11.06.2008

Afghanistan-Report: Uneingelöste Versprechen: Menschenrechte und Wiederaufbau in Gefahr

Menschenrechtsreport Nr. 53: Afghanistan

1. Zusammenfassung

Die internationale Gemeinschaft und die Regierung Afghanistans sicherten in dem Afghanistan-Pakt zu, sich für mehr Sicherheit, eine gute Regierungsführung, Menschenrechte, wirtschaftlichen Fortschritt und eine aktive Anti-Drogenpolitik einzusetzen. Zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Paktes bleiben die meisten Versprechen uneingelöst.

So leidet die Zivilbevölkerung in allen Landesteilen immer mehr unter Gewalt. Luftangriffe auf Zivilisten, Militäroffensiven, Landminen, Selbstmordanschläge und immer mehr zirkulierende Waffen gefährden die Sicherheit der Zivilbevölkerung. Selbst im früher sicheren Kabul und in Nordafghanistan kann sich niemand mehr sicher fühlen. Auch der Aufbau der neuen Armee und die korrupte Polizei bringen keine Sicherheit. Die Milizen der Warlords wurden nicht wie angekündigt bis zum Ende des Jahres 2007 aufgelöst und entwaffnet. Ungehindert terrorisieren Kriegsfürsten weiterhin die Zivilbevölkerung, entführen Mädchen und Frauen, rüsten ihre Milizen mit neuen Waffen auf und bleiben selbst nach schwersten Menschenrechtsverletzungen straflos. Die Warlords haben sich im afghanischen Parlament selber von jeder Strafverfolgung für die von ihnen begangenen Verbrechen freigesprochen, in dem sie ein Amnestiegesetz verabschiedeten. Doch ohne eine Aufarbeitung dieser Verbrechen wird es auch keine Gerechtigkeit geben.

Statt der im Pakt angekündigten guten Regierungsführung beeinträchtigen Vetternwirtschaft und Korruption das Handeln der Regierung und Verwaltung. Die schlechte Regierungsführung zählt zu den Kernproblemen des Landes und begünstigt weitere Menschenrechtsverletzungen. So wird ohne eine wirksame Bekämpfung der Korruption auch nicht spürbar der Drogenanbau- und –handel eingedämmt werden können.

Willkür bestimmt auch das Handeln der Justiz, die weitgehend von radikal-islamischen Kräften kontrolliert wird. Nicht besser steht es um die Menschenrechte: 87 Prozent der Frauen geben an, Opfer von Gewalt geworden zu sein. Mehrere hundert Frauen verbrennen sich jedes Jahr aus Verzweiflung über ihre hoffnungslos erscheinende Lage. Zwangsheirat von Mädchen im Alter ab sechs Jahren, Entführungen und Fälle von Schuld-Sklaverei werden immer häufiger registriert. Die Hälfte aller Eheschließungen sind heute Zwangsheiraten mit Gläubigern, weil die Familie ihre Schulden nicht mehr bezahlen kann. Auch die gesundheitliche Lage von Frauen ist katastrophal. Besonders dramatisch ist die Situation von 1,5 Millionen Witwen, die im Elend leben.

Auch die Lage der Kinder hat sich nicht spürbar seit der Unterzeichnung des Afghanistan-Paktes verbessert. Sie leiden vor allem unter Verarmung und mangelnder Versorgung. Ohne mehr Bildung wird sich ihre Lage nicht verbessern. Angesichts der zunehmenden Gewalt mussten 400 Schulen schließen.

Besonders besorgniserregend sind die zunehmenden Eingriffe in die Medienfreiheit. So werden Journalisten eingeschüchtert und bedroht, Opfer von Razzien und Hausdurchsuchungen oder sogar von politisch motivierten Morden. So versucht man den engagierten Journalisten und Warlord-Kritiker Sayed Yaqub Ibrahimi mundtot zu machen, in dem sein Bruder Sayed Parvez Kaambakhsh in einem unfairen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilte. Angesichts der zunehmenden Menschenrechtsverletzungen sollte Afghanistans Unabhängige Menschenrechtskommission in ihrer inhaltlichen, personellen und finanziellen Unabhängigkeit gegenüber der afghanischen Regierung und den Geberländern dringend gestärkt werden.

Trotz eines hohen Wirtschaftswachstums hat sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung seit der Unterzeichnung des Paktes nicht verbessert. Im Gegenteil, der Zustrom von hunderttausenden aus den Nachbarländern abgeschobenen Flüchtlingen und eine Hungersnot haben das Elend noch vergrößert. Dringend muss die internationale Gemeinschaft auch der lange vernachlässigten Landfrage mehr Bedeutung schenken. Denn der Streit um Landrechte führte bereits in den letzten Monaten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen.

Alle Staaten sind sich zwar einig, dass der Wiederaufbau verstärkt werden muss. Bislang fehlt es jedoch oft an einer Bereitschaft zur Kooperation zwischen Geberländern, Nichtregierungsorganisationen und der afghanischen Regierung. So wird Hilfe doppelt geleistet, ist oft ineffizient oder berücksichtigt nicht die Bedürfnisse der Betroffenen. Dringend muss die Koordination der internationalen Aufbau-Hilfe verbessert werden.

Zwei Jahre nach der Unterzeichnung des Paktes stehen Afghanistan und die internationale Gemeinschaft an einem Wendepunkt: Wenn die in dem Pakt gegebenen Versprechen nicht endlich eingelöst werden, wird die internationale Gemeinschaft noch mehr Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung in Afghanistan verlieren. Statt die Lage erneut zu beschönigen, sollte die internationale Gemeinschaft auf der Pariser Afghanistan-Konferenz offen über die Probleme beraten und gemeinsam nach Lösungen suchen, um die in dem Pakt gesetzten Ziele tatsächlich zu verwirklichen. Nur mit mehr finanziellen Zuwendungen sind die bestehenden Probleme bei der Umsetzung des Afghanistan-Paktes nicht zu bewältigen. Stattdessen muss konsequent die Beachtung der in dem Pakt vorgegebenen Ziele eingefordert werden. Dies gilt nicht nur für die afghanische Regierung, sondern auch für die internationale Gemeinschaft, die ebenfalls Vorgaben aus dem Pakt bislang nicht realisiert hat.

Die internationale Gemeinschaft hat keine Alternative zur Umsetzung der in dem Pakt vorgesehenen Ziele. Denn ein Rückzug von Truppen oder eine schrittweise Verringerung der Aufbau-Hilfe hätte nur Chaos und weitere schwere Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan zur Folge.


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