02.06.2010

Festrede von Prof. Dr. Hajo Funke für Oleg Orlow/MEMORIAL

Prof. Dr. Hajo Funke - Laudatio auf Oleg Orlow/MEMORIAL

Festrede von Prof. Dr. Hajo Funke für Oleg Orlow/MEMORIAL

anlässlich der Verleihung des Victor-Gollancz-Preises für Menschenrechte

von der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen im Herbst 2009

Redebeitrag von Prof. Dr. Hajo Funke:

"Herzlichen Dank, dass Sie mich eingeladen haben, Memorial und Oleg Orlow zu preisen.

Das tue ich gerne und auch gerne, wenn Sie so wollen, im Namen dieser Organisation [der Gesellschaft für bedrohte Völker/GfbV, d. Red.] und in der Tat, ich kenne Sie nur seit 14 Jahren – nicht seit 40 wie Freimut Duve – und insbesondere Fadila in Sarajevo. Ich freue mich, dass sie hier ist und dass Sie hier sind!

Der Anlass ist aktuell genug, den die Gesellschaft zum Grund genommen hat, Oleg Orlow zu preisen. Sie sagt selbst, der Organisation Memorial gelingt es, sich mit den in der russischen Politik und Gesellschaft verdrängten Verbrechen des Stalinismus, auch wenn das weit zurück liegen mag, genauso zu beschäftigen wie mit gegenwärtigen Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus, insbesondere mit Schikanen gegen Flüchtlinge sowie unterschiedliche ethnische Gruppen in Russland. Die Organisation ist gleichzeitig Ansprechpartner für Opfer von Verschleppungen, Gewalt und Schikane. Sie kümmert sich gleichzeitig um Migranten und Flüchtlinge. Sie will gleichzeitig durch Aufklärung der stalinistischen Verbrechen und einer autoritären Vergangenheit zur Achtung der Individuen, ihrer Menschen- und Bürgerrechte und ihrer Menschenwürde beitragen und zur Entfaltung der individuellen Lebenschancen. Sie will beitragen zu einer aktiven Demokratie zu "Svobodoberut" , wie mir Oleg Orlow in der schönen langen Zugfahrt, die wir von Berlin [nach Göttingen, d. Red.] hatten, noch einmal unterstrichen hat.

Die Organisation MEMORIAL

"Memorial adressiert also die Aufarbeitung der Vergangenheit und die gegenwärtigen Probleme: das Fehlen einer unabhängigen Justiz in Russland, das Fehlen einer Menschenrechtssensiblen Öffentlichkeit und des Regierungssystems das nicht fähig ist, ein Mehr an Menschenrechten, wie es in der Verfassung steht, auch umzusetzen. Und deswegen ist es sogleich an die Politik adressiert und an die Gesellschaft. Für eine liberale politische Kultur, die diesen Namen auch verdient und die in den 1990er Jahren versucht worden ist, im Grunde mit Gorbatschow begonnen hat und nun stirbt – oder nur keimhaft durch eine Organisation wie Memorial am Leben erhalten wird. Deswegen sind diese Gruppe und diese Person dieses Preises würdig! Ich freue mich, Oleg Orlow, dass sie heute hier sind.

Ich muss den Anwesenden nicht sagen, welch ungeheure Herausforderung dies für Russland und die anderen Länder, in denen es Memorial-Gruppen gibt, wie die Ukraine, Moldawien und auch Kasachstan, bedeutet. Erst recht dann, wenn das, was ihr Ziel ist, gänzlich unzureichend von Gesellschaft, Politik und von der Öffentlichkeit geteilt wird. Das macht ihre eminente Gefährdung und ihre Überforderung aus. Niemand, keine Organisation, selbst die heutige geehrten und die geehrt werdenden, die in Brasilien wie die in Russland eben als Nichtregierungsorganisation, können alleine die Verhältnisse verändern, obwohl es ihr Ziel ist und ihr Ziel sein muss. Das macht die immanente Spannung, die jeweilige Gefährdung einer solchen Organisation und natürlich ihren Reiz aus, dass man es doch versucht. Dass, wie wir es im Zug diskutierten, wie es Albert Camus mal in dem schönen Essay geschrieben hat, es eine Sisyphos-Arbeit ist, die einen glücklichen Menschen voraussetzt. Der Mann ist als Sisyphos, der diesen Stein den Berg hochrollt, glücklich. Und Oleg Orlow hat zugestimmt. Schönen Dank, für diese Zustimmung!

Es kommt noch einiges hinzu. Sie [Memorial, d. Red.] tut dies vor allem, diese Arbeit in der menschenrechtlich katastrophalen Situation in und um Tschetschenien. Entführungen, Scheinhinrichtungen, Hinrichtungen und der Mord an Natalja Estemirowa bestimmen die Tagesordnung von Memorial, in Tschetschenien und darüber hinaus. Ich zitiere dazu ausführlich aus einem Protokoll des Tagesspiegel-Redakteurs, Moritz Garthman vom 5. August [2009].

Die Scheinhinrichtung Oleg Orlows

‚Irgendwann hören die Schläge auf. ‚Und, machen wir sie fertig?’ Der Mann mit einer schwarzen Maske auf dem Kopf wendet sich an seinen Kameraden. ‚Ja, aber hol noch die Schalldämpfer aus dem Auto.’ Dann wird es still in dieser Nacht in der Kaukasusrepublik Inguschetien. Nur das Stöhnen der vier Männer ist zu hören, die im Schnee sitzen und auf ihre Exekution warten. Plötzlich hören sie, wie Motoren angeworfen werden, wenige Minuten später sind sie allein auf einem Feld, ein paar Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt und etwa 1.500 Kilometer von Moskau, der Hauptstadt dieses Landes, das seit 1996 Mitglied des Europarats ist und die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet hat.

Die Scheinhinrichtung, die Oleg Orlow, Vorsitzender des Menschenrechtszentrums von Memorial, im November 2007 zusammen mit drei Journalisten über sich ergehen lassen musste, hat nicht zufällig Ähnlichkeit mit der Hinrichtung von Natalja Estemirowa. Die Menschenrechtler mischen sich in Dinge ein, von denen sie nach Meinung der Mächtigen die Finger lassen sollten.’

Eine Scheinhinrichtung ist dramatisch. Sie können machen, was sie wollen, es ist schwierig, sie zu verarbeiten. Und es kommt hinzu, Oleg Orlow weist daraufhin, auch wenn er Preise bekommt, etwa auf europäischer Ebene, dass die versagte Unterstützung durch große Teile der Öffentlichkeit, der Gesellschaft und vor allem der Politik im Inneren mehr als ein Dilemma für die Arbeitsfähigkeit von Memorial darstellt. Sie macht sie fast unmöglich und doch machen sie weiter. Gäbe es sie nicht, man müsste sie erfinden. Aber als eine in einer solchen Situation befindliche Organisation ist das ein Skandal. Memorial repräsentiert diesen Skandal. Sie ist der Bote jener schlechten Nachrichten mangelnder Legitimation angesichts von zu viel Gewalt im Inneren Russlands und das macht sie angreifbar. Deswegen wird sie angegriffen und deswegen ist sie notwendig. Memorial adressiert heute nicht zuletzt die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen einer in den Autoritarismus abgleitenden, sogenannten gelenkten, sogenannten imitierten, von manchen als ‚perfekte Demokratie’ bezeichneten Demokratie. Sie hält Gesellschaft und Politik den Spiegel vor. Sie steht im Fadenkreuz der Aufmerksamkeit grade jener, die mit ihren Formen der Gewaltherrschaft diesen Spiegel zertrümmern wollen. Als Spiegel ist diese Organisation gefährdet und wird drangsaliert.

Es gibt Hoffnung

Allerdings: Es finden sich Hoffnungsschimmer, wenn sie international, in Europa, in Deutschland, in Berlin angemessen genutzt werden. Es ist von Bedeutung und bleibt, wenn wiederholt, nicht ohne Wirkung im Land. Wenn ihr Präsident nicht nur etwa im Gespräch mit der Bundeskanzlerin, sondern vor einer weltweiten Öffentlichkeit für Menschenrechte eintritt, für eine Veränderung der Situation in Russland.

Ich weiß, und Oleg Orlow hat es mir noch einmal gesagt, es sind nur Reden. Aber als Reden, wenn sie wiederholt werden, auch gegen oder neben einem Apparat und neben dem System Putin, kann und wird dies, wenn wiederholt, Bedeutung haben und wird genutzt werden können. Das ist unsere gemeinsame Hoffnung, noch nicht die Realität. Reden von Großem haben immer eine Bedeutung, in die eine oder andere Richtung. Jedenfalls tut er [Russlands Präsident Dmitri Medwedew, d. Red.] das stärker als frühere Präsidenten und wir hoffen, dass er nicht wie frühere Präsidenten, Tschetschenien zur Stärkung seiner Macht missbraucht. Auch dies könnte die Potenziale des Gegenwärtigen so enorm eingegrenzten Pluralismus, der so enorm eingegrenzten verfassungsmäßig verabredeten Presse- und Meinungsfreiheit Schritt für Schritt, ich weiß, mit den beobachtbaren Rückschritten, stärken.

Ich weiß, das reicht nicht, aber es sind immerhin Signale, die in eine Richtung weisen, die für Besserung stünde. Und dies alles macht erst recht klar, welche Bedeutung die internationale Öffentlichkeit dabei hat. Das Verhalten von jemandem wie der gegenwärtigen Bundeskanzlerin, ob sie die Signale von Innen verstärkt und damit die innere Situation, auch die im Kreml, unter Druck setzt und sagt, was sie verabredet haben mit der Unterzeichnung der Verträge. Das könnte sie am 18 November [2009, d. Red.] in einer halben Woche beim EU-Russlands-Gipfel in Stockholm tun. Nämlich die Forderungen der Nichtregierungsorganisationen aufzugreifen und nun endlich die Ermittlungen zu erheben, die ihr [der Russischen Föderation, d. Red.] auferlegt wurden vom Europäischen Menschengerichtshof, und endlich umzusetzen, wozu sie sich selbst verpflichtet hat, und endlich eine Beschleunigung der Verfahren in Gang zu setzen.

Die Rolle Angela Merkels

Dies sind die Forderungen von Oleg Orlow. Dies sind die Forderungen, die wir teilen sollten und in einem Brief von der Gesellschaft, wenn sie denn morgen [im Rahmen ihrer Jahreshauptversammlung 2009, d. Red.] tagt, an die Bundeskanzlerin für ihr Treffen im EU-Russland-Gipfel vorbringen sollte, um jene Öffentlichkeit, die uns doch nichts kostet, im Gegensatz zu anderen, Nachdruck zu geben.

Dass wir in Deutschland und in Europa einen kleinen Teil dazu beitragen, dass Memorial aus der Gefährdungszone ihrer notwendigen menschenrechtlichen und demokratiefördernden Arbeit endlich herauskommt. Oder sollen wir warten bis zum nächsten Mord im Nordkaukasus? Bis zur nächsten Gefährdung von X und Y? Ich nenne bewusst keine Namen.

Es kostet doch nichts, außer einen gewissen Mut, zu sagen: ‚Medwedew, komm mal her, ich hab noch was zu sagen. Ich bin immerhin die Bundeskanzlerin. Wir mögen uns doch, wir treffen uns doch, wir sind uns doch einig: im gegenseitigen Nutzen in der Energiesicherung von Europa, Zentral-Asien und uns. Sie brauchen uns doch auch: Technologietransfer und dergleichen mehr. Reden wir doch mal fünf Minuten über die Menschenrechte.’ Nur fünf Minuten verlange ich von Frau Merkel dazu!

Ist es so unmöglich, dass die ZEIT, der SPIEGEL, FOKUS, ARD und das Göttinger Tageblatt auch nur ein wenig kontinuierlicher, von den anhaltenden Menschenrechtsverletzungen berichten und nicht erst nach dem ersten Mord? Vielleicht ein wenig wie BBC oder CNN? Gegenwärtig sind unsere Medien Teil des beschriebenen Skandals. Nicht nur die in Moskau!

Auf der politischen Ebene, wenn es schon nicht jemand wie Gerhard Schröder versucht, oder wenn er es tatsächlich versucht haben sollte, aber es ihm leider nicht gelingt, so vielleicht anderen Politikern. Den neuen Außenpolitikern der EU und Deutschlands oder der, nach außen jedenfalls, und für mich glaubwürdig, der darin offenkundig entschiedeneren Bundeskanzlerin.

Jedenfalls: Steter Tropfen höhlt den Stein! Aber ein bisschen mehr Tropfen können es schon sein! Vor dem Hintergrund des hier nur Andeutbahren zu Memorial ist es eine ungeheure Leistung, dass es Memorial und Organisationen wie sie heute existieren, überhaupt gibt. Sie [Memorial, d. Red.] eine Tradition fortführt und zugleich modernisiert, verändert, die in ihrer langen kulturellen Freiheitstradition, die es in Russland auch gibt, verankert ist. Ich bewundere sie und danke Ihnen im Namen der GfbV, wir sollten alles tun, um ihre Arbeit zu sichern, sie persönlich zu sichern, den Mitgliedern Ihrer Organisation mehr Durchschlagskraft in Gesellschaft und Politik zu verleihen.

Eine Mischung von Idealismus und Pragmatik

Schließlich, dass sie einen Preis bekommen, der nach Viktor Gollancz, und da ist sehr Schönes von Tilman Zülch [Mitbegründer und Bundesvorsitzender der GfbV Deutschland, d. Red.] genannt worden, mag uns einen Hinweis darauf bieten, unter welche Bedingungen die Arbeit dieser Organisation gestellt ist. Denn der Namensgeber dieses Preises war ein unabhängiger Geist. Der gleichwohl die Öffentlichkeit Großbritanniens und Europas gegenüber dem Nationalsozialismus und danach hat wirksam beeinflussen können. Als Pazifist, als Sozialdemokrat, als entschiedener Kämpfer gegen den antisemitischen Nationalsozialismus. Er war konkret genug, unter den Bedingungen des Zweiten Weltkriegs nicht auf der dogmatisch, kommunistischen Linie zu verharren, sondern für den Kampf gegen dieses nationalsozialistische Deutschland einzutreten, genauso wie er danach für eine kluge Aufarbeitungspolitik und gegen Ungerechtigkeiten, von wo immer sie kommen, eingetreten war. Er hat dies kontinuierlich und konsequent getan und hat gerade deswegen als jüdischer Humanist und Sozialdemokrat einen Einfluss entwickeln können, auf den nur wenige Humanisten oder Idealisten verweisen können.

Wenn es also eine Mischung von Idealismus und Pragmatik gibt, grade auch die Organisation Memorial steht dafür, dann ist es vielleicht diese Person, vielleicht lässt sich sogar von ihm noch einiges für die Intensivierung der Arbeit von CIMI [katholischer Indianermissionsrat in Brasilien, ebenfalls mit dem Victor-Gollancz-Preis 2009 ausgezeichnet, d. Red.] und Memorial schöpfen. Dann hätte die heutige Veranstaltung auch diesen Sinn für Sie, für ihre Arbeit. Wir sind jedenfalls froh, dass wir über diesen Weg mehr und Genaueres über die großartige Arbeit von Memorial und CIMI erfahren und verbreiten können.

Wir ehren einen Herausragenden, von jenen, denen wir das verdanken, nämlich Oleg Orlow."