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Sinti

- Europa -

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) setzt sich seit 1969 für die verschiedene Minderheiten in Europa ein. 

 

Zum Begriff: Sinti und Roma

„Sinti“ bezeichnet die in Mittel- und Westeuropa seit dem ausgehenden Mittelalter beheimateten Angehörigen der Minderheit, „Roma“ jene ost- bzw. süd-osteuropäischer Herkunft. Die nationalen Sinti- und Roma-Gemeinschaften sind durch die Geschichte und Kultur ihrer jeweiligen Heimatländer geprägt und haben wichtige Beiträge zur deutschen und europäischen Kultur geleistet. Die deutschen Sinti und Roma sind in Deutschland seit 1997 als nationale Minderheit anerkannt und stehen unter dem Schutz des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats.

Zu den in Deutschland lebenden Gruppen der Sinti und Roma gehören die Sinti, die seit ca. 600 Jahren in Deutschland beheimatet sind, sowie die Roma, die im Laufe des 19. Jahrhunderts eingewandert sind. Später kamen Roma als Gastarbeiter und in den neunziger Jahren als Geflüchtete der Jugoslawienkriege nach Deutschland. Viele von ihnen besitzen heute die deutsche Staatsbürgerschaft. Weitere Angehörige der Minderheit sind im Zuge der EU-Freizügigkeit hergezogen.

Die Begriffe Sinti und Roma tauchen in Quellen bereits seit dem 18. Jahrhundert auf. Seit vielen Jahren werden die Eigenbezeichnungen „Roma“ bzw. für den deutschen Sprachraum „Sinti“ auch in den internationalen Organisationen (OSZE, Europarat, Europäische Union, UNO) offiziell geführt. So gibt es bei der OSZE seit Beginn der neunziger Jahre den „Contact Point for Roma and Sinti Issues“.

Die Bezeichnung Roma als Sammel- oder Überbegriff für die gesamte Minderheit geht auf den ersten Welt-Roma-Kongress 1971 in London zurück. Mit dem Begriff sollte den negativ und abschätzigen konnotierten Fremdbezeichnungen in den jeweiligen Landessprachen eine Eigenbezeichnung entgegengestellt. In Deutschland wird die Doppelbezeichnung „Sinti und Roma“ verwendet.

Sprache Romanes

Das circa 2000 Jahre alte Romanes ist eine eigenständige Sprache mit Ursprüngen im altindischen Sanskrit. Es gehört zu den indoeuropäischen Sprachen und steht in vielen europäischen Ländern unter dem Schutz der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich in Europa verschiedene Varietäten des Romanes herausgebildet. In Deutschland kann bspw. entlang der deutschen Mundarten zwischen dem preußischen, bayerischen, württembergischen, pfälzischen oder sächsischen Romanes-Dialekt differenziert werden. Die meisten Sinti und Roma sprechen Romanes als zweite Muttersprache neben der Sprache ihres jeweiligen Heimatlandes.

Das soziale Konstrukt des „Zigeuners“

Die Bezeichnung „Zigeuner“ ist eine von Vorurteilen und Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft, die von den meisten Sinti und Roma als diskriminierend abgelehnt wird. Sie ist untrennbar verbunden mit diskriminierenden Zuschreibungen, auf deren Grundlage Sinti und Roma über Jahrhunderte stigmatisiert und verfolgt wurden. Spätestens seit den ausgehenden 1930er Jahren wurde der Begriff zu einer rassistischen Kategorie, auf deren Grundlage im Nationalsozialismus eine halbe Million Sinti und Roma ermordet wurden. Der NS-Völkermord an den Sinti und Roma wurde lange Zeit geleugnet und erst 1982 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt offiziell anerkannt.

Die Durchsetzung der Eigenbezeichnung Sinti und Roma im öffentlichen Diskurs war von Anfang an ein zentrales Anliegen der Bürgerrechtsbewegung, die sich vor allem seit Ende der Siebzigerjahre in der Bundesrepublik formierte. Dadurch sollte zugleich ein Bewusstsein für jene Vorurteilsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen geschaffen werden, die im Stereotyp vom „Zigeuner“ ihre Wurzeln haben. Wer dafür plädiert, den Ausdruck „Zigeuner“ „wertneutral“ zu verwenden, blendet nicht nur den historischen Kontext aus. Er ignoriert auch völlig den heutigen Gebrauch in der Umgangssprache, in der „Zigeuner“ immer noch als Schimpfwort benutzt wird.

Antiziganismus

Unter dem Vorsitz Deutschlands verabschiedete die Internationale Allianz zur Holocaust-Erinnerung (IHRA) am 8. Oktober 2020 eine rechtlich nicht bindende Arbeitsdefinition für Antiziganismus als spezifische Form des Rassismus, die sich seit Jahrhunderten gegen Sinti und Roma richtet:

„Antiziganismus manifestiert sich in individuellen Äußerungen und Handlungen sowie institutionellen Politiken und Praktiken der Marginalisierung, Ausgrenzung, physischen Gewalt, Herabwürdigung von Kulturen und Lebensweisen von Sinti und Roma sowie Hassreden, die gegen Sinti und Roma sowie andere Einzelpersonen oder Gruppen gerichtet sind, die zur Zeit des Nationalsozialismus und noch heute als „Zigeuner“ wahrgenommen, stigmatisiert oder verfolgt wurden bzw. werden. Dies führt dazu, dass Sinti und Roma als eine Gruppe vermeintlich Fremder behandelt werden, und ihnen eine Reihe negativer Stereotypen und verzerrter Darstellungen zugeordnet wird, die eine bestimmte Form des Rassismus darstellen.

Antiziganismus gibt es seit Jahrhunderten. Er war ein zentrales Element der gegen Sinti und Roma gerichteten Verfolgungs- und Vernichtungspolitik, wie sie vom nationalsozialistischen Deutschland sowie von denjenigen faschistischen und extrem nationalistischen Partnern und anderen Mittätern, die sich an diesen Verbrechen beteiligten, betrieben wurde.

Antiziganismus hat weder mit der NS?Zeit begonnen noch danach aufgehört, sondern ist weiterhin ein zentrales Element von an Sinti und Roma begangenen Verbrechen. Trotz der bedeutenden Arbeit der Vereinten Nationen, der Europäischen Union, des Europarates, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und anderer internationaler Gremien sind die Stereotypen und Vorurteile in Bezug auf Sinti und Roma bis heute weder delegitimiert noch hinreichend energisch diskreditiert worden, so dass sie fortbestehen und unwidersprochen angewendet werden können.“

https://ihra2020.diplo.de/ihra-de/-/2403766

Relevante weiterführende Literatur:

Wolfgang Benz, Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus, Bonn/Berlin 2014.
Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner - Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011.
Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (Hrsg.): Antiziganismus. Soziale und historische Dimensionen von "Zigeuner"- Stereotypen, Heidelberg 2015, online unter: https://dokuzentrum.sintiundroma.de/wp-content/uploads/2019/12/150000_Publ_Tagungsband_Antiziganismus.pdf
Markus End: Antiziganismus in der deutschen Öffentlichkeit. Strategien und Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg 2014: http://www.sintiundroma.de/uploads/media/2014StudieMarkusEndAntiziganismus.pdf
Markus End/ Kathrin Herold/ Yvonne Robel: Antiziganistische Zustände. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments, Münster 2013.
Jacqueline Giere (Hrsg.): Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners: Zur Genese eines Vorurteils. Frankfurt am Main 1996.
Frank Reuter: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des »Zigeuners«, Göttingen, 2014.
Michael Zimmermann: Zigeunerbilder und Zigeunerpolitik in Deutschland. Eine Übersicht über neuere historische Studien, in: WerkstattGeschichte 25/2000, S. 35-58.
Karola Fings: Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016.
Oliver von Mengersen (Hrsg.): Sinti und Roma. Eine deutsche Minderheit zwischen Diskriminierung und Emanzipation, Bonn/München 2015.

https://rm.coe.int/dritte-migration-datenblatter-zur-geschichte-der-roma/16808b1c6c

 

Für und von
Zentralrat Deutscher Sinti und Roma
Jara Kehl
jara.kehl@sintiundroma.de / zentralrat@sintiundroma.de

Jasna Causevic
GfbV
j.causevic@gfbv.de

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© Matthias Rietschel/ picture alliance / ASSOCIATED PRESS

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