ihre Stimmen gehört und respektiert werden. Auf diese Weise können wir auf eine Zukunft hinarbeiten, in der Gerechtigkeit und Gleichheit herrschen.
 


Beurencia Tjieripo Meituere, 23, Namibia

Als junge Namibierin, die an den Rand gedrängt wurde, hat die Teilnahme an diesem Projekt mein Verständnis für die Vergangenheit unseres Volkes vertieft. Wir wurden zwar in der Schule darüber unterrichtet, aber Vieles wurde nie direkt angesprochen. Ich habe das Gefühl, dass viele einheimische Hereros und Namas sich des dunklen Kapitels des Völkermords, der zwischen 1904 und 1908 stattfand, manchmal nicht bewusst sind. Ich möchte dieses Wissen mit anderen und zukünftigen Generationen teilen, denn wenn man seine Geschichte nicht kennt, ist man wirklich verloren. Und ich würde gerne wissen, woher ich komme und wohin ich gehe, denn die meisten Hereros und Namas spüren immer noch die Apartheid unter ihnen, weil ihnen die Ressourcen und die geliebten Menschen weggenommen wurden.


Paulina Guskowski, 29, Deutschland

Da ich als Weiße in einer deutschen Schule in Südafrika aufgewachsen bin und meine Eltern in der Entwicklungsarbeit tätig waren, waren mir die neokolonialen Kontinuitäten schon als Kind immer sehr bewusst. Globale Ungleichheiten sind ein Ergebnis des Kolonialismus und werden durch heutige Strukturen und Institutionen aufrechterhalten und reproduziert. Oft scheint es unmöglich, diese Ungleichheiten zu überwinden. Ich habe mich für dieses Projekt beworben, weil ich viel Erfahrung und Wissen über dieses Thema habe und zumindest versuchen möchte, es zu nutzen, um die Welt zum Besseren zu verändern. Es ist unumgänglich, diese Arbeit sowohl in Deutschland als auch in Namibia zu machen und verschiedene Perspektiven einzubeziehen. Deutschland und andere ehemalige Kolonialmächte müssen endlich Verantwortung für die vergangenen und gegenwärtigen Kontinuitäten übernehmen!


Mariama Bah, 25, Deutschland

Als Schwarze Frau, die im überwiegend Weißen Göttingen geboren und aufgewachsen ist, sind koloniale Spuren wie Rassismus immer Teil meines Lebens gewesen. Durch mein Studium der Kulturwissenschaften und die großen Black Lives Matter-Proteste im Jahr 2020 kam ich verstärkt mit postkolonialen und rassismuskritischen Ansätzen in Berührung, die mich nicht mehr losließen. Ich begann mich in verschiedenen politischen Gruppen zu engagieren, die sich gegen Rassismus und für das Empowerment Schwarzer Menschen in Deutschland einsetzen. Als Teil dieses Austauschprojekts habe ich nun die Chance, mit transkontinentalen Perspektiven auf Dekolonialisierung und Erinnerungskultur in Kontakt zu kommen, die wirklich notwendig sind. Es ist großartig, dass es Projekte wie dieses gibt, aber es besteht ein großer Bedarf an einer nachhaltigen Umsetzung der Vermittlung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und ihrer Auswirkungen auf Menschen des Globalen Südens. Unser Handeln von heute rettet das Leben der BIPoCs von morgen. 


Katharina Pfeil, 26, Deutschland

Als Kind war mir nicht bewusst, was für Privilegien ich als Weißes deutsches Mädchen in dieser Welt hatte. Ich wusste zwar, dass die Menschen mit unterschiedlichen Lebensbedingungen konfrontiert sind und dass es einigen besser geht als anderen, aber als Kind habe ich das nicht in Frage gestellt. Mein Umfeld hat mir gezeigt, dass das normal ist, und um ehrlich zu sein, hatte ich einfach Glück, in Deutschland aufgewachsen zu sein. Irgendwann im Laufe meines Studiums stolperte ich über das gewaltige koloniale Erbe, das die europäische und deutsche Gesellschaft in ihrer heutigen Form prägt. Diese Geschichte, die in deutschen Schulen kaum und überhaupt nicht kritisch als Allgemeinwissen gelehrt wird, wird nicht bald veralten oder irrelevant sein.

Wir müssen unsere Augen nicht nur für den grausamen, zerstörerischen und rücksichtslosen Teil unserer Vergangenheit öffnen, sondern auch ihre Spuren bis heute sehen. Europa profitiert von ehemals kolonisierten Gemeinschaften und Ländern und hält ausbeuterische, ungleiche, globale Machtverhältnisse aufrecht. Seine globale Stärke beruht auf seinem von Menschenhand geschaffenen kapitalistischen System, das diejenigen mit Geld und Macht begünstigt und diejenigen untergräbt, die eigentlich über die wertvollen Ressourcen verfügen. Symbolisch den weniger industrialisierten, weniger digitalisierten, weniger kapitalisierten Ländern zu helfen und gleichzeitig die Oberhand zu behalten, um sicherzustellen, dass diese Länder abhängig und wirtschaftlich schwach bleiben, ist etwas, das als Doppelmoral im großen Stil entlarvt werden muss. Es ist an der Zeit, dass Europa einen Schritt zurücktritt und sich für den Schaden entschuldigt, der bis heute angerichtet wurde. 


Ningiree Kauvee, 23, Namibia

Meine Motivation beruht auf dem Wunsch, die wahre Geschichte unseres Volkes wiederzugeben. Wir wollen sicherstellen, dass unsere Geschichte sowohl innerhalb unserer Gemeinschaften als auch in der Welt genau und respektvoll erzählt wird. Wir wollen eine Erzählung präsentieren, die nicht durch eine europäische Perspektive gefiltert ist, sondern aus namibischer Sicht erzählt wird.

Meine Schwester und ich haben es uns zur Aufgabe gemacht, eine Plattform zu schaffen, die die Perspektiven, die wir von den Älteren gelernt haben, weitergibt. Es sind Geschichten und Einsichten, die außerhalb unserer Gemeinschaft weitgehend unbekannt sind. Unsere Geschichte umfasst einen bedeutenden Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft und erkennt an, dass mehr als nur zwei Stämme an diesem Widerstand beteiligt waren. Während die Ovaherero und Nama am meisten litten, mussten die Ovaherero, Damara, San, Nama und andere Gemeinschaften unter der deutschen Kolonialherrschaft unermessliches Leid ertragen, einschließlich eines Völkermordes, der unsere Vorfahren auszulöschen versuchte.

Für mich bedeutet Dekolonialisierung, diese Geschichten auszugraben und zu würdigen, das Leid anzuerkennen und die Widerstandskraft unserer Vorfahren zu würdigen. Unsere Plattform wird als Leuchtturm dienen, um diese Wahrheiten mit der ganzen Welt zu teilen und sicherzustellen, dass die Stimmen und Erfahrungen unseres Volkes gehört und respektiert werden.
 

** Schwarz ist für uns eine politische Selbstbezeichnung und keine Farbe. Die Begriffe Weiß und Schwarz werden in der jüngeren Literatur im Bereich Rassismuskritik und Dekolonialisierung so schriftlich verwendet. Konkret beziehen wir uns hier auf: Natasha A. Kelly (Hg.): Schwarzer Feminismus. Grundlagentexte. Unrast Verlag. 2019, p.14.

 

Fotos: Stefanie Grolig/GfbV

 

Postkolonialer Stadtrundgang

Junge Menschen aus Namibia und Deutschland haben im Juli einen postkolonialen Stadtrundgang angeboten. In der heißen Mittagssonne konnten Teilnehmende über den Bezug von Göttinger Alltagsorten zur deutsch-namibischen Kolonialgeschichte lernen. Stationen waren der Wilhelmsplatz, die Konditorei Cron & Lanz, das Blumenbach-Institut der Universität und der Albani Platz. Das umstrittene Südwestafrika-Denkmal bildete den Höhepunkt des Rundgangs. 

An jeder Station wurde ein Tatort (Crime Scene) markiert und daraufhin erläutert, welches Kolonialverbrechen sich in Verbindung mit diesem Göttinger Ort ereignet hat bzw. welche Auswirkungen der deutsch-namibischen Kolonialisierung bis heute fortwirken. Im Anschluss hielten die Expert*innen Israel Kaunatjike und Namupa Shivute Vorträge zu Neokolonialismus im deutsch-namibischen Kontext. Die Veranstaltung ist Teil des Projekts „Gemeinsam dekolonialisieren: Öffentlichkeitsarbeit für eine postkoloniale Erinnerungskultur“.

Fotos: Paulina Guskowski und Stefanie Grolig.

 

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zuletzt bearbeitet August 2024

 

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