01.07.2005

750 Jahre "Kaliningrad"/Königsberg:

Erinnern Sie auch an das furchtbare Schicksal der Königsberger Zivilbevölkerung, Herr Bundeskanzler!

Offener Brief an Bundeskanzler Schröder

 

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

 

Sie werden am kommenden Sonntag in "Kaliningrad" erwartet, um gemeinsam mit dem in Tschetschenien Krieg führenden russischen Präsidenten Wladimir Putin die "750jährige Geschichte" der Stadt zu feiern. Genau genommen handelt es sich um 690 Jahre der deutschen Geschichte Königsbergs, um zwei Jahre der Liquidierung, Deportation und Vertreibung der einheimischen ostpreußischen Bevölkerung und dann um 58 Jahre "Kaliningrad".

 

"Kaliningrad ist für mich eine Stadt ohne Vergangenheit, eine Stadt ohne Seele!", schrieb Lew Kopelew, der in sowjetische Lager kam, weil er sich gegen das Morden in Ostpreußen gewandt hatte. Nach der Seele "Könisgbergs" suchen heute viele ihrer neuen Bewohner, nicht zuletzt die jungen unter ihnen. Sie nennen die Stadt einfach wieder Königsberg, während nicht wenige unserer Medien nur von "Kaliningrad" reden und schreiben. Zahlreiche gemeinsame Projekte verbinden heutige und ehemalige Einwohner der Stadt.

 

Bezeichnend, dass die zerstörte Stadt gerade nach Mikhail Kalinin, dem früheren Staatsoberhaupt der Sowjetunion zu Zeiten Stalins, benannt wurde. Er trug Mitverantwortung für die unzähligen Millionen Opfer des sowjetischen Gulags. Er unterzeichnete den Befehl für die Deportation der Wolgadeutschen, dem jeder Dritte dieser Volksgruppe zum Opfer fiel. Er setzte seinen Namen unter den Erlass zur Hinrichtung von etwa 4000 polnischen Offizieren und Soldaten, der Weltöffentlichkeit als die Massaker von Katyn bekannt. Weitere 9 000 bis 12 000 wurden in den Lagern Starobielsk und Ostaszow ermordet.

 

Es gibt universelle Maßstäbe, um Kriegsverbrechen, Völkermord, Massenvertreibung, Massenvergewaltigung und Deportationen in Lager, in denen Menschen - auf welche Art auch immer - ums Leben kommen, zu beurteilen und zu verurteilen. Große unvergessene Persönlichkeiten haben die Vertreibungsverbrechen 1945/46 verurteilt. Zu ihnen gehörten Victor Gollancz und Robert Jungk, H.G. Adler und Albert Schweitzer, Bertrand Russel und Alexander Solschenizyn. Nach diesen Prinzipien arbeiten die neu geschaffenen Tribunale und Gerichtshöfe zur Ahndung von Kriegsverbrechen. An derartigen Grundsätzen orientieren sich Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch oder die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)*. Diese Maßstäbe gelten auch für die Verbrechen der jüngsten Vergangenheit, denn welchen Sinn hätte sonst unsere Vergangenheitsbewältigung.

 

"Hitler wollte Europa judenrein machen, Stalin Ostpreußen deutschenrein", schrieb Michael Wieck, der damals letzte in Königsberg lebende Jude, heute Konzertmeister in Berlin. Auch wenn das eine mit dem anderen nicht vergleichbar sei, sei das eine genauso wie das andere zu verurteilen. Michael Wieck hat ein erschütterndes Buch über den Untergang Königsbergs geschrieben, den er ebenso zufällig überlebte wie er zuvor der Deportation der jüdischen Bürger Königsbergs entgangen war.

 

Ich möchte Sie, Herr Bundeskanzler, an das furchtbare Schicksal so vieler Königsberger erinnern und ich nehme einige Gruppen heraus:

 

  • Von den 120 000 – 130 000 Menschen, die in Königsberg und Umgebung geblieben waren, sollen 100 000 ums Leben gekommen sein. Sie verhungerten, wurden ermordet oder starben an Seuchen. Unter den 15 – 20 % Überlebenden gab es nach 1948, nach ihrem Abtransport kaum mehr kleine Kinder oder Alte.
  • 44 000 junge Ostpreußen aus Königsberg und Umgebung, meistens Menschen zwischen 14 und 35 Jahren, wurden mit einer halben Million ostdeutscher Frauen und Männer als Arbeitssklaven nach Sibirien deportiert. Nur die Hälfte überlebte und kehrte Jahre später zurück. Sie wurden dann in die Bundesrepublik oder DDR ausgewiesen.
  • Unter den in den Gulag Deportierten und unter den Überlebenden und dann Vertriebenen befanden sich Zehntausende sexuell missbrauchter Mädchen und Frauen, die vielfach für ihr Leben traumatisiert waren.
  • Nach dem Tod ihrer Eltern flüchteten hunderte Königsberger Kinder ins benachbarte Litauen und wurden dort von litauischen Familien aufgenommen oder adoptiert. Diese "Wolfskinder" haben sich heute zusammengefunden und suchen die Identität ihrer Eltern und Familien.
  • Andere Zehntausende Einwohner der Stadt flüchteten auf Schiffen. Günter Grass hat ihr Schicksal beschrieben, 6000 starben auf der Goya, 6000 – 7000 auf der Gustlow.
  • Hunderte Königsberger befanden sich unter den 13 000 – 17 000 ostdeutschen Flüchtlingen in Dänemark, die sterben mussten, weil die organisierte Ärzteschaft und das dortige Rote Kreuz ihnen die medizinische Versorgung verweigert hatten. Ungezählte andere, Kinder und Alte, starben an den Folgen der Vertreibung oder verhungerten nach ihrer Ankunft im Westen.
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    Deshalb appelliere ich an Sie, bei Ihrem Besuch in Königsberg über den Untergang einer deutschen Provinz und das furchtbare Schicksal ihrer Einwohner zu sprechen. Es wäre Zeit, dass ein deutscher Bundeskanzler dort niederkniet und dieser Ermordeten, Vergewaltigten, Deportierten und Verhungerten gedenkt. Helmut Schmidt ist seinerzeit unseren Appellen gefolgt und hat den Genozid an Sinti und Roma offiziell anerkannt.

     

    Große Teile der neuen Bevölkerung des Königsberger Gebietes werden das mit Mitgefühl aufnehmen, zumal man in Deutschland immer wieder der Millionen russischen Opfer nationalsozialistischer Verbrechen gedenkt. Die Überlebenden der Vertreibung warten darauf, dass man sich ihres Schicksals erinnert.

     

    Mit freundlichen Grüßen

     

    Tilman Zülch

    Generalsekretär

     

    *Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, hatten dem Unterzeichner 1996 den Niedersachsen Preis für Publizistik 1995 überreicht. Die Jury hatte ihre Wahl u.a. damit begründet, dass der Preisträger für die Menschenrechte auch die political correctness missachtet.