12.07.2016

Artillerieeinschläge und Neujahrsfeste: Meine Reise nach Nordsyrien

Drei Wochen entlang der syrisch-türkischen Grenze

Auf seiner Reise durch Nordsyrien hörte Kamal Sido nachts die Einschläge von Raketen und Artilleriebeschuss, feierte das kurdische und das assyrische Neujahrsfest und traf sich mit Vertretern von Parteien, Organisationen und zivilgesellschaftlichen Projekten. Foto: Kamal Sido

Der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Dr. Kamal Sido, fuhr vom 12. März bis zum 3. April 2016 nach Rojava-Nordsyrien, um sich ein eigenes Bild von der Lage in dem Gebiet zu machen. Seine persönlichen Eindrücke beschreibt er in diesem ausführlichen Reisebericht. Klicken Sie sich durch die einzelnen Kapitel mittels "Weiterlesen" und folgen Sie unserem Nahostreferenten in ein Gebiet, von dem Sie sonst aus den Nachrichten hören.

von Kamal Sido

Wie alles begann

Am 10. März 2016 entschied ich mich spontan, meinen diesjährigen Urlaub in Nordsyrien zu verbringen.

Bereits im vergangenen Jahr war ich schon in diesem Gebiet unterwegs gewesen. Damals reiste ich nach Afrin, meine Geburtsregion im äußersten Nordwesten Syriens. Dort leben meine Mutter, meine zwei Schwestern und zwei Brüder. Da Afrin jedoch momentan nahezu vollständig von Islamisten im Süden und Osten sowie von der türkischen Regierung im Norden und Westen eingekesselt ist, konnte ich meine Familie in diesem Jahr nicht besuchen. Deswegen führte mich meine Reise dieses Mal in die Provinz al-Hasakeh, die im äußersten Nordosten Syriens liegt.

Da ich mein Reiseziel sehr kurzfristig festgelegt hatte, musste alles schnell organisiert werden. Daher wusste ich zu Beginn nicht, was genau auf mich zukommen würde: an welchen Orten ich mich aufhalten, übernachten und welche Personen und Gruppierungen ich besuchen würde. Trotzdem hatte ich mir einige Gedanken im Vorhinein gemacht: Mein Plan war es, entlang der syrisch-türkischen Grenze bis nach Kobani zu fahren. Dabei war ich mir vorher schon bewusst, dass ich aufpassen musste, der türkischen Grenze nicht zu nahe zu kommen, da ich sonst von Erdogans schwerer Artillerie getroffen werden könnte. Auch tiefer ins Innere des Landes Syrien werde ich nicht fahren können. Denn je tiefer man sich im Land aufhält, desto größer wäre die Gefahr, von meinen IS-Glaubensbrüdern‘ erwischt zu werden. Ich entschied mich also dafür, einen mittleren Weg zu nehmen, denn bekanntlich ist die goldene Mitte immer gut. Während der Reise würde ich aber in jedem Fall möglichst viele Gespräche mit Politikern, Journalisten, Vertretern verschiedener ethnischer und religiöser Minderheiten sowie verschiedener christlichen Kirchen in Nordostsyrien führen.

Meine Reise startete ich am 12. März mit einem Direktflug von Düsseldorf nach Erbil, der kurdischen Regionalhauptstadt im Nordirak. In Irakisch-Kurdistan war ich zuletzt im Februar 2012. Dort hatte ich damals in Erbil, Sulaimaniya und in der Ninive-Ebene viele Kurden, Turkmenen, Assyrer/Chaldäer/Aramäer, Armenier, Christen, Yeziden und Shabak getroffen und sogar auch ein Gefängnis besucht. Für meine diesjährige Reise nahm ich mir vor, „das andere Kurdistan“ in Nordsyrien zu besuchen. Dieses Gebiet hat verschiedene Bezeichnungen, deren Benutzung einiges über die politischen Ansichten eines Gesprächspartners verraten kann: Kurden aus den Reihen der „Partei der Demokratischen Union“ (PYD), die führende Kraft in Nordsyrien, bezeichnen dieses Gebiet als „Rojava“, eine Ableitung oder Abkürzung von dem kurdischen Begriff „Rojavaye Kurdistan“ (Westkurdistan). Anhänger von Masud Barzani, dem Präsidenten von Irakisch-Kurdistan, die in Konkurrenz mit den Kurden aus dem Umfeld der in Deutschland verbotenen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) stehen, sprechen hingegen von „Kurdistana Suriye“ (Syrisch-Kurdistan). Von vielen Assyrern/Aramäern und Arabern wird das Gebiet schlicht als „Nordsyrien“ bezeichnet. Hier ist anzumerken, dass die PYD bzw. die PKK viel flexibler mit der Bezeichnung umgehen als die anderen Gruppierungen. Wenn Assyrer/Aramäer oder Araber, die neben den Kurden in diesem Gebiet leben, Widerstand gegen die Bezeichnung „Kurdistan“ leisten, wird einfach „Rojava“ (Der Westen) gesagt. So einigten sich Vertreter der PYD und anderer kurdischer Parteien sowie Repräsentanten einiger assyro-aramäischen, arabischen und turkmenischen Organisationen auf der Bezeichnung „Rojava-Nordsyrien“, als sie am 17. März 2016 ihre Absicht über die Bildung einer Föderation für Nordsyrien kundtaten.

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Drei Wochen lang reiste ich durch Rojava: Von Erbil, der Hauptstadt von Irakisch-Kurdistan, überquerte ich den Tigris am Grenzübergang Semalka, entlang der syrisch-türkischen Grenze über Qamischli und Amude, bis in den westlichen Zipfel von Rojava nach Kobani. Auf dem Rückweg reiste ich über al-Hasakeh.

Semalka: Der einzige Weg nach Rojava

Bereits am 13. März gegen 11 Uhr, als wir, d.h. mein Reisebegleiter in den ersten Tagen Sirwan Haji Berko, sein Vater und ich, die kurdisch-kurdische Grenze bei Fish Khabour (Semalka) am Tigris überquerten, war mir bewusst, wie wichtig dieser Grenzübergang für die Menschen im Nordwesten von Syrien ist.

Das Gebiet zwischen Tigris und Euphrat, vom Derik (arab.: Al-Malikiyah) im Osten bis nach Kobani im Westen, ist nur über diesen Grenzübergang erreichbar. Zwar ginge dies auch über den Flughafen von Qamischli, dieser befindet sich allerdings unter der Kontrolle des syrischen Regimes in Damaskus. Der Weg Qamischli – Damaskus ist der einzige legale Luftweg in die syrische Hauptstadt, welcher auch von den Vereinten Nationen hin und wieder für humanitäre Flüge genutzt wird.

Alle Grenzen von der Türkei in das „Kurdengebiet“ Nordsyriens sind vollständig geschlossen. Nur in der nordwestlich gelegenen Stadt Kobani wird sie an zwei Tagen in der Woche für ein paar Stunden geöffnet. Allerdings dürfen dann nur diejenigen Menschen die Grenze überqueren, die aus der Türkei zurück nach Syrien wollen und auch ursprünglich aus Kobani stammen.

Somit ist der Grenzübergang von Semalka die einzige Möglichkeit, nach Rojava rein, aber auch raus zu kommen oder humanitäre Lieferungen in die Region zu bringen.

Auf der irakisch-kurdischen Seite ist die „Demokratische Partei Kurdistans“ (DPK-Irak) von Masud Barzani an der Macht, der seit elf Jahren Präsident der autonomen Region Kurdistan im Nordirak ist. Bereits 1979 hatte Barzani den Vorsitz der DPK-Irak von seinem im gleichen Jahr verstorbenen Vater, Mustafa Barzani, übernommen. Mustafa Barzani, die legendäre Figur der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung im Irak, gilt als einer der bedeutendsten Kurdenführer des 20. Jahrhunderts.

Wir hätten den Grenzübergang ohne lange Kontrollen passieren können, wenn wir von offiziellen Angehörigen der DKP begleitet worden wären. Doch genau das wollten wir nicht. Wir hatten die Absicht, die Grenze als einfache Bürger zu passieren, um zu sehen, wie die Kurden im Irak und in Syrien einander behandeln. Tatsächlich überquerten wir die Grenze nahezu problemlos. Unsere Pässe eines Staates der „Ungläubigen“ verschafften uns dabei sicherlich große Vorteile. Denn wir alle sind deutsche Staatsbürger. Sicherheitshalber hatte ich ein Schreiben von einem hohen Funktionär der DPK-Irak dabei, das uns bei Schwierigkeiten sicherlich geholfen hätte.

Mit einem Motorboot, das der DPK-Irak gehörte und mit vielen kurdischen Fahnen geschmückt war, überquerten wir den Tigris vom Irak nach Syrien. Ich wunderte mich über diese Überfahrt mit dem Motorboot, da links von uns eine provisorisch errichtete Brücke zu sehen war. Ich beobachtete, wie große Lastwagen diese Brücke überquerten. Warum sie hingegen für den Personenverkehr nicht benutzt wurde, konnte oder wollte mir niemand beantworten. Trotz mehrerer Versuche meinerseits wollte sich keiner der Kurden, die mit uns den Fluss überquerten, über die internen kurdischen Streitigkeiten mit uns unterhalten. Drei Tage nachdem wir die Grenze überquert hatten, wurde diese Brücke am 16. März für den Grenzhandel geschlossen. Dies bedeutete, dass keine Lastwagen mit dringend notwendigen Waren diese Brücke überqueren durften. Den Grund der erneuten Schließung der Brücke diskutierten die Kurden stark. Die einen warfen Barzani vor, sich dem Druck des türkischen Präsidenten Erdogan zu beugen; andere kritisierten die PYD, sie hätte Barzani nahe syrische Kurden wieder einmal verfolgt, wodurch Barzani die Brücke als Druckmittel gegen die PYD schließen musste. Mittlerweile ist der Grenzübergang zum Teil wieder geöffnet.
(Stand: 12. Juli 2016)

Auf der syrisch-kurdischen Seite angekommen, begann ich die Menschen vorsichtig zu provozieren, um ihre Toleranzgrenze festzustellen. Die uniformierten Frauen von der syrisch-kurdischen „Grenzpolizei“ waren locker, aber sicher in ihrem Umgang mit den Reisenden. Als man bei der Durchsuchung zwei Whisky-Flaschen in meinem Koffer entdeckte, war ich neugierig auf die Reaktion der kurdischen Polizistin. Alkohol ist zwar in Irakisch-Kurdistan und Rojava nicht verboten, jedoch in der Öffentlichkeit ungern gesehen. Auch hier war die nette Polizistin gefasst und reagierte professionell. Es war für mich also kein Problem, Whisky nach Rojava einzuführen.

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Zum kurdischen Neujahrsfest Newroz konnte man sich in den Läden Kleidung mit seinem favorisierten Kurdenanführer kaufen. Die Frage, ob PKK-Chef Öcalan oder Masud Barzani, Präsident von Irakisch-Kurdistan, der größte Kurdenanführer ist, wird unter Kurden intensiv diskutiert. Foto: Kamal Sido

Kurden und ihre Anführer

Kurden streiten über viele Fragen. Eine Frage, über die gerade intensiv diskutiert wird, ist: Wer ist der größte Kurdenführer, Masud Barzani oder Abdullah Öcalan?

So ist es wenig verwunderlich, dass ich auf der kurdisch-irakischen Seite, vor allem in der mit Syrisch-Kurdistan benachbarten Provinz Duhok, auffallend viele Bilder von Masud Barzani, dem Präsidenten der autonomen Region Kurdistan im Nordirak, sah. Auf der syrisch-kurdischen Seite hingegen, auf unserem Weg nach Westen in das Innere des Landes, fand ich vermehrt Bilder von Abdullah Öcalan vor. Öcalan ist Gründer der PKK und sitzt seit 1999 in türkischer Gefangenschaft. Die türkische Justiz hat Öcalan zum Tode verurteilt und später diese Strafe in „Todesstrafe in Friedenszeiten“ auf lebenslänglich umgewandelt. Seitdem sitzt Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali, im Marmarameer, in Isolationshaft. Die PYD betrachtet Öcalan als den Vater der Idee der „demokratischen Selbstverwaltung“.

In meinen Gesprächen sowohl mit einfachen Kurden als auch mit Politikern habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass die Kurden ihren vielen Führern Respekt entgegenbringen könnten, ohne diese zu „Propheten“ erklären zu müssen. Meiner Meinung nach hat der Nahe Osten genug Propheten, weitere brauchen die Kurden und die Region nicht. Denn gerade weil die Region so viele Propheten hat, kommt sie nicht zur Ruhe. Sunniten, Schiiten, Juden und Christen streiten bereits seit Jahrhunderten darüber, welcher Prophet der „klügste“ war. Dieser Personenkult, die übergebührliche Verehrung und Glorifizierung einer Person, führt in der Regel zu einer Diktatur.

Auf der syrisch-kurdischen Seite angekommen, fiel mir noch eine andere Gepflogenheit auf: Ich hörte, wie sich viele Menschen mit „Heval“ (Kamerad oder Genosse) anredeten. Diese Anredeform in Rojava hat mir überhaupt nicht gefallen: Sie erinnerte mich an meine neun Jahre in Moskau, als ich damals in der Sowjetunion studierte und promovierte. „Heval“ ist ein netter Begriff, der jedoch durch seine ständige Verwendung mit der Zeit jeglichen positiven Inhalt verliert.

Was mir in Rojava auffiel, waren die vielen uniformierten oder gewöhnlich gekleideten Frauen, die in allen Bereichen des öffentlichen Lebens in Rojava zu sehen waren. Bereits am Grenzübergang wurden unsere Reisekoffer auf der syrisch-kurdischen Seite von uniformierten Kurdinnen kontrolliert. An den verschiedenen Orten, an denen ich war, waren immer Frauen anwesend und sie hatten überwiegend auch das Sagen. Meinem Eindruck nach herrscht in Rojava also eine Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau.

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Die Mitarbeiter des alternativen Radiosenders arta.fm in Amude zeigen, wie eine friedliche und tolerante Zukunft in Rojava aussehen könnte: Sie senden in kurdischer, arabischer, aramäischer und armenischer Sprache. Foto: Kamal Sido

Politische Feindseligkeiten in Amude

Nach dem Grenzübertritt nach Rojava reiste ich nach Amude. Dort befinden sich die wichtigsten Einrichtungen der Autonomieverwaltung der Region.

In Amude lebten vor dem Beginn des Krieges in Syrien 2011 etwa 50.000 Menschen, überwiegend Kurden. Die Zahl der Menschen, die dort heute leben, ist unbekannt, da viele Kurden ausgewandert und eine Vielzahl von arabischen Flüchtlingen aus den im Süden liegenden Kampfgebieten nach Amude geflohen sind. In der ganzen Stadt befinden sich noch zehn Christen, deren aus Lehm errichtete syrisch-orthodoxe Kirche zwar noch steht, Gottesdienste werden dort aber nicht mehr abgehalten.

In Amude habe ich immer wieder Interviews mit dem Radiosender arta.fm (Facebook-Seite) geführt. Diese gut funktionierende alternative Radiostation sendet in vier Sprachen: kurdisch, arabisch, aramäisch und armenisch. Sie wurde im Juli 2013 von Sirwan Haji Berko, der mich die ersten Tage meiner Reise begleitete, gegründet. Nach meiner Rückkehr aus Nordsyrien haben bewaffnete und maskierte Männer in der Nacht vom 26. auf den 27. April die anwesenden Mitarbeiter des Radiosenders mit dem Tode bedroht und das Studio in Brand gesetzt. Einige oppositionelle Parteien in Nordsyrien machten die „Autonome Selbstverwaltung in Rojava-Nordsyrien“ für diese Tat verantwortlich. Diese wiederum verurteilte jedoch den „feigen Überfall auf arta.fm aufs Schärfste und versprach eine rasche Aufklärung“. (Buyerpress)

In Amude, wo ich mich insgesamt vier Tage aufhielt, besuchte ich nahezu alle dort ansässigen Büros von Parteien, Organisationen und Einrichtungen der zivilen Gesellschaft. Hierbei legte ich großen Wert darauf, dass die Gesprächspartner vor allem aus den Reihen der politischen Opposition kamen. Nur zweimal traf ich Vertreter der Verwaltung bzw. der regierenden PYD. Ich besuchte die Zentrale der kurdischen Partei „Yekiti“ und sprach mit dem Mitglied des Politbüros dieser Partei, Herr Anwar Naso, der vor kurzem von der Autonomiebehörde festgenommen und wieder frei gelassen wurde. Die Autonomiebehörde behauptet, Naso hätte versucht, eine „illegale Miliz“ zu bilden. Er hingegen ist davon überzeugt, wegen seiner politischen Ansichten festgenommen worden zu sein. Die „Yekiti“-Partei gehört dem „Kurdischen Nationalrat“ in Syrien (KNCS) an. Der KNCS ist wiederum ein Teil der „Nationalen Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“ (syrische Nationale Koalition), die vor allem von der türkischen Regierung und Saudi-Arabien politisch und diplomatisch unterstützt wird. Ferner ist diese syrische Nationale Koalition eine quasi-politische Vertretung der „moderaten“ islamistischen bewaffneten Gruppen wie beispielsweise die Al-Tawhid-Brigaden, die Ahrar al Sham oder die Syrische Islamische Front (SIF), die gemeinsam mit dem syrischen Ableger von Al Kaida, der Al Nusra-Front, gegen die Armee des Regimes kämpfen. Diese Gruppen verfolgen auch Kurden, Christen, Yeziden und andere Minderheiten. Die syrische Nationale Koalition und der KNCS lehnen die autonome Selbstverwaltung in Rojava-Nordsyrien strikt ab und wollen sie mit allen Mitteln zerstören.

Diese ganzen Aspekte machen das Verhältnis zwischen der PYD und dem KNCS schwierig. In vielen ihren Erklärungen wirft die PYD dem KNCS vor, auch direkt an Angriffen gegen die kurdischen Stellungen beteiligt zu sein. Der KNCS widerspricht dieser Darstellung der PYD und wirft ihrerseits der PYD vor, mit dem syrischen Regime zusammenzuarbeiten und die kurdischen nationalen Ziele durch ein von ihr propagiertes multiethnisches und multireligiöses Autonomieprojekt verraten zu haben. Wie eng die PYD mit dem Regime in Damaskus kooperiert ist unklar. Fest steht aber, dass die PYD und das Regime gemeinsame Feinde haben: die radikalislamistischen Gruppen und die türkische Regierung. Es ist anzumerken, dass sich die PYD in ihren öffentlichen Erklärungen zu den Zielen der syrischen Revolution bekennt und „das syrische Regime mit allen seinen diktatorischen Institutionen stürzen will“.
(Homepage der PYD)

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Mit meinen ehemaligen Uni-Kommilitonen über den Dächern von Qamischli. In der Stadt, aber auch auf der türkischen Seite hinter der Grenze kommt es immer wieder zu militärischen Auseinandersetzungen. Foto: privat

Granaten in Qamischli

Von Amude ging es für mich weiter nach Qamischli. Der Aufenthalt dort war nicht ungefährlich.

Auf der türkischen Seite der Grenze im Norden von Qamischli liegt die türkisch-kurdische Stadt Nusaybin. Nach der Grenzziehung 1921 zwischen Syrien und der Türkei wurde diese Region willkürlich aufgeteilt. Da die Eisenbahnlinie (die sogenannte Bagdadbahn) zur staatlichen Grenze wurde, lag Nusaybin auf einmal auf der anderen, nämlich der türkischen, Seite. Damals begann die Stadt Qamischli auf der syrischen Seite zu entstehen. Die Kurden bezeichnen bis heute das Kurdengebiet hinter der Eisenbahnlinie, auf der türkischen Seite, als „Serxete“ (deutsch: Oberhalb der Linie).

An den Tagen, an den ich mich in Qamischli aufhielt, konnte ich kaum schlafen, da ich mehrmals in der Minute das Donnern der Artillerie- oder Raketeneinschläge hörte. Das türkische Militär beschoss Nusaybin Tag und Nacht. Immer wieder schlugen Granaten auch in Qamischli, auf der syrischen Seite, ein. Laut Aussagen der in Qamischli ansässigen kurdischen Journalisten geht die türkische Armee in Nusaybin massiv gegen die Zivilgesellschaft vor.

Aber auch Qamischli selbst wird nicht von Kämpfen verschont: Nach meiner Rückkehr aus Nordsyrien kam es in Qamischli am 19. April drei Tage lang zu schwerwiegenden Kämpfen zwischen der kurdischen Polizei Asayish, der YPG und den Regime- Truppen. Später wurde, vermutlich nach russischer Vermittlung, eine Feuerpause vereinbart. Bei den Kämpfen kamen 17 Zivilisten, sieben kurdische Kämpfer und 31 Angehörige des Regimes ums Leben. Zudem gab es viele Verletzte. Außerdem wurden 30 Gefangene aus einem Gefängnis des Regimes befreit. 102 Regime-Angehörige wurden von Kurden gefangen genommen. Die Mehrheit der Zivilbevölkerung in Qamischli unterstützte die vereinbarte Waffenruhe.

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Bei Gesprächen mit kurdischen Politikern und in Interviews unterstrich ich die Bedeutung der autonomen Selbstverwaltung in Rojava, aber forderte auch unmissverständlich die Einhaltung von Menschenrechten. Foto: privat

Ein Plädoyer für ein multiethnisches und multireligiöses Rojava

In der 200.000 Einwohner-Stadt Qamischli sollen vor dem Krieg 40.000 Christen gelebt haben. Mittlerweile, so die Schätzungen, sind die Hälfte von ihnen aus der Stadt geflohen.

Heute wird die Stadt an der türkischen Grenze militärisch von Kurden kontrolliert: „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG),  „Asayish“ (kurd.: Polizei) und andere bewaffnete Verbände, die mit der PYD verbündet sind, herrschen in Qamischli. Zudem existieren hier auch christliche und arabische Milizen, auf die ich später ausführlich eingehen werde. In Qamischli sowie in al-Hasakeh, der Provinzhauptstadt, ist aber auch noch das Regime präsent, welches wie schon erwähnt u.a. den Flughafen in Qamischli kontrolliert.

Über die Präsenz des Regimes in Qamischli und in al-Hasakeh habe ich mich oft mit den dortigen Anwohnern unterhalten. Die überwiegende Mehrheit meiner Gesprächspartner, nicht Politiker, sondern einfache Bürgerinnen und Bürger, sehen die Präsenz des Regimes in Qamischli positiv. Die meisten sind sich einig, dass der Flughafen unbedingt bestehen bleiben muss. Alle betonten die Bedeutung der staatlichen Strukturen in der Region. „Wenn Assads Herrschaft in Damaskus fällt, wird der Rest des Regimes in Qamischli und in al-Hasakeh auch automatisch fallen. Nachdem was passiert ist, müssen wir realistisch denken und auch handeln“, sagte eine 60-jährige kurdische Lehrerin. Ferner fühlen sich viele Araber, aber auch Assyrer/Chaldäer/Aramäer und Armenier durch die Anwesenheit des Regimes sicherer. Die neu entstandene Autonomieverwaltung müsse sich noch bewähren. Die YPG und Asayish sorgen bereits bestens für die Sicherheit und Ordnung, aber eine funktionierende Verwaltung braucht auch ein funktionierendes wirtschaftliches und politisches Leben. Doch in diesen beiden Punkten kommt Rojava nur sehr langsam voran. Die Verteidigungspolitik und Schutzmaßnahmen im Krieg gegen die Radikalislamisten werden von der Mehrheit der Bevölkerung sehr geschätzt: das politische Verhalten der autonomen Selbstverwaltung, insbesondere ihre Wirtschaftspolitik, hingegen oft kritisiert.

In der Stadt Qamischli hatte ich die Möglichkeit, zwei Vorträge zu halten: Einen in der Zentrale der „Kurdischen Demokratischen Fortschrittspartei“ (Peshveru), den anderen bei der „Demokratischen Partei Kurdistans“ (PDKS). Die PDKS ist eine Schwesterpartei der DPK-Irak des irakisch-kurdischen Präsidenten Masud Barzani und die führende Kraft im KNCS. Die Peshveru-Partei hingegen pflegt enge Beziehungen zu der „Patriotischen Union Kurdistans“ (Irak) des ehemaligen irakischen Präsidenten Jalal Talabani. In dem gerade anhaltenden Streit zwischen Masud Barzani und der PYD bzw. der PKK verhält sich die kurdisch-syrische Peshveru-Partei sachlich und neutral. Sie versucht dabei sogar zwischen den beiden Lagern zu vermitteln. Sie gilt als eine liberale Partei. Ihr Präsident Abdulhamid Haji Darwish ist der dienstälteste syrisch-kurdische Politiker und einer der Gründer der ersten kurdischen Partei in Syrien. Bei allen meinen Besuchen war in der Regel ein Mitglied der Peshveru-Partei dabei. Die Zentrale dieser Partei in Qamischli war auch mein Treffpunkt, von dort aus habe ich meine Aktivitäten organisiert.

In beiden Vorträgen, bei denen jeweils etwa 200 Menschen, überwiegend Politiker, anwesend waren, und auch in diversen Fernseh-, Radio- und Zeitungsinterviews positionierte ich mich deutlich für den Erhalt und für die Unterstützung der autonomen Selbstverwaltung in Rojava, die zurzeit die vernünftigste Form des Zusammenlebens von verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften in Nordsyrien darstellt. Hervorgehoben habe ich sowohl das multiethnische und multireligiöse Projekt der regierenden PYD als auch die hervorragende Rolle der Frauen im politischen Leben von Rojava. Gleichwohl forderte ich unmissverständlich die Einhaltung der Menschenrechte und die Erweiterung der politischen Basis der autonomen Selbstverwaltung durch wirkliche Beteiligung anderer politischen Parteien. Hierfür müsste der innerkurdische Dialog intensiviert werden. Die Autonomieverwaltung hätte bessere Überlebenschancen, wenn sich der KNCS an der Verwaltung beteiligen würde. Hier müssten beide Seiten aufeinander zukommen: Die PYD sollte sich politisch mehr öffnen und der KNCS müsse sich von der anti-kurdischen Politik des türkischen Staates und der syrischen Nationalen Koalition distanzieren. Ich betonte, dass die in der Provinz al-Hasakeh bestehenden staatlichen Strukturen (des syrischen Staates) in keinem Fall zerstört werden sollten. Nach der Assad-Diktatur dürfe in Syrien kein islamistisches Regime entstehen. Ich verdeutlichte, dass es nicht zielbringend ist, die letzten Regimetruppen aus dem Gebiet zu vertreiben. Langfristig gesehen könnten diese zwar ein Problem darstellen, aktuell aber ist der Hauptfeind nur der „Islamische Staat“ (IS). Im Notfall müsse man auch bereit sein, gemeinsam mit dem Regime gegen die radikalislamistischen Gruppen zu kämpfen. Das Regime verhalte sich zudem weitestgehend harmlos und die Bevölkerung fühle sich aktuell durch die Regimetruppen sicherer und auch die Mehrheit der Kurden spricht sich gegen die Vertreibung dieser aus. Zudem zahlt das Regime, wenn auch wenig, Gehalt.

Diese und andere Gründe sprechen dafür, dass die Vertreibung des syrischen Regimes aus Qamischli und aus der ganzen Provinz al-Hasakeh – wenn überhaupt – ausschließlich mit friedlichen Mitteln erfolgen sollte, denn zu groß ist die Gefahr eines „kurdisch-arabischen Krieges“. Ein solcher ethnischer Konflikt hätte für die gesamte Zivilbevölkerung, insbesondere für die kleinen christlichen Gemeinschaften in der Region, katastrophale Folgen. Nicht nur das Regime in Damaskus sondern auch viele andere Akteure wie die türkische Regierung, der Iran, der IS, arabische Nationalisten und Islamisten aus den Reihen der oppositionellen syrischen Nationalen Koalition hätten ein unmittelbares Interesse an einem solchen Konflikt, um ihre geopolitischen Interessen durchsetzen zu können.

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Christen aus Damaskus fanden in Qamischli ein neues Zuhause. Wichtig ist, dass für sie Arbeitsplätze geschaffen werden, damit sie in Rojava eine Zukunft haben. Foto: Kamal Sido

Auf jüdischen Spuren in Qamischli

Die Jerusalem Post berichtete 2006 (Jerusalem Post), dass noch drei Juden in Qamischli lebten. Also begab ich mich während meines Aufenthalts auf die Suche nach jüdischen Spuren und möglichen jüdischen Einwohner in der Stadt.

Lange habe ich nach den drei von der Jerusalem Post erwähnten Juden gesucht, leider konnte mir niemand etwas über ihren Verbleib sagen. Ich gehe davon aus, dass sie ausgewandert sind. Aber ich fand eine nicht mehr funktionierende Synagoge, einen Markt, der immer noch den Namen „Judenmarkt“ trägt, und einen Gewürzladen namens „Azar“. Dieser Laden soll einem der letzten Juden von Qamischli namens Azar gehört haben, der Anfang der 90er die Stadt verlassen haben soll. Die kurdisch sprechenden Juden von Qamischli bildeten nach den jüdischen Einwohnern von Damaskus und Aleppo eine der drei größten jüdischen Zentren in Syrien.

Die Juden sind die älteste Religionsgemeinschaft Syriens, die in der Neuzeit aufblühte. Um 1605 gründeten syrische Juden die erste hebräische Druckerei in Damaskus. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgten weitere Druckereien und Verlage. Zur gleichen Zeit wurde Shaul Farhi zum ersten Finanzbeauftragten eines Gouverneurs (Wali) von Damaskus ernannt. 1921 erschien die erste jüdische Zeitung Syriens in arabischer Sprache, „Israelitische Bildung und Kultur“, welche 1946 in „Frieden“ umbenannt wurde. Heutzutage zeugen Ruinen und Namen von den blühenden Zentren. Denn die meisten Juden verließen zwischen 1947 und 1970 das Land. Die letzte organisierte Ausreisewelle fand von 1992 bis 1994 statt. Danach verblieben nur noch rund 300 Juden in Syrien.

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Wie schon vier Jahre zuvor in Irakisch-Kurdistan besuchte ich dieses Mal in Qamischli ein Gefängnis, um mich über die Lage der Insassen zu informieren. Foto: Kamal Sido

Besuch eines Gefängnisses

In Qamischli erhielt ich von dem Polizeipräsidenten Ciwan Ibrahim die Erlaubnis, ein Gefängnis zu besuchen.

Vor dem Besuch des Gefängnisses im Stadtteil „Qanat al Suwes“ führte ich ein Interview mit der Abteilungsleiterin der Gefängnisse in Rojava, Frau Abir Khalil. Meine Frage, ob es geheime Gefängnisse in Rojava gebe, beantwortete sie gelassen und sicher mit „nein“. Auf diese Aussage reagierte ich grinsend mit einer folgenden Bemerkung: „Alle Machthaber verneinen die Existenz von geheimen Gefängnissen.“ Frau Abir konterte mit einer Aufzählung: Im Kanton Cazira, gebe es drei zentrale Gefängnisse, ferner verfüge jede große Polizeistation über Haftzellen für Untersuchungshäftlinge. In keinem der Gefängnisse gebe es politische Gefangene.

Im Gefängnis „Qanat al Suwes“, das ich besuchte, saßen rund 225 Gefangene. Mit einigen von ihnen konnte ich Gespräche führen. Es wurde mir gestattet, in der Zelle zu fotografieren, ohne jedoch die Gesichter der Gefangenen zu zeigen. Der Zustand des Gefängnisses war meines Erachtens zufriedenstellend. Außerdem nutzte ich die Möglichkeit, einen Vortrag für die Gefängnisleitung und die Gefängniswächter über die Bedeutung einer menschenwürdigen Behandlung von Gefangenen und die Verachtung von Folter in Gefängnissen halten.

Bei meinem Abschied sagte mir ein Gefängniswächter, dass bei meinem nächsten Besuch hoffentlich keine Gefängnisse mehr existieren würden. Anstelle von Gefängnissen sollte es Akademien geben, so dass sich die Gefangenen nach ihrer Entlassung wieder in der Gesellschaft zurechtfänden. Da ich gerne provoziere und Missverständnisse vermeiden wollte, reagierte ich mit folgender Bemerkung: „Ich bin mit Ideologien, die versucht haben, einen neuen Menschen zu erziehen, gut vertraut. Ich war nämlich neun Jahre lang in der ehemaligen Sowjetunion. Alle Versuche, einen neuen Menschen hervorzubringen, sind bisher gescheitert, und haben zudem oft in Unmenschlichkeit geendet.“ „Bitte behandelt die Gefangenen gut; das ist das Wichtigste“, fügte ich hinzu.

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Der westlichste Punkt meiner Reise war Kobani. Auf dem heute wieder zugänglichen Hügel Mischtanur zwei Kilometer südlich der Stadt kämpfte die IS-Miliz noch Ende 2014 gegen die kurdischen Verteidigungseinheiten (YPG). Foto: privat

Kurdisches Neujahrsfest in Kobani

Das westlichste Ziel meiner Reise war die Stadt Kobani (arab. Ain al-Aarab). Vor 2011 lebten in der Stadt rund 54.000 Menschen, von denen die allermeisten Kurden waren. 2014 erlangte die Stadt traurige Berühmtheit, als der „Islamische Staat“ versuchte, die Stadt zu erobern.

Vom 15. September 2014 bis 26. Januar 2015 kämpften kurdische Kämpfer und der IS um die Stadt bzw. die Region Kobani. Der IS rückte auf die Stadt vor, nur ein kleines Stadtviertel konnte durch die kurdischen Verteidiger gehalten werden. Nach monatelangen blutigen Häuserkämpfen erhielten die Kurden Luftunterstützung und Waffen von den USA. Die türkische Regierung verweigerte den Eingekesselten bis Anfang November jegliche Hilfe. Schließlich erlaubte Ankara unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit 150 kurdischen Peschmerga-Kämpfern aus Irakisch-Kurdistan nach Kobani zu kommen, um die Verteidiger mit Waffen zu unterstützen. Schließlich gelang es den Kurden im Januar 2015, die Einheiten des IS vollständig aus Kobani zu vertreiben. Heute befinden sich die IS-Stellungen etwa 60 km südlich der Stadt.

1.000 bis 1.500 kurdische Kämpfer und etwa 500 Zivilisten haben im Kampf um Kobani ihr Leben verloren, rund 5.000 wurden verletzt und in Notkrankenhäusern oder in den kurdischen Gemeinden der angrenzenden Türkei versorgt. Immer wieder haben die türkischen Behörden den Kurden die Behandlung in der Türkei verweigert. Nicht selten mussten Verwundete tagelang am Grenzübergang warten und sind dadurch teilweise sogar verblutet. Die rund 400.000 Einwohner der Stadt und des Kreises Kobani sind während der Kämpfe fast vollständig geflohen. Aus Flüchtlingslagern oder Privatquartieren in der mehrheitlich kurdischen Südosttürkei kehren wöchentlich etwa 1.000 Menschen trotz katastrophaler Verhältnisse nach Kobani zurück. Viele sind jedoch auch weiter nach Europa geflüchtet, da die Stadt zu 80 Prozent zerstört ist. Es gibt vor Ort nur zwei notdürftig eingerichtete Krankenhäuser: ein ziviles und ein militärisches. Der Grenzübergang von der Türkei nach Kobani wird nur etwa zweimal pro Woche und nur für Rückkehrer geöffnet. Nach Angaben des Präsidenten des Kantons Kobani, Anwar Muslim, den ich interviewte, sind bereits 250.000 Menschen nach Kobani und in die umliegenden Dörfer zurückgekehrt. Das sind etwas mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bewohner.

Da ich um den 21. März in Kobani war, hatte ich das Glück, mit zehntausenden Kurden und ihren Freunden das Newroz-Fest, also das Neujahrsfest, zu feiern. Dabei habe ich mehrere Interviews mit Politikern und einfachen Bürgern geführt. Vor Ort kursierten Informationen gab, dass der IS an diesem Tag Anschläge auf die Feierlichkeiten plante. Und so durchsuchten die örtlichen Sicherheitskräfte Menschen in kurdischen Festtagsgewändern, bevor diese aufs Gelände, wo die Feierlichkeiten stattfanden, gehen durften. Auch die Umgebung der Stadt wurde mehr als gewöhnlich kontrolliert. Diese Vorsichtsmaßnahmen waren leider notwendig: Wie später berichtet wurde, versuchten Anhänger des IS zwei Autobomben in die Stadt einzuschleusen, welche jedoch kurz vor Kobani entdeckt wurden.

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Während des kurdischen Neujahrsfest Newroz plante der IS Anschläge in Kobani. Die Sicherheitsvorkehrungen waren dementsprechend hoch. Foto: Kamal Sido

Militärischer Begleitschutz in Tall Abyad

Nach zwei Tagen Aufenthalt in Kobani ging es am 22. März über Tall Abyad, das überwiegend von arabischen Sunniten bewohnt ist, wieder zurück nach Amude bzw. Qamischli.

Die Verbindung zwischen Kobani im Westen und Qamischli im Osten wurde erst im Juni 2015 wieder hergestellt, nachdem die YPG und ihre Verbündeten den IS aus Tall Abyad vertrieben hatten. Erneut musste ich unter dem Schutz vom kurdischen Militär reisen, denn es wird vermutet, dass noch viele arabische Sunniten in Tall Abyad zum IS halten. Daher wird Zivilisten, vor allem Ausländern, dringend empfohlen, Tall Abyad nur bei Tageslicht und in militärischer Begleitung zu passieren.

Tall Abyad (kurd. Gire Spi) - als Distrikt und als gleichnamige Distrikthauptstadt – gehört dem syrischen Gouvernement ar-Raqqa an und liegt direkt an der türkischen Grenze gegenüber der türkischen Stadt Akcakale. Die gleichnamige Hauptstadt wird heute als Hauptstadt des IS gesehen. Ende 2010 lebten dort etwa 200.000 Menschen, davon ein Drittel Kurden. Auch eine kleine Anzahl von Schiiten und Christen gehörte zur Bevölkerung von ar-Raqqa. Mitte 2013 nahm der IS die Stadt ein und verjagte die so genannten „moderaten“ Islamisten aus der Region - auch vertrieb er die meisten Kurden aus ar-Raqqa. Die wenigen verbliebenen Kurden forderte der IS im Juni 2015 unter Todesdrohungen auf, innerhalb von 72 Stunden die Stadt zu verlassen. Auch die meisten Christen flohen nachdem der IS ar-Raqqa eingenommen hatte. Die wenigen, die vor Ort geblieben sind, müssen sich bis heute vor der islamistischen Terrormiliz fürchten.

Während die Hauptstadt immer noch vom IS kontrolliert wird, ist Tall Abyad mittlerweile wieder befreit. Doch die Herrschaft der Islamisten hat auch hier ihre Spur hinterlassen: Tall Abyad hatte im Jahr 2004 etwa 15.000 Einwohner, die sich aus Arabern, Kurden und syrischen Christen zusammensetzten. 2013 wurden nahezu alle Kurden und Christen vom IS und anderen Gruppen der syrischen pro-türkischen Opposition aus Tall Abyad vertrieben. (Wie mir Kurden und Araber berichteten, unterstützte die türkische Regierung die Radikalislamisten.) Viele Häuser der Kurden wurden zerstört und ihr Eigentum beschlagnahmt. Im Februar 2015 starteten kurdische Truppen einen Großangriff auf die vom IS besetzte Stadt. Im Juni 2015 kam es zu heftigen Kämpfen um Tall Abyad. Im Laufe dieser Kämpfe haben die Kurden und die mit ihnen verbündeten Araber den IS aus Tall Abyad vertreiben können.

Tall Abyad wurde aufgrund seiner strategischen Lage einer besonders scharfen Arabisierungspolitik unterzogen und ist eine der Regionen, aus der die meisten Kurden ab den 1960er Jahren vertrieben worden sind.

Das Kappen der Verbindung zwischen der Türkei und ar-Raqqa und die Beendigung der Einkesselung von Kobani bedeuteten einen schweren Schlag für die türkische Syrien-Politik. Aus diesem Grund reagierte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf diesen Erfolg der Kurden sehr heftig. Er stellte die USA vor der Wahl: „Wer ist euer Partner, ich oder die kurdischen Terroristen?" Im Kampf um Tall Abyad, wie auch um Kobani, gaben die USA der kurdischen YPG Luftunterstützung. In diesem Zusammenhang warfen die türkische Regierung und mit ihr loyale syrische Oppositionelle der YPG vor, Araber und Turkmenen aus Tall Abyad vertrieben zu haben. Diese Vorwürfe konnten nicht bestätigt werden. (GfbV)

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In Kobani, aber auch in anderen Ortschaften in Nordsyrien, feiern Jung und Alt den Sieg über den "Islamischen Staat". Die Kinder der Region haben verlassene Panzer bereits als Spielplätze entdeckt. Foto: Kamal Sido

Das neue Militärbündnis „Syrian Democratic Forces“ in al-Hasakeh

Mein nächstes Ziel nach der Rückkehr aus Kobani war die Stadt al-Hasakeh, in der das Regime, genau wie in Qamischli, teilweise präsent ist.

Vor 2011 lebten etwa 175.000 Menschen in al-Hasakeh. Die Stadt war einer der ersten Orte, an denen die syrische „Revolution“ ausbrach und ist damit der erste kurdische Ort, der sich auf Seiten der Rebellen positionierte. Nach mehreren Zusammenstößen zwischen islamistischen Gruppierungen und der YPG im Juli 2013 waren kurdische Aktivisten sehr enttäuscht von der arabischen sunnitischen Opposition, die sich in Al Hasakeh auf die Seite der Radikalislamisten stellte. Ab 2013 zogen sich die Regierungstruppen auf vereinzelte Kasernen zurück. Durch den erfolgreichen Kampf gegen den IS im Raum al-Hasakeh war es der YPG gelungen, ihre Position in dieser Region zu festigen.

Im Umkreis besuchte ich die Zentrale der „Syrian Democratic Forces“ (SDF) und interviewte deren Sprecher Talal Silo. Die SDF sind ein Zusammenschluss aus kurdischen, arabischen, assyro-aramäischen und turkmenischen Kräften in Rojava, in dem die YPG eine führende Rolle einnimmt. Neben militärischen Zielen, arbeiten die SDF auch auf eine offene Gesellschaft hin, wie mir der Generalmajor während unseres Gesprächs erläuterte: „Zu Beginn unserer Gründung hatten wir das Ziel, den IS zu zerschlagen und unsere Gebiete vom IS zu befreien. Aber schnell erweiterten wir unsere Bestrebungen: Heute kämpfen wir für ein demokratisches, pluralistisches, föderales System in Syrien, das die Freiheit kultureller Rechte und die Glaubensfreiheit für alle Volksgruppen in Syrien garantiert. Und wir wären dann der Kern zukünftiger Streitkräfte eines demokratischen Syriens, in dem Religion und Staat voneinander getrennt sind. Das unterscheidet uns von nahezu allen anderen bewaffneten Gruppen: Die anderen wollen einen Scharia-Staat in Syrien einführen. Wir bei den SDF lehnen das ab. Wir kämpfen für eine vollständige Gleichberechtigung zwischen allen religiösen und ethnischen Gruppen in Syrien. Christen müssen das Recht haben, Kirchen zu bauen, so wie andere eben auch ihre Gotteshäuser errichten können.“ (Das gesamte Interview finden Sie hier: GfbV)

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Der Eingang einer Kirche in al-Hasakeh. Nur wenige Straßen weiter hatte der IS geherrscht. Die Kirche blieb von der Terrorherrschaft der Islamisten verschont. Foto: Kamal Sido

Christliches Leben in al-Hasakeh und Qamischli

In al-Hasakeh zeigten sich die Bestrebungen der autonomen Selbstverwaltung, eine pluralistische Gesellschaft zu fördern.

So sind die staatlichen Behörden in der Regel in drei Sprachen beschriftet: Arabisch, Kurdisch und Aramäisch. Für die in al-Hasakeh lebenden Christen ist dies von großer Bedeutung, wie mir Abu Al-Majd von der christlichen aramäisch-assyrischen Miliz Sutoro in unserem Gespräch bestätigte: „Diese Gleichberechtigung ist sehr wichtig, besonders für Aramäisch. Unsere Sprache, die bedroht ist, findet dadurch wieder Beachtung. Auch wenn wir zahlenmäßig sehr wenige sind, ist Aramäisch als amtliche Sprache in der Region eingeführt worden. Überall, wo unsere Dörfer sind, steht alles auf Aramäisch, auch die Straßenschilder werden nach und nach dreisprachig. Und das ist das Recht unseres Volkes, für das wir jahrzehntelang in Syrien gekämpft haben.“ (Das ganze Gespräch finden Sie hier: GfbV) Die christliche Sutoro- Miliz ist im Nordosten Syriens, vor allem in der Provinz al-Hasakeh, aktiv und der "Suryoye Einheitspartei" (SUP), eine mit der PYD verbündete Organisation, untergeordnet. Sie soll mindestens 1.000 Kämpfer haben.

Sehr bewegt hat mich das Gespräch mit einer alten Armenierin, deren Eltern den Völkermord von 1915 überlebt hatten. „Meine Eltern sind vor dem Ergreifen durch die türkische Armee geflohen. Wir kamen erst einmal in ein kleines Dorf, das heute auf der syrischen Seite der Grenze nicht weit von Dirbesiye liegt. Wir haben mit der Hilfe unseres Bischofs aus Qamischli eine Kirche gebaut. Dann, vor etwa 30 Jahren, kamen wir nach al-Hasakeh. Ich bin fast alleine hier, denn alle meine Angehörigen sind ausgewandert.“ Auch erzählte sie mir, dass ihr Neffe bei seiner Flucht nach Europa im Sommer 2015 verschwunden ist. „Er war noch jung, 33 Jahre alt. Er soll die Türkei mit einem Boot oder Schiff Richtung Griechenland verlassen haben. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Wir haben über Anwälte und über Kirchen versucht, ihn zu finden.“ (Das vollständige Interview finden Sie hier: Reisebericht (pdf), S. 51.)

Um das Jahr 2011 sollen in der gesamten Provinz al-Hasakeh 150.000 Christen gelebt haben, von denen mindestens die Hälfte nun ausgewandert ist. Doch bis heute gibt es weiterhin Organisationen vor Ort, die sich für die Christen in Syrien einsetzen. Einige von ihnen besuchte ich während meiner Reise oder sprach mit Vertretern assyro-aramäischer Organisationen. So traf ich bereits in Qamischli die Führung der Assyrischen Demokratischen Union (ADO). ADO ist eine assyrische Organisation in Syrien sowie in Europa, die im Jahre 1957 gegründet wurde. Die Organisation kämpft - nach eigener Darstellung - für den Schutz und die Erhaltung der Interessen und Minderheitenrechte des assyrischen Volkes. Sie engagiert sich in der von den syrischen Islamisten unterwanderten syrischen Nationalen Koalition. (Reisebericht (pdf), S. 49)

Auch mit Frau Elizabeth Koriyeh von der SUP habe ich in Qamischli ein langes Interview geführt. Sie ist Vize-Präsidentin des exekutiven Rates der Autonomiebehörde im Kanton Cazira. SUP ist eine politische Partei in Syrien, die nach eigenen Angaben die Interessen des assyrisch/aramäischen Volkes vertritt. Die Partei wurde am 1. Oktober 2005 gegründet und tritt seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges als Opposition zur Assad-Regierung auf. Im Gegensatz zur ADO arbeitet die SUP eng mit der PYD zusammen und ist an allen politischen, administrativen und militärischen Strukturen der Autonomiebehörde in Rojava beteiligt. (Reisebericht (pdf), S. 61)

Ein kleines Highlight meiner Reise war es, dass ich an meinem vorletzten Tag, am 1. April, die Akitu-Feierlichkeiten im syrisch-orthodoxen Dorf Girshiran miterlebt habe. Das ganze Dorf, in dem eine kleine, aber wunderschöne Kirche befindet, war auf den Beinen. Alle zwei Meter gab es Menschen, die im freien picknickten. Auch wenn der IS nicht weit entfernt war, ließen sich die Personen ihre Neujahrsfeierlichkeiten – wie schon in Kobani – nicht nehmen.

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Am 1. April konnte ich das assyrische Neujahrsfest Akitu in Nordsyrien miterleben. Auch Elizabeth Koriyeh (Mitte) von der "Suryoye Einheitspartei" war unter den Feiernden. Foto: Kamal Sido

Bei den Yeziden

Auf dem Rückweg von al-Hasakeh besuchte ich am 25. März einige leerstehende yezidische Dörfer zwischen al-Hasakeh und Amude.

Die Yeziden sind in Syrien eine der zahlenmäßig kleinsten Minderheiten, die ursprünglich vermutlich 30.000 – 60.000 Angehörige hatte. Bereits zwei Drittel der syrischen Yeziden haben ihre Dörfer verlassen und sind ins Ausland geflüchtet. In Syrien siedeln sie in zwei Gebieten im kurdischen Norden: im Dirstrikt al-Hasakeh und in den Dörfern um Afrin, einer kurdischen Stadt nordwestlich von Aleppo. In al-Hasakeh waren etwa 60 Prozent der Yeziden staatenlos, nachdem die syrische Regierung im Jahre 1962 durch das Ausnahmegesetz Nr. 93 mehr als 120.000 Kurden ausgebürgert hatte. Diesen Menschen wurden sämtliche bürgerliche Rechte entzogen.

In dem Dorf Qizlacho, das nicht weit von Amude liegt, war ich mit Yeziden verabredet, mit denen wir zusammen Mittag aßen. Unter den Gästen waren auch einige Yeziden aus Deutschland, die auf dem Weg nach Sinjar im Irak waren. In Qizlacho sollen früher 30 Familien gelebt haben, heute sind es nur noch zehn. Mit dem Vorsitzenden des Vereins „Mala Ezdiya“ (deutsch: Haus der Yeziden), Ilyas Saydo, habe ich ein langes Interview zur Lage der Yeziden geführt. Das „Haus“ wurde 2012 von Yeziden gegründet, um eine gemeinsame Repräsentanz zu haben. „Wir haben diesen Verein gegründet, weil wir uns Yeziden organisieren wollten. In unruhigen Zeiten kann man nur überleben, wenn man gut organisiert ist. Wir wollten für die Yeziden eine politische Vertretung organisieren, sodass diese die Yeziden in Rojava repräsentiert. Es ist ein politischer, zivilgesellschaftlicher, religiöser Verein. Mit ihm wollen wir uns an dem politischen Leben hier beteiligen und interne Konflikte lösen“, erzählte mir Saydo während des Gesprächs beim Mittagessen. Auch hätte es, laut Saydo, in der Provinz al-Hasakeh rund 52 Dörfer gegeben, in denen Yeziden lebten. Viele dieser Dörfer seien heute nicht mehr bewohnt. Die Zahl der in der Region verbliebenen Yeziden schätzt er auf etwa 3.000 Personen.
(Reisebericht (pdf), S. 69)

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Im "Haus der Yeziden" im kleinen Ort Qizlacho sprach ich beim Mittagessen mit Vertretern der Organisation über Vergangenheit und Zukunft der Yeziden in der Region. Foto: Kamal Sido

Wie bei Karl May

Auf dem Rückweg zur „kurdisch-kurdischen“ Grenze am Tigris bei Semalka machten wir einen Zwischenstopp in Tall Alo, dem Sitz von Scheich Humaidi Daham al-Hadi.

Er ist das Oberhaupt des sunnitisch-arabischen Schammar-Stammes in Syrien und der Präsident des Kantons von Cazira. Dem Humaidi Daham al-Hadi sind die „Quwat as-Sanadid“, eine 2013 gegründete Miliz, unterstellt. Diese kämpft im syrischen Bürgerkrieg auf der Seite der YPG gegen den IS und umfasst nach eigenen Angaben etwa 4.500 Kämpfer.

Am Hof des Scheichs Humaidi Daham al-Hadi fanden wir Szenen wie aus dem Roman „Durchs wilde Kurdistan“ von Karl May vor. Wir mussten unter einem aus Ziegenhaaren hergestellten Zelt auf dem Boden sitzen. Auch yezidische Kämpfer aus Sinjar, so wie es auch Karl May beschrieben hatte, waren beim Scheich der Schammar zu Gast. Damit das Bild hätte abgerundet werden können, haben nur noch Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar gefehlt.

Bereits auf dem Weg zum Sitz des Scheichs von Schammar fühlte ich mich nicht gut. Die vielen Reisestrapazen (wenig Schlaf, überall rauchende Menschen in Autos und in Schlafzimmern, Dieselgeruch, ständiges Wechseln von Quartieren bei verschieden Freunden etc.) machten sich bemerkbar. Mein Reisebegleiter Kim Hussein Reve, der mich freundlicherweise fast die ganze Zeit in Nordsyrien begleitet hatte, wurde darauf aufmerksam und wusste, was mir fehlte: ein ruhiger und erholsamer Schlaf. Da ein Bekannter von uns in Derik nicht ans Telefon ging, suchte er uns ein Hotel. Wir fuhren zu einem schönen Haus, in dem sich eines der wenigen Hotels in Derik befand und einer christlichen Familie gehörte. Leider konnten wir dort niemanden auffinden, da die Eigentümer gerade mit ihren Hotelgästen ein Picknick veranstalteten, was uns ein Nachbar später erzählte. Also fuhren wir über die engen Straßen von Derik direkt zum Tigris, gen Osten zur syrisch-irakischen Grenze. „Ich habe einen Bekannten in einem Dorf direkt bei Semalka am Grenzübergang. Dort können wir ruhig schlafen und es gibt sogar WLAN“, sagte Kim. Es war zu diesem Zeitpunkt schon dunkel. Mit unserem Gastgeber Sadun hatte Kim bereits telefonischen Kontakt gehabt. Wir waren bei ihm also willkommen. Dort angekommen musste ich feststellen, dass auch unser Gastgeber Sadun, ein netter Mann, in allen Räumen seines Hauses rauchte. Bei einem Glas heißen Tee sprach ich das Problem an und erhielt dabei sogar Unterstützung von seiner Frau. Daraufhin versprach Sadun, ab sofort nur noch draußen zu rauchen.

Am nächsten Tag begleitete Sadun uns zum Grenzübergang. Dort nahm ich Abschied von ihm und Kim. Auch der studierte Jurist Kim versprach mir, in seiner Wohnung in Qamischli, in der ich oft übernachtet hatte, nicht mehr zu rauchen. Kim ist mit einer netten TV-Journalistin, die mich auch interviewte, verheiratet und hat mit ihr zwei kleine Kinder.

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Gemeinsam mit den Kurden gegen den IS: Ungefähr 4.500 Kämpfer des arabischen Schammar-Stammes haben sich mit der YPG gegen die Islamisten verbündet. Foto: Kamal Sido

Rojava-Nordsyrien benötigt unsere Solidarität

Wenn ich meine Eindrücke von meiner Reise in Nordsyrien kurz zusammenfasse, kann ich vor allem eins sagen: Diesen wunderbaren Menschen in Rojava-Nordsyrien müssen wir in jedem Fall helfen.

In vielen meiner Gesprächen habe ich in der Regel immer das Gleiche gehört: „Wir wollen nicht unbedingt unsere Heimat verlassen. Wir sind nicht gezwungen, gefährliche Wege über das Meer auf uns zu nehmen, um nach Deutschland und Europa zu kommen. Ihr müsst uns aber von Europa aus unterstützen.“

Allen Politikern und Aktivisten, die ich traf, habe ich sehr aufmerksam zugehört. Ich wollte von ihnen mehr über ihre Einschätzungen zur Lage in Nordsyrien erfahren. Ich hatte die Möglichkeit, Vertreter fast aller in Nordsyrien aktiven Parteien, Organisationen und Vereine zu treffen. Auch konnte ich mit vielen Repräsentanten der zivilen Gesellschaft, der Minderheiten (Kurden, Araber, Armenier, Assyrer/Aramäer/Chaldäer, Turkmenen, Muslime, Yeziden, Christen) sowie mit Journalisten sprechen.

„Es mag Probleme in Rojava geben und die Kurden werden die Ersten sein, die das zugeben werden. Sie hegen revanchistische Ansprüche und sind nicht so demokratisch, wie sie häufig behaupten. Trotzdem, was diese beiden Themen betrifft, sind sie nicht schlimmer als Recep Tayyip Erdogans Türkei, sondern sogar ein ganzes Stück besser. Außerdem sind sie säkular, tolerant gegenüber religiösen Minderheiten und insgesamt tolerant gegenüber ethnischen Minderheiten in ihrer Mitte“, beschrieb Michael Rubin, US-amerikanischer Nahostexperte und ehemaliger Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums, die komplizierte Lage in Rojava-Nordsyrien. (Commentary) Dieser Schlussfolgerung von Michael Rubin kann ich nur zustimmen.

Es ist unsere Aufgabe und wir sind sogar verpflichtet, die Menschen in Rojava-Nordsyrien dabei zu unterstützen, ein Mindestmaß an Leben in Würde zu führen und Perspektiven für sich und ihre Kinder zu entwickeln. Dies ist möglich und wird uns viel weniger kosten als sie als Flüchtlinge in den Asylunterkünften in Deutschland zu beherbergen. In dieser Not können wir durch gezielte humanitäre Maßnahmen von Deutschland und von Europa aus, das Leben oder das Überleben der Kurden, arabischen Sunniten, Assyrer/Chaldäer/Aramäer, Armenier, Christen, Yeziden, Tscherkessen, Turkmenen und anderer viel verträglicher machen. Nicht zu vergessen sind die fast eine Million Flüchtlinge, die in Rojava-Nordsyrien Zuflucht gefunden haben. Diese benötigen dringend unsere Solidarität und Hilfe. Durch unsere humanitäre Hilfe kann auch Einfluss auf die Geschehnisse vor Ort in Nordsyrien genommen, die Lage in Nordsyrien stabilisiert und die lokalen Selbstverwaltungsstrukturen gestärkt werden. So können wir Toleranz, das friedliche Zusammenleben von verschiedenen Ethnien und Religionsgemeinschaften und Menschen- und Minderheitenrechte fördern. Was aber Nordsyrien schnellstens benötigt, ist die sofortige und dauerhafte Öffnung der Grenzübergänge von der Türkei und dem Irak für humanitäre Hilfe nach Nordsyrien.

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Auch wenn das Zentrale Staatliche Elektrizitätsnetz (ZSE) noch weitgehend intakt ist, gehört die Elektrizität zu den größten Problemen in Nordsyrien. ZSE liefert Strom in der Regel nur für eine Stunde am Tag. Die restliche Zeit werden die Haushalte durch Dieselgeneratoren versorgt. Foto: Kamal Sido

Setzen Sie sich mit uns gemeinsam für die Öffnung der türkischen Grenzübergänge in die Kurdengebiete ein! Unterschreiben Sie unsere Petition!