27.04.2005

Die Awas Tingni-Entscheidung zu indigenen Landrechten in Nicaragua und ihre regionale wie internationale Bedeutung

Der lange Weg zum Recht

Die interamerikanische Kommission für Menschenrechte hatte sich schon ab 1970 der kollektiven Landrechte indigener Bevölkerungen angenommen. Schriftliche "Schlussfolgerungen" existieren aber nur im Fall der Guahibo-Indianer aus Kolumbien sowie in den Fällen der Aché aus Paraguay und der Yanomami Brasiliens. Mit einem umfassenden Bericht der Kommission endete 1984 nur der Fall der Miskito-Indianer aus Nicaragua. Die Fälle der Miskito und der Yanomami warfen in der Kommission erstmals die Frage des politischen Verhältnisses indigener Völker zum Staat auf. Der Awas Tingni-Fall war dann der erste Landrechtsstreit zwischen einer indigenen Gruppe und einer Staatsregierung, der von der Kommission dem interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgelegt und der von diesem 2001 erstmals zugunsten indigener kollektiver Landrechte entschieden wurde.

Zur Vorgeschichte des Awas Tingni-Urteils

Das Umweltministerium Nicaraguas hatte 1996 der koreanischen Firma Solcarsa eine 30-jährige Abholzungskonzession inclusive Bau einer öffentlichen Straße zwecks Zufahrt zum betroffenen Land bewilligt. Die Konzession betraf 62.000 Hektar tropischen Regenwaldes an der Atlantikküste Nicaraguas, der von der indigenen Mayagna (Sumo) Awas Tingni-Gemeinschaft bewohnt wurde. Die Konzessionsvergabe geschah, ohne die ortsansässige indigene Gruppe einzubeziehen und obwohl für direkt angrenzendes Land ein Umweltabkommen bestand, das zu nachhaltiger Forstnutzung verpflichtete. Die knapp 700 Personen umfassende Gemeinschaft machte zudem seit längerem Besitztitel an diesem Land geltend. Das Ministerium begründete die Konzessionsbewilligung damit, dass alles Land, das nicht durch rechtliche Titel geschützt sei, Regierungseigentum wäre, unabhängig von indigener Nutzung oder indigenem Besitz.

Die Konzession wurde schließlich von einem innerstaatlichen Gericht für nicht verfassungsgemäß erklärt. Obwohl die damit verbundene Aufhebung der Holzfällkonzession eigentlich ein Sieg für die Awas Tingni darstellte, blieb die zentrale Frage der Landbesitzrechte weiterhin ungeklärt. Es fehlte an einer Vermessung des kommunalen Landes. Die Bereitschaft des Staates Nicaragua an einer Lösung der Landrechtsfrage schien sehr fraglich.

Deshalb legten die Anwälte der Awas Tingni der interamerikanischen Menschenrechtskommission 1995 einen gegen den nicaraguanischen Staat gerichteten Antrag vor. Argumentiert wurde damit, dass Nicaragua laut Verfassung ausdrücklich verpflichtet sei, die auf der Gemeinschaft basierenden traditionellen Eigentumsrechte indigener Völker anzuerkennen. Auch laufe die Konzession dem Artikel 21 der amerikanischen Menschenrechtskonvention zuwider, der jedem das Recht auf Nutzung und Genuss seines Eigentums garantiere. Zudem sei das Recht auf kulturelle Integrität verletzt. Die Kommission untersuchte den Fall und entschied zugunsten der Gemeinschaft. Trotz aufgehobener Konzession gegenüber der Firma Solcarsa war auch die Kommission damit unzufrieden, dass Nicaragua fortgesetzt traditionelles indigenes Land der Awas Tingni weder vermessen noch gesichert hatte. Mitte 1998 legte die Kommission gemeinsam mit den sie beratenden Anwälten der Awas Tingni vom Indian Law Resource Centre (USA) den Awas Tingni-Fall dem Gerichtshof für Menschenrechte vor. Zahlreiche umliegende indigenen Gemeinschaften der Awas Tingni unterstützten den Fall wegen seiner Wichtigkeit für zukünftige Landvermessungen, Titel und Schutz indigenen Landes.

Die Entscheidung im Einzelnen

Im August 2001 fällte jener Gerichtshof für Menschenrechte im Fall der Awas Tingni-Gemeinschaft gegen die Republik Nicaragua seine regional wie international viel beachtete Entscheidung. Das Gericht bestätigte erstmalig, dass indigene Völker kollektive Rechte an ihrem traditionellen Land, dortigen natürlichen Ressourcen und der Umwelt inne haben. Der Gerichtshof urteilte, dass das internationale Menschenrecht, die Vorteile des Eigentums zu nutzen – wie insbesondere in der amerikanischen Menschenrechtskonvention niedergelegt – ein Recht indigener Völker auf Schutz ihrer gewohnheitsrechtlich begründeten Landbesitz- und Ressourcenrechte beinhaltet. Nicaragua verletze die Eigentumsrechte der Awas Tingni-Gemeinschaft dadurch, dass der Staat der Firma Solcarsa die Abholzungskonzession für das traditionelle Land der Gemeinschaft bewilligte und es unterließ, gewohnheitsmäßige Landbesitzrechte der Awas Tingni angemessen anzuerkennen und zu schützen. Schon Landbesitz (d.h. die tatsächliche "Sachherrschaft", z.B. bewohnen) soll laut Entscheidung jetzt für indigene Gemeinschaften ohne Landeigentumstitel genügen, um eine offizielle Anerkennung als Eigentum zu erreichen. Die effektive Nutznießung von Land und Ressourcen durch Indigene muss gewährleistet sein, eine bloße Anerkennung in Verfassung und Gesetz reicht nicht aus. Deshalb wurde dem Staat Nicaragua aufgegeben, das traditionelle Land der Awas Tingni zu vermessen und der Gemeinschaft "in Übereinstimmung mit den gewohnheitsrechtlich anerkannten Besitzrechten an Land und Ressourcen" Landtitel zu übertragen. Staatliches Handeln darf die gemeinschaftlichen Landrechte nicht untergraben. "Angemessene gesetzliche Mechanismen" sollen zukünftig Landrechte aller indigenen Gemeinschaften des Landes sichern.

Zusammengefasst verlangt die Awas Tingni-Entscheidung also, dass die Regierung Nicaraguas

  • "angemessene gesetzliche Mechanismen" bereitstellt und indigene Rechte über indigenes kommunales Land praktisch anerkennt,
  • zukünftig eigenmächtig keine Konzessionen über die Naturressourcen indigenen kommunalen Landes vergibt
  • Wiedergutmachung für den entstandenen ökonomischen und moralischen Schaden zahlt, den die Gemeinschaft wegen der Regierungsaktionen und -unterlassungen in Bezug auf ihre Eigentumsrechte erlitten hat.
  • Zwar bleibt der interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte weiterhin zuständig und überprüft die Umsetzung der Entscheidung. Doch geht der Umsetzungsprozess nur schleppend voran. Es mangelt an (raschem) Vollzugswillen: Erst Ende 2002, ein Jahr nach dem Urteil, wurden die Prozesskosten erstattet und ein Landvermessungsgesetz angenommen. Noch 2003 aber fehlten ausführende Bestimmungen hierzu sowie eine Landvermessungskommission. Mittlerweile hat der Staat Nicaragua zwar als ersten Schritt des Landvermessungsprozesses die Bewertung des von den Awas Tingni genutzten und besessenen Landes vorgenommen sowie 2004 endlich das Internat für Awas Tingni-Kinder eröffnet. Aber damit ist das Urteil noch keineswegs vollends umgesetzt. Aus diesem Grunde klagt das Indian Law Resource Center (ILRC), das die Awas Tingni schon 2001 vor Gericht vertrat, gegenwärtig auf vollständige Befolgung der Awas Tingni-Entscheidung von 2001. Im Jahr 2002 hatte das ILRC bereits einen Beschluss zu "vorläufigen Maßnahmen" vor dem interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte erstritten, um kommunales Land und natürliche Ressourcen bis zur Vermessung und Titelvergabe vor schädigenden Handlungen Dritter oder des Staates zu schützen. Faktisch aber blieben illegales Holzfällen und Besiedlungen auf Awas Tingni-Land trotzdem nicht aus.

    Zur Bedeutung der Awas Tingni-Entscheidung

    Wenn auch eine umfassende Umsetzung der Entscheidung noch immer aussteht und die Wiedergutmachungsleistungen zu gering ausgefallen sind, so hat das Awas Tingni-Urteil dennoch verdeutlicht: der Mangel an Anerkennung, Respektierung und Inkraftsetzung indigener Land-, Ressourcen- und Umweltrechte durch die (jeweils) betroffene (lateinamerikanische) Regierung wird vom interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht toleriert. Mit dessen ehemaligem Präsidenten, Claudio Grossman, ist die Entscheidung als ein "essentieller Fortschritt im Schutz der Menschenrechte indigener Völker in den Staaten des amerikanischen Kontinents" anzusehen.

    Es ist angemessen, dass sich dieser erste Fall des interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Rechten einer indigenen Bevölkerungsgruppe mit Eigentumsrechten befasst, da die gesamte Kultur und Existenz traditioneller indigener Gemeinschaften vom Land, dass sie seit Generationen bewohnen bzw. nutzen, abhängt. Angesichts jahrelanger Auseinandersetzungen – so in Guatemala, Honduras, Mexiko und den USA – könnte die Entscheidung die Durchsetzung indigener Landrechte innerhalb der von territorialen Disputen heimgesuchten Staaten des amerikanischen Kontinents erleichtern helfen.

    In Nicaragua dürfen nun an der Ausbeutung natürlicher Ressourcen interessierte Unternehmen nicht ohne Vermessung indigenen Landes und ohne indigene Zustimmung in dieses Land eindringen. Auch darüber hinaus wird sich die Awas Tingni-Entscheidung auf den bestehenden Konflikt angesichts kollektiver, nicht dokumentierter Landrechte indigener Gemeinschaften und Entwicklungsinteressen nationaler Regierungen wie internationaler Konzerne auswirken. Das Urteil kann zudem in der Diskussion um verstärkte indigene Kollektiv-Rechte weltweit nicht ignoriert werden: Da es eine historische Präzedenzentscheidung im Kampf indigener Völker für ihre kommunalen Land- und Ressourcenrechte darstellt, gilt es als ein wichtiger Schritt in Richtung einer internationalrechtlichen Akzeptanz indigener Völkerrechte.

    Die Entscheidung liefert einen wichtigen Beitrag zum schnell anwachsenden internationalen Indigenenrecht und zu den Standards, die indigene Völker betreffen, insbesondere was das Streben nach Selbstbestimmung als unterschiedliche Gruppen mit gesicherten Territorialrechten anbelangt. Ob das Awas Tingni-Urteil einen Einfluss auf die andauernden Verhandlungen zum Entwurf einer Deklaration über die Rechte indigener Völker auf UN-Ebene und auf Ebene der Organisation Amerikanischer Staaten genommen hat, muss nach Abschluss der Indigenen Dekade genauer betrachtet werden. Sie hat sicherlich auch hier eine besondere Motivation zur umfassenden Anerkennung indigener Eigentums- und Kollektivrechte geschaffen.

    Margret Carstens, Völkerrechtlerin (Minderheiten-, Indigenen- u. Umwelt-recht) Berlin, 2000. Dissertation über indigene Land- und Selbstbestimmungsrechte in Australien, Kanada und im internationalen Recht.

    Lit.: Heilige Amazonaspflanze wird geschützt – Indianer erfolgreich gegen US-Patent- und Warenzeichenamt (PTO), Pogrom 205 (2000), 22 ff.

    www.indianlaw.org/awas_tingni_info_english.htm

    Anmerkungen: Organisation Amerikanischer Staaten

    Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte ist ein dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte vorgeschaltetes Untersuchungsgremium und Hauptorgan der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS, 35 Mitgliedsstaaten). Sie untersucht die von Einzelnen, Gruppen oder NGO’s vorgebrachten Menschenrechtsverletzungen, d.h. sie überwacht die Einhaltung der für OAS-Mitglieder geltenden "Amerikanischen Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen”, der Amerikanischen Menschenrechtskonvention und des internationalen Gewohnheitsrechts.

    Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ist das offizielle Organ der OAS und bei behaupteter Verletzung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention zuständig. Bindende Entscheidungen gegenüber Ländern, die sich der interamerikanischen Gerichtszuständigkeit unterworfen haben. Fälle werden von gebundenen Staaten oder durch die Kommission vorgelegt.