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29.10.2002

ILO-Konvention 169

Konkretes Recht, von den Staaten ignoriert

Die ILO-Konvention Nr. 169 ist die bislang einzige internationale Norm, die indigenen Völkern rechtsverbindlich Schutz und Anspruche gewahrt; also eine Art internationales Grundgesetz. Die "Übereinkunft Nr. 169 über indigene und in Stämmen lebende Völker" der International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisationen) wurde 1989 von der jährlichen Hauptversammlung der ILO verabschiedet. Von den 176 Mitgliedsstaaten der ILO haben bislang 17 die Konvention ratifiziert.

Die ILO-Konvention Nr. 169 bezieht sich auf ca. 300 Millionen Menschen - laut UN-Bericht 1996 also vier bis fünf Prozent der Erdbevölkerung - die sich zu indigenen Völkern, Nationen und Gemeinschaften zählen. Sie stellen die ursprünglichen Bewohner in ihren Gebieten dar, verfügen mindestens über Restbestände einer eigenen Sprache, Religion und Kultur und leben vielfach noch in enger Beziehung mit der Natur. Häufig sind sie Opfer von Ausbeutung, Unterdrückung, Diskriminierung bis hin zum Völkermord. Ihre Lebensgrundlagen werden u.a. durch Konzerne und Staaten, aber auch durch Reglementierungen etwa zum Naturschutz bedroht, die ihnen eine freie Entscheidung über die eigene Zukunft unmöglich machen.

Warum sollten Länder der EU die ILO-Konvention 169 unterzeichnen?

In Politik und Wirtschaft agieren Industrieländer wie die Bundesrepublik Deutschland mit teilweise unmittelbaren Folgen für indigene Völker, deren Territorien und Ressourcen. Deshalb haben diese Staaten eine direkte Verantwortung gegenüber diesen Völkern. Außerdem diskutieren die Staaten seit der Rio-Konferenz 1992 global über nachhaltige Wirtschaftsweisen, den Schutz des Regenwaldes oder die Aufrechterhaltung der biologischen Artenvielfalt. Indigene Völker steuern dazu wesentliche Erfahrungen bei. Dies kann natürlich nur gelingen, wenn ihre Existenz als Kollektiv verbindlich geschützt wird, d.h. wenn den Angehörigen einer Gemeinschaft ihre Herkunft und Identität (Siedlungsgebiete, Landrechte, Religion, Sprache, Kultur und kulturelle Symbolgefüge) garantiert werden.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) verabschiedete im November 1996 das Sektorpapier (073/1996) zur Entwicklungszusammenarbeit mit indianischen Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika. Das Papier empfiehlt, die Entwicklungszusammenarbeit an der Konvention Nr. 169 zu orientieren und z.B. die Prioritäten für den Entwicklungsprozess von den indigenen Völkern festlegen zu lassen.

Der entscheidende Schritt ist jedoch bislang unterblieben. So argumentieren die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland bis heute, die Konvention 169 gelte ausschließlich für Staaten mit indigener Bevölkerung auf dem eigenen Staatsgebiet. Eine Ratifizierung durch die Bundesrepublik sei daher völkerrechtlich zwar möglich, aber nicht sinnvoll, da in Deutschland keine indigenen Völker leben. Ein von einer nachteiligen Maßnahme der Bundesrepublik betroffenes indigenes Volk in einem Partnerland hätte trotz Ratifizierung keine juristische Handhabe dagegen. Außerdem könnte eine Ratifizierung aus "Solidaritätsgründen" als subtile Einmischung in die - indigenen - Angelegenheiten anderer Staaten verstanden werden. Inoffiziell befürchtet wird allerdings auch, dass die Konvention 169 indirekte Bindewirkungen nach sich ziehen könnte, die den Spielraum der Politik einengten. Die Argumentation klingt wenig überzeugend.

Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit internationale Abkommen ratifiziert, ohne dass diese unmittelbar einschlägig für den rechtlichen Geltungsbereich des deutschen Staates gewesen waren; etwa zur Abschaffung der Todesstrafe oder die Charta der Regional- und Minderheitensprachen des Europarates. Die Todesstrafe ist per Verfassung bereits seit 1949 abgeschafft, und ebenso wenig weist das Grundgesetz Minderheiten aus. Gleichwohl hat die Bundesregierung beide Abkommen aus guten Gründen unterzeichnet: Je mehr und je gewichtiger die Signatarstaaten einer Konvention sind, desto eher gelingt es, einen universell gültigen Normenkatalog zu schaffen. Das Standard-Setting reiht sich außerdem in die zunehmenden Bemühungen um einen eigenständigen völkerrechtlichen Schutz für indigene Völker ein, wie ihn etwa die Allgemeine Erklärung der Rechte Indigener Völker oder eine ständige Vertretung indigener Völker bei den Vereinten Nationen (Stichwort "Permanentes Forum") vorsehen.

Außerdem: Wenn schon von Einmischung die Rede sein soll, dann muss festgehalten werden, dass diese durchaus stattfindet; bislang allerdings zu Lasten der indigenen Völker. Und der Begriff Solidarität beinhaltet - grob gesprochen - in seinen ursprünglichen Zusammenhängen, andere selbst unter Inkaufnahme eigener Nachteile zu unterstützen, weil es ihnen, gemessen an Freiheit und Gerechtigkeit, deutlich schlechter geht. Im Kontext der ILO-Konvention ginge es also darum, dem übereinkommen eine normative Wirkung hin zu globaler Rechtsstaatlichkeit für indigene Völker zu verleihen. Die Stärkung dieses internationalen Standards erachtet inzwischen aber auch die Europäische Union (EU) als sinnvoll. Die Diskussionen darüber lassen nicht den Schluss zu, die EU wollte die Normbindung verwässern oder sich in interne Angelegenheiten anderer Partnerstaaten einmischen.

Die Niederlande - ebenfalls ohne indigene Völker auf ihrem Staatsgebiet - haben bei der Begründung zur Ratifizierung verkündet, in Zukunft beim Handel mit Tropenhölzern oder bei Tiefflügen über dem Gebiet der Innu in Kanada neue Maßstäbe zu setzen. Ebenso soll das Abkommen zum Wegweiser bei der Planung und Durchführung von Entwicklungshilfeprojekten werden. So werden Grundlagen und Leitlinien für eine neue nationale Außen- und Wirtschaftspolitik eingeführt, die Anspruch auf eine faktische Verbindlichkeit erheben. Allein schon der durch die Ratifizierung zum Ausdruck kommende politische Wille, die Außenbeziehungen gemäß den Normen der ILO-Konvention zu gestalten, ist Ausdruck einer veränderten politischen Konzeption.

Die ILO selbst ermuntert in ihrem Handbuch zur Konvention Nr. 169 diejenigen Staaten zur Ratifizierung der Konvention 169, in denen keine indigenen Völker beheimatet sind. Neben humanitären und solidarischen Gründen soll daraus eine veränderte, neue Entwicklungspolitik hervorgehen. Sollten Länder wie die Bundesrepublik jedoch die ILO-Konvention ratifizieren und sich von deren Normen leiten lassen, ergeben sich mittelbare Konsequenzen, die in ihrer faktischen Bindungswirkung den direkten Verpflichtungen nicht nachstehen.

Indigene Völker hätten unter Verweis auf die Normen der lLO-Konvention - mit Ausnahme der innerstaatlichen Klagemöglichkeit - alle Instrumente in der Hand, um über politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ethischen Druck die für sie nachteilige Maßnahme abzuwehren. Durch die dreigliedrige Struktur der ILO würde nicht zuletzt den Gewerkschaften - und mittelbar wohl auch den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) - ein größerer Handlungsspielraum eröffnet, der ihnen einen legitimen Einfluss auf die Inhalte der Politik einräumt; d.h. politischen Druck auf das Image solcher Länder auszuüben, die gegen das übereinkommen verstoßen.

Die Unterzeichnerstaaten der ILO-Konvention sind verpflichtet, alle fünf Jahre einen Bericht über die Umsetzung des Abkommens vorzulegen. Das Bemühen, Bedingungen für eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung sowie neue Formen der Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern zu schaffen und mit ihnen einen politischen Dialog über Fragen der globalen Strukturpolitik zu führen, fände in der lLO-Konvention 169 einen möglichen, angemessenen Rahmen.

Auch innerhalb der Europäischen Union gewinnen die Belange indigener Völker an Bedeutung. Das Europaparlament forderte bereits 1994 die EU-Regierungen auf (Entschließungsantrag A3-0059/94), der ILO-Konvention 169 beizutreten. Die EU- Kommission verabschiedete 1998 ein Strategiepapier zur verbesserten, zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit zwischen EU und indigenen Völkern. 1998 folgte eine entsprechende Resolution. In beiden Papieren unterstreicht die EU die Bedeutung der ILO-Konvention als Normgerüst für die Beziehungen mit indigenen Völkern. Schließlich fordert die UN-Dekade zu den Indigenen Völkern der Welt (1994-2004) seit nunmehr acht Jahren zu "neuen Partnerschaften" auf. Die Ratifizierung der lLO-Konvention 169 ist dazu ein wesentlicher Beitrag.

Angesichts der Hinhaltung auch der jetzigen Bundesregierung haben sich in Deutschland mehrere Organisationen zum sogenannten "Koordinationskreis ILO-Konvention" geschlossen: Adivasi-Koordination, amnesty international, FIAN (Food First and Information Network), Gesellschaft für bedrohte Völker, Klimabündnis Geschäftsstelle Frankfurt, INFOE (Institut für Ökologie und Aktions-Ethnologie) und WUS (World University Service).

Die sich hinziehende, beharrliche Lobby-Arbeit kann erste Früchte ernten. Mittlerweile sprechen sich das Außenministerium und das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ausdrücklich zugunsten der Ratifizierung der ILO-Konvention 169 aus. Das federführende Ministerium für Arbeit und Soziales (BMA) verhält sich dagegen noch reserviert, wenngleich die schroffe Ablehnung früherer Jahre nicht mehr vorhanden ist.

Wer ist die ILO?

Die ILO wurde 1919 gegründet. Es handelt sich um eine Sonderorganisation der UNO, die sich drittelparitätisch aus Vertretern von Regierungen, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. Die ILO soll für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen, Lebens- und Arbeitsbedingungen im internationalen Rahmen verbessern und somit zu einem friedlichen Zusammenleben beitragen. "Der Weltfriede kann auf Dauer nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden" ist einer der Grundsätze der ILO. Um die Aufgabe weltweiter sozialer Mindeststandards erfüllen zu können, hat sich die ILO auch dem dringenden Erfordernis angenommen das überleben indigener Völker zu sichern. Das "Internationale Arbeitsamt" in Genf ist das ständige Sekretariat der Organisation.

Die überarbeitete Konvention 169 anerkennt die Existenz der indigenen Völker und unterstreicht ausdrücklich das Recht auf kulturelle und ethnische Verschiedenheit. In insgesamt 44 Artikeln legt sie einen Grundrechtskatalog für die "indigenen und in Stämmen lebenden Völker" vor.

Dazu gehören insbesondere:

  • volle Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 2, 3)
  • Recht auf Gestaltung der eigenen Zukunft (Art. 6, 7)
  • Recht auf kulturelle Identität und auf auf gemeinschaftliche Strukturen und Traditionen (Art. 4)
  • Recht auf Land und Ressourcen (Art. 13-19)
  • Recht auf Beschäftigung und angemessene Arbeitsbedingungen (Art. 20)
  • Recht auf Ausbildung und Zugang zu den Kommunikationsmitteln (Art. 21)
  • Recht auf Beteiligung bei der Findung von Entscheidungen, die diese Völker betreffen ( Art. 6)
  • Gleichberechtigung vor Verwaltung und Justiz (Art 2, 8, 9).

Die Konvention 169 stärkt die rechtliche Stellung der traditionellen Selbstverwaltungsorgane. Besonderen Schutz genießen die ursprünglich besiedelten Territorien, bis hin zum Recht auf Rückforderung, die kulturelle Identität, die natürliche Umwelt sowie die auf indigenen Territorien vorkommenden Ressourcen. Von großer Bedeutung sind auch die Normen, die den von Entwicklungsvorhaben betroffenen Völkern ein Konsultations- und Partizipationsrecht einräumen. Gemäß den Ausführungsbestimmungen zur ILO-Konvention 169 müssen die Konsultationen im guten Glauben und den kulturellen Gegebenheiten angemessen ausgeführt werden; d.h. die Angehörigen einer Gemeinschaft müssen die Ziele und Folgen eines Projektes tatsächlich verstehen und beurteilen können. Konsultationen und Partizipation sollen zusammen mit 'authentischen' Organisationen stattfinden - um möglichst eine Einigung herbeizuführen.

Spezifisch für die Lebensbedingungen indigener Völker ist die Anerkennung kollektiver Rechte - vor allem der Landrechte - wie sie die lLO-Konvention 169 zugrundelegt. Andere völkerrechtliche Instrumente zum Schutz indigener Völker - etwa die Menschenrechtscharta, das Verbot des Völkermords oder die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (WSK-) Rechte - sind als individuelle Rechte (für die einzelnen Angehörigen einer Gruppe) konzipiert und tragen dem besonderen Erfordernis des Gruppenschutzes nicht genügend Rechnung.

Schließlich übernimmt die ILO-Konvention 169 den Begriff "Volk" aus dem Völkerrecht, um im Unterschied zur ILO-Konvention 107 mit dem Begriff 'Bevölkerung' anzudeuten, dass indigene Völker über ihren politischen Status selber bestimmen wollen. Die Konvention 169 weist zwar darauf hin, dass der Begriff Volk in dieser übereinkunft keine völkerrechtliche Bindung mit sich bringt. Die Repräsentanten indigener Völker sind mit dieser Unbestimmtheit entsprechend unzufrieden und kämpfen für ein eindeutiges Recht auf Selbstbestimmung; wie es die im Entwurf vorliegende Allgemeine Erklärung der Rechte indigener Völker im Artikel 3 vorsieht. Auch sonst gibt es Kritik wegen teilweise vage formulierten Bestimmungen und fehlenden Sanktionen, sollte ein Staat die ILO-Normen nicht erfüllen.

Dass die Normen der lLO-Konvention 169 ihre rechtspolitische Wirkung mit Erfolg entfalten können, belegen etwa die Auseinandersetzungen um den Staudamm Urrà I bei den Embera-Katio oder die Erdölforderpläne bei den U'wa (jeweils in Kolumbien). Ohne die aus der ILO-Konvention 169 abgeleiteten Konsultations- und Partizipationsrechte würden beide Projekte schon längst ihre zerstörerische Wirkung entfaltet haben.

 

Die 17 UNTERZEICHNERSTAATEN DER ILO-KONVENTION 169

Bolivien (11.12.1991)

Kolumbien (07.08.1991)

Costa Rica (02.04.1993)

Mexiko (05.09.1990)

Dänemark (22.02.1996)

Niederlande (02.02.1998)

Ecuador (15.05.1998)

Norwegen (19.06.1990)

Fiji (03.03.1998)

Paraguay (02.02.1994)

Guatemala (05-06.1996)

Peru (02.02.1994)

Honduras (28.03.1995)

Argentinien (03.07.2000)

Dominica (25.06.2002)

Venezuela (22.05.2002)

Stand: 20.09.2002