25.01.2012

Bürgerkriegsähnlicher Zustand

Dagestan:

In den letzten Jahren rangierte Dagestan, was die Zahl an Toten und Verletzten durch Anschläge von Terroristen sowie Racheaktionen der Polizei und Sicherheitsdienste anbelangt, im Vergleich mit den anderen Republiken des Nordkaukasus immer an der ersten Stelle. Die Situation in Dagestan ähnelt einem Bürgerkrieg. Über 2.500 Aufständische sollen hier aktiv sein, etwa die Hälfte aller geschätzten Kämpfer im gesamten Nordkaukasus. Sie verüben fast täglich Anschläge auf Polizeibeamte, Mitarbeiter der Sicherheitsdienste und der Regierung, aber auch auf Geschäfte, in denen Alkohol und Tabak verkauft werden. Die Regierung reagiert mit Gegengewalt und Willkür, die sich auch gegen unbeteiligte Zivilisten richtet. Der Konflikt hat mehrere Ursachen:

Religiöse Motivation

Dagestan war über lange Zeit vom liberalen Sufismus geprägt. Zu Beginn der 1990 Jahre entstanden jedoch die ersten salafistischen Gruppen, die eine radikale und fundamentale Auslegung des Islam predigten. Sie erkennen keine weltliche Macht an. Die Regierungen verschrieben sich dem Kampf gegen die Salafisten, was diese weiter radikalisierte und ihnen Zulauf unter der jungen Bevölkerung verschaffte. Besonders junge Männer, die ihre tiefe Religiosität auch nach außen zeigen, sind ständig in der Gefahr, willkürlich festgenommen oder entführt zu werden. Sie werden als Wahabiten bezeichnet und systematisch in den Gefängnissen gefoltert. Kann man ihnen nichts nachweisen, werden sie teils wieder auf freien Fuß gesetzt, reagieren aber mit Gewalt und Rache. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie oder einem Clan wird dadurch unwichtiger als das Gefühl, sich gegen den Staat zusammen zu schließen und aus religiöser Motivation „das Richtige“ zu tun. Opfer dieser fast täglichen Anschläge werden insbesondere Polizisten, Mitarbeiter der Strafverfolgungsbehörden und Regierungsvertreter.

Ausweitung des Krieges von Tschetschenien auf die Nachbarrepubliken (insb. Dagestan)

Schon seit Jahren ist nicht mehr nur Tschetschenien von Gewalt betroffen, sondern weite Teile des Nordkaukasus. Interethnische Konflikte, separatistische Bestrebungen, dschihadistische Bewegungen, die Verbreitung von Waffen und Sprengstoff, Fehden, Kriminalität und Korruption führen in Dagestan zu fast täglicher Gewalt und einer Spirale, die sich immer weiter dreht. Heute soll es in Dagestan Gruppen von Kämpfern geben, die über Jahre in Tschetschenien aktiv waren. Sie waren vor dessen Tod im letzten Jahr dem Anführer der tschetschenischen Kämpfer, Doku Umarow gegenüber loyal. Weite Teile der Bevölkerung sehen sich nicht mehr als Teil der Russischen Föderation, obwohl Dagestan formell zu Russland gehört.

Staatliche Gewalt und Willkür

Die Behörden in Dagestan führen regelmäßig so genannte Anti-Terror Operationen durch. Dabei werden die Wohnungen und Häuser von Zivilisten durchsucht, Menschen werden verschleppt. Die Gerichtsverfahren sind unfair und in Haft, besonders in Untersuchungshaft, wird systematisch gefoltert. Die Regierungspolitik ist insofern gescheitert als sie kein friedliches Gegenmodell zum radikalen Salafismus bietet, sondern in Übereinstimmung mit Moskau, mit Gewalt auf die Gewalt des bewaffneten Untergrunds reagiert. Der Menschenrechtsorganisation Memorial zu Folge sind die willkürliche Entführung bzw. Fälle von Verschwindenlassen die häufigsten Verbrechen. Es habe sich ein System der illegalen Gewaltanwendung herausgebildet, bestehend aus Verschwindenlassen, Folter und Morden. Opfer sind tatsächliche Angehörige des bewaffneten Untergrunds, aber vielfach auch Personen, die nur verdächtigt werden, an Anschlägen beteiligt gewesen zu sein, sowie vollkommen unschuldige Zivilisten, die verleumdet wurden, bzw. aus verschiedenen Gründen ins Visier der Mitarbeiter des Innenministeriums geraten sind, das für die meisten der Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist.

Armut und Perspektivlosigkeit:

Zwischen 70 und 80 Prozent des Staatshaushalts von Dagestan werden von der Moskauer Zentralregierung finanziert. Die Republik hat mit über 50 Prozent die höchste Arbeitslosenquote in ganz Russland. Gerade der Alltag von jungen Menschen ist von Armut, Arbeits- und Perspektivlosigkeit geprägt. Korruption ist das entscheidende Merkmal des politischen und wirtschaftlichen Systems.

Dagestan in Zahlen

In Dagestan, das 50 300 Quadratkilometer umfasst, leben 15 verschiedene Nationalitäten. Die Awaren stellen mit 28% die größte Bevölkerungsgruppe, gefolgt von den Lesgiern, Darginern und Laken. Sie alle gehören wie auch die Tabassaren, Rutulen, Agulier, Zachuren und Tschetschenen zur kaukasischen Sprachgruppe. Die Kumyken, Aserbaidschaner und Nogaier sind turksprachige Gemeinschaften. Zur indoeuropäischen Sprachfamilie gehören Russen, Taten und Bergjuden. Dagestan ist die südlichste Republik der Russischen Föderation. Sie grenzt an Aserbaidschan, Georgien, im Westen an Tschetschenien und im Norden an Kalmückien an. Im Osten hat Dagestan eine lange Küste am Kaspischen Meer. Die Republik setzt sich aus einem flachen Nordteil, der Nogaiersteppe, dem Kaukasusvorland sowie einem gebirgigen Südteil zusammen. Die Region ist wichtig für den Transitverkehr von Russland nach Aserbaidschan und in den Iran.