30.09.2004

Auszug 2

Hilferuf der Frauensektion des Dachverbandes der Vereine ehemaliger Lagerinsassen - Sektion Sarajevo

Der Dachverband der Vereine der ehemaligen Lagerinsassen - Kanton Sarajevo ist eine unparteiische, regierungsunabhängige Organisation. Er wurde von ehemaligen Insassen der während des Krieges 1992 – 1995 bestehenden Internierungslager in Eigeninitiative gegründet. Der Dachverband hat ca. 6.000 Mitglieder und wird von acht Sektionen gebildet. Seine Mitglieder sind jedoch nicht nur ausnahmslos ehemalige Lagerinsassen, sondern als Folge der ethnischen Säuberungen auch Vertriebene, die im Kanton Sarajevo Zuflucht gefunden haben.

Am 15. Juli 2000 wurde innerhalb des Dachverbandes eine Frauensektion gegründet. Ihr Ziel ist es, zur Lösung der individuellen Probleme einzelner Frauen und der allen gemeinsamen Fragen beizutragen. Anfang Oktober 2000 hatte die Sektion 700 Angehörige. Durch die vielen neuen Mitglieder wird sie jedoch täglich größer. Jede von uns hat ihre ganz eigene Geschichte zu erzählen. Wir alle sind Zeuginnen des Leidens, der Pein, des Völkermordes, des Verbrechens an der Menschheit. Wir sind Opfer von Folter, von psychischer, physischer und sexueller Misshandlung.

Unsere Seelen tragen tiefe, nur schwer heilende Wunden, die durch unsere gegenwärtige Situation ganz gewiss immer wieder aufgerissen werden. Denn wir wurden von allen vergessen.

Der Krieg ist beendet. Es gibt keine Granaten mehr, keine Vergewaltigungen. Das schreckliche Leid, das mit Kriegen verbunden ist, hat aufgehört. Ein anderer Kampf geht jedoch weiter, unser Kampf um das Existenzminimum. Wir können kein Geld verdienen, denn wir haben keine Arbeit. Wir leben in ständiger Angst davor, aus unseren derzeitigen Wohnungen zwangsgeräumt zu werden und können gleichzeitig nicht in unsere eigenen Wohnungen zurück, in denen wir vor dem Krieg gelebt haben. Wir können uns medizinisch nicht behandeln lassen, weil wir kein Geld für Therapie und Medikamente haben. Die Mehrheit von uns lebt ohne Ehemänner, denn sie wurden getötet oder gelten als vermisst. Viele von uns haben minderjährige Kinder, deren überleben wir sichern müssen.

Die meisten von uns leben in den Vororten von Sarajevo, so dass es schwierig für uns ist, an den Treffen unserer Frauensektion teilzunehmen, denn wir haben kein Geld für Bus- oder Straßenbahnfahrkarten. Viele von uns sind vollkommen mittellos. Zehn Frauen sind so arm, dass sie nur deshalb nicht verhungern, weil sie von der Gemeinde Sarajevo täglich ein halbes Kilo Brot und einen halben Liter Milch bekommen.

Ein besonders großes Problem sind diejenigen unter uns, die wegen schwerster Traumatisierung entsprechende Medikamente einnehmen und diese selbst bezahlen müssen. Auch dafür ist kein Geld da, und so hören wir bei unseren Treffen in letzter Zeit sehr häufig verzweifelte Worte wie "Ich werde mich umbringen" oder "Ich werde mich erhängen". Bislang haben wir vom Zentrum für die Opfer von Folter während des Krieges Hilfe bei psychiatrischer Behandlung bekommen. Das ist nun nicht mehr möglich, denn dem Zentrum wurden die Mittel dafür gestrichen.

Wir sind unterernährt und blass, denn wir müssen uns mit minderwertiger Nahrung zufrieden geben. Wir fristen ein Dasein am Rande der Gesellschaft. Unsere Situation ist heute schwieriger als während des Krieges. Aus eigener Kraft können wir daran nichts ändern. Wir haben keine Zukunft. Wir brauchen dringend Hilfe, sonst bleibt uns als einzige Lösung nur die Auswanderung.

Alisa Muratcaus

Vorsitzende