11.02.2009

Aktuelle Lage in Tschetschenien

Interview mit Sarah Reinke

Berlin
Frau Reinke, Sie sind langjährige Mitarbeiterin der Gesellschaft für bedrohte Völker und haben sich diesbezüglich unter anderem mit der Situation von tschetschenischen Flüchtlingen in Deutschland und der EU beschäftigt. Wie hat sich Ihrer Einschätzung nach die Sicherheits- bzw. die Menschenrechtslage bezüglich der nach Tschetschenien zurückkehrenden Flüchtlinge in den vergangenen Jahren (speziell seit der Ernennung Ramsan Kadyrows zum Präsidenten der Republik 2007) verändert?

Obwohl die Zahlen in den Statistiken etwas besser aussehen, kann ich keine Verbesserung der Menschenrechtslage feststellen. Es herrscht eine Atmosphäre von Willkür, Angst, Misstrauen und Denunziation. Die Korruption ist hoch. Die Gesellschaft für bedrohte Völker wendet sich gegen die erzwungene Rückkehr von Flüchtlingen. Die meisten Flüchtlinge, die ich kenne, wollen trotz ihrer schwierigen Lage in Deutschland nicht zurück. Während vor Kadyrows Amtsübernahme Freund und Feind klar zu unterscheiden waren, ist die tschetschenische Gesellschaft heute tief gespalten. Flüchtlinge, die mehrere Jahre in Deutschland waren, müssen sich in einer gefährlichen Gemengelage zurecht finden. Zudem kann man auch heute noch zur falschen Zeit am falschen Ort sein und Opfer eines Anschlags oder staatlicher Gewalt werden.

Einige Menschenrechtsorganisationen, wie z.B. "Memorial Moskau", sprechen von einer Verbesserung der Menschenrechtssituation in Tschetschenien seit 2006 und beziehen sich dabei auf einen Rückgang der Anzahl gemeldeter Menschenrechtsverletzungen. Was sagen die Flüchtlingszahlen in Deutschland und Europa in dieser Hinsicht aus? Können Sie in diesem Zusammenhang die Angaben Memorials bestätigen?

Ich finde es schwierig, einen Zusammenhang zwischen der Zahl der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien und der Zahl der neu eingereisten Flüchtlinge in Deutschland herzustellen. Schon seit einigen Jahren ist deutlich, dass es seit Ramzan Kadyrows Amtsantritt noch schwieriger geworden ist, tatsächlich mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen ins Gespräch zu kommen, um so Informationen zu sammeln. Das heißt, dass das Bild der Menschenrechtslage in Tschetschenien nicht vollständig sein kann.

Zudem hat sich die wirtschaftliche Situation der Menschen verändert. Konnten es sich zu Beginn des Krieges noch mehr Menschen "leisten", die Flucht zu organisieren, so ist das für viele in den letzten Jahren immer schwieriger geworden. Außerdem wird vielleicht auch klarer, dass die Chancen auf Asyl in Westeuropa je nach Land, nicht groß sind.

Auf der anderen Seite befindet sich die Russische Föderation seit dem Jahr 2000 unter den zehn Flüchtlingsherkunftsländern, aus denen die meisten Flüchtlinge in Deutschland stammen. Die Zahl insgesamt ist jedoch zurückgegangen und liegt 2007 erstmals unter 1.000 Asylerstanträgen. Ein großer Anteil der Flüchtlinge aus Russland waren in diesen Jahren Tschetschenen. Im Jahr 2007 zum Beispiel 41% (Auskunft des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge) .

Ich habe den Eindruck, dass sich viele Flüchtlinge aus Tschetschenien hier in Deutschland zwar sicherer fühlen, jedoch stark unter den Strapazen des Asylverfahrens, der Unsicherheit, der Heimatlosigkeit und der Entfernung von Verwandten und Freunden leiden. Diese Erfahrung lässt Menschen in Tschetschenien vielleicht auch zögern, es sei denn, sie sind tatsächlich an Leib und Leben bedroht.

Wie gehen die örtlichen Behörden in Tschetschenien mit den Klagen und Schadensersatzforderungen von im Krieg geschädigten Tschetschenen oder Opfern von Menschenrechtsverletzungen um?

Ich kann diese Frage leider nicht differenziert genug beantworten. Es gab zwar Statistiken über die Auszahlung von Schadensersatz an im Krieg geschädigte Tschetschenen, aktuelle Angaben liegen mir jedoch nicht vor. Ausgehen muss auch in dieser Sache jedoch von massiver Korruption. Im Falle der Opfer von Menschenrechtsverletzungen steht fest, dass es keinerlei faire Gerichtsverfahren und auch nicht die Aufarbeitung der Verbrechen aus beiden Kriegen gibt. Dies zeigt zum Beispiel die vorzeitige Freilassung des berüchtigten Oberst Juri Budanov, der die 18-jährige Tschetschenin Elsa Kungajewa auf dem Gewissen hat. Statt zehn Jahren Lagerhaft, wie ein Urteil aus dem Jahre 2003 festlegt, wurde er schon Anfang 2009 auf freien Fuß gesetzt. Auch die Zahl der vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg gesprochenen Urteile gegen Russland (in 60 Fällen zu Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien) spricht Bände. Weder gibt es in Tschetschenien eine funktionierende Justiz, noch erwarten Opfer und Betroffene Gerechtigkeit, wenn sie sich an ihre örtlichen Behördenwenden.

Welche Fortschritte sehen Sie bei der Entwicklung von Standards, Systemen und Institutionen zur Wahrung von Menschenrechten und der Herstellung von Sicherheit in der tschetschenischen Gesellschaft?

In dieser Hinsicht sehe ich keinerlei Fortschritte. Es gibt keine Möglichkeit der freien Meinungsäußerung in Tschetschenien. Menschenrechtsorganisationen und einzelne Aktivisten sehen sich schikaniert und bedroht. Diejenigen Treffen, die organisiert werden, finden unter dem Dach der Regierung statt und sind als unlautere Werbeveranstaltungen einzustufen.

Gibt es in Tschetschenien die Möglichkeit der Kontrolle etwaiger Reformen oder Maßnahmen durch Vertreter der Internationalen Gemeinschaft?

Tschetschenien und der gesamte Nordkaukasus sind immer noch nicht frei zugänglich für Menschenrechtler und unabhängige Journalisten. Vertreter des Europarates und anderer internationaler Organisationen bekommen nur bedingt Zugang zu prekären Orten wie zum Beispiel Gefängnissen. Es gibt keinen politischen Willen zur tatsächlichen Verbesserung der Menschenrechtslage. Weder die tschetschenische noch die russische Regierung hat Interesse an internationalen Beobachtern.

Im Falle des vor kurzem in Wien erschossenen tschetschenischen Flüchtlings Umar Israilow sind öffentlich Vorwürfe laut geworden, denen zufolge die österreichische Regierung mit russischen Geheimdiensten zusammengearbeitet haben soll, um Herrn Israilow zur "freiwilligen" Rückkehr nach Tschetschenien zu drängen. Sind Ihnen solche Fälle auch in Deutschland bekannt? Wie funktioniert eine solche "Kooperation" Ihrer Kenntnis nach?

Mir ist solch ein Fall nur in einer Abwandlung bekannt. Es gab vor einigen Jahren einen Fall, in dem sich der russische Staat um die Auslieferung eines Regimegegners bemühte und dabei war wohl auch die deutsche Seite eingeweiht, eine offene Zusammenarbeit kann schwer nachgewiesen werden. Glücklicherweise konnte die Auslieferung über ein Gerichtsverfahren verhindert werden, letztlich mit dem Argument, dass der betreffenden Person in Russland Folter und möglicherweise der Tod gedroht hätten. Zusammenarbeit zwischen deutschen Stellen und dem russischen Geheimdienst und Militär gibt es jedoch auf vielen Ebenen. Dies wird auch offiziell bestätigt. Empörung rief vor einigen Jahren die Reise des damaligen BND-Chefs August Hanning in den Nordkaukasus hervor.

Den österreichischen Behörden fehlen nach wie vor Beweise für eine Verwicklung Ramsan Kadyrows in den Mord. Sollte sich dies aber bestätigen, so würde dadurch deutlich werden, wie weit Kadyrows Einflussbereich auch außerhalb Russlands mittlerweile reicht. Sind die Aufnahmeländer tschetschenischer Flüchtlinge Ihrer Meinung nach überhaupt in der Lage, wichtige Zeugen ausreichend zu schützen?

Ich denke, der Wiener Mord macht neben den Mord an Aleksander Litvinenko deutlich, dass dem nicht so ist. Mir ist bekannt, dass Flüchtlinge immer wieder unter Druck gesetzt werden, zurück zu kehren, gerade, damit an ihnen Rache geübt werden kann. Als Druckmittel wird zum Beispiel eingesetzt, dass "Kadyrowzy" Verwandte des Flüchtlings in Tschetschenien bedrohten, verschleppen auch foltern und fordern, dass der Geflüchtete wieder zurückkehren solle.

Es existiert auch beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof trotz mehrmaliger Nachfrage und Appellen der tschetschenischen Klägerinnen und Kläger kein ausreichendes Zeugenschutzprogramm. Daher sind besonders Menschen in Gefahr, die sich wie Umar Israilov an Straßburg wenden. Trotzdem wurden dort schon 80 Urteile zugunsten der Tschetschenen gesprochen.

Gibt es in Deutschland veröffentlichte Statistiken über die Anzahl ermordeter Exil-Tschetschenen in Europa? Wie hoch ist diese Zahl und wie bewerten Sie diese?

Soviel ich weiß gibt es eine solche Statistik nicht. Ich würde mich auch fragen, wer eine solche Liste erstellen könnte. Mir bekannt sind Todesfälle von Exil-Tschetschenen eher, wenn es sich um Selbstmorde handelt, zum Beispiel nach dem negativen Ausgang von Asylverfahren, gerade wenn die Betroffenen unter Traumatisierung und deren Folgen leiden.

Wie sicher leben Ihrer Meinung nach Tschetschenen in Deutschland, die sich nicht mit den in Tschetschenien herrschenden Zuständen von Gewalt und Verbrechen abfinden wollen und mit ihrem Protest an die Öffentlichkeit gehen?

Meiner Erfahrung nach ist dieser Personenkreis in Deutschland nicht sicher. Es gibt etliche Fälle, bei denen diese Personen offensichtlich observiert, angerufen und bedroht wurden. Viele Flüchtlinge haben schon seit Jahren massive Angst, sich an Demonstrationen zu beteiligen oder sich öffentlich zu äußern, weil sie fürchten, dass dies wahrgenommen und sie deshalb gefährdet sind. Dies war schon vor der Präsidentschaft Ramzan Kadyrows so. Damals war das Sache des russischen Geheimdienstes, mittlerweile ist es für die politisch aktiven Tschetschenen noch schwieriger geworden, werden sie doch von "ihren" Leuten, d.h. von Tschetschenen bedroht. Besonders schwierig ist es für Personen, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Sie haben Angst, dass ihr öffentliches Engagement ihnen bei einer möglichen Abschiebung nach Russland zum Verhängnis werden könnte. Diese Angst ist nicht unbegründet, wie Fälle aus den letzten Jahren zeigen.