16.05.2012

"Frankreich, Russland, Großbritannien, Deutschland - mitschuldig! Bosnien wiedervereinigen!"

Menschenrechtsaktion zu Beginn des Prozesses gegen Mladic

© Daniel Matt/GfbV

Zu Beginn des Prozesses gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladic vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) am Mittwoch in Den Haag erinnert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) mit einer Mahnwache vor dem Gerichtsgebäude an die Mitverantwortung europäischer Groß-mächte für die Verbrechen in Bosnien-Herzegowina 1992-1995. „Frankreich, Russland, Großbritannien, Deutschland - mitschuldig!“, klagt die Menschenrechtsorganisation auf großformatigen Transparenten an und fordert die Wiedervereinigung Bosniens.

„Zweifellos ist Serbien unter Führung von Slobodan Milosevic und Dobrica Cosic in engem Zusammenwirken mit dem Establishment der selbstproklamierten bosnischen Republika Srpska für die Durchführung des Genozids an den bosnischen Muslimen, die Massenvertreibungen und Massenvergewaltigungen sowie die Errichtung von Konzentrations- und Vergewaltigungslagern direkt verantwortlich“, sagt der GfbV-General-sekretär Tilman Zülch. Doch haben die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Russlandshaben 1992-1995 alles unternommen, um den Angriffskrieg der serbischen Armee und serbisch-bosnischer Milizen gegen Bosnien-Herzegowina zu unterstützen.“ Auch die deutsche Regierung unternahm nicht genug Anstrengungen, um den Völkermord zu stoppen. Zu den Opfern des Genozids zählten auch tausende serbische, kroatische und multiethnische Bosnier, die für ein gemeinsames Bosnien eingetreten waren.

Während Serbien und serbisch-bosnische Truppen über die gesamte Rüstungsindustrie Jugoslawiens verfügten und die Eingeschlossenen von Sarajevo, Bihac, Gorazde, Srebrenica und Zepa sich mit kümmerlichen Waffenbeständen wehren mussten, bestanden die europäischen Großmächte auf einem Waffenembargo, das die Opfer, nicht aber die Täter traf. Nur so konnte die Tragödie von Srebrenica geschehen, kritisierte die GfbV schon während des Krieges. „Als etwa Präsident Bill Clinton einen hohen Diplomaten nach Westeuropa entsandte, um mit den Regierungen über eine Intervention in Bosnien zu verhandeln, wurde dieser von Außenminister Klaus Kinkel nicht einmal empfangen.“

„Unsere Menschenrechtsorganisation weist jedoch auch auf die Mitschuld der USA hin, die mit dem Vertrag von Dayton das multiethnische Bosnien de facto in zwei Staaten geteilt und die Vertreibungen und ethnischen Säuberungen somit festgeschrieben haben“, sagt Zülch. „Es wurden keinerlei ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um die Rückkehr von fast zwei Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen in ihre jeweiligen Heimatorte durchzusetzen. Das Nicht-Handeln der europäischen „Großmächte“ zementiert die bosnische Teilung und legitimiert die durch den Genozid geschaffenen Strukturen der Republika Srpska.“

Als besonders makaber bezeichnet es der Menschenrechtler, dass mehr als 200.000 bosnische Flüchtlingen durch die Innenministerien der deutschen Bundesländer nach Übersee abgeschoben wurden. Die deutsche Bevölkerung hatte in ihrer großen Mehrheit die Aufnahme von 320.000 bosnischen Genozidflüchtlingen begrüßt. Doch wohlwissend, dass eine Rückkehr in die Heimatorte der Vertriebenen nicht durchgesetzt werden konnte, verlagerten die Bundesregierung und deutsche Behörden das Flüchtlingsproblem in die „neue Welt“. Deutschland vertrieb die Genozidflüchtlinge ein zweites Mal, nach Westaustralien, Kanada oder in die USA.

„An die internationale Gemeinschaft, die europäischen Regierungen, insbesondere die Mitgliedsländer der Europäischen Union, aber auch an die USA, appelliert die Gesellschaft für bedrohte Völker, ihre Verantwortung gegenüber dem multi-ethnischen und multi-religiösen Bosnien-Herzegowina und seiner weitgehend verelendeten Bevölkerung wahrzunehmen und endlich eine echte Wiedervereinigung durchzusetzen“, sagt Zülch. Für die Deutschen sollte die eigene Wiedervereinigung ein besonderer Auftrag sein, dass auch durch deutsches Nicht-Handeln und Versagen zerstörte Land wieder zusammenzuführen. „Das wiedervereinigte Bosnien muss dann umgehend Mitgliedsstaat der Europäischen Union werden.“

Die Gesellschaft für bedrohte Völker erinnert daran, dass bedeutende jüdische Persönlichkeiten vor der internationalen Öffentlichkeit für die Opfer des Völkermordes in Bosnien eintraten. Zu ihnen gehörten Simon Wiesenthal, der Kommandeur der Freiheitskämpfer des Warschauer Ghettos Marek Edelman, Elie Wiesel, Alain Finkielkraut, Bernhard-Henri Lévy, Susan Sonntag, André Glucksmann und Roy Gutman. Sie haben das Schweigen oder die Mitschuld Europas immer wieder beklagt und Konsequenzen aus dem Holocaust gefordert.

Der Genozid des Milsovic-Regimes in Bosnien Herzegowina 1992-1995

1. Errichtung von über 100 Konzentrations-, Internierungs- und Vergewaltigungslagern mit über 200.000 zivilen Häftlingen

2. Ermordung von vielen tausend Häftlingen in Konzentrationslagern wie Omarska, Manjaca, Keraterm, Trnopolje, Luka Brcko, Sušica und Foca

3. Systematische Verhaftung und Ermordung von Angehörigen der akademischen und politischen Eliten.

4. Flucht und Vertreibung von etwa 2,2 Millionen Bosniern und ihre Zerstreuung über vier Erdteile

5. Viele tausend, von keiner Institution gezählte und nicht in die Statistiken eingegangene Todesopfer unter Kindern, Alten, Kranken und Verwundeten während Flucht und Vertreibung und deren Folgen

6. Einkesselung, Aushungerung, Beschießung und teilweise Liquidierung von 500.000 Bosniern in so genannten UN-Schutzzonen bis zu vier Jahren (Tuzla, Goražde, Srebrenica, Žepa und Bihac).

7. Fast vierjähriges Bombardement der sechsten so genannten UN-Schutzzone Sarajevo mit etwa 11.000 Toten, darunter 1.500 Kinder.

8. Massaker und Massenerschießungen in zahlreichen Gemeinden und Städten Nord-, West- und Ostbosniens (Posavina, Raum Prijedor und Podrinje).

9. Planmäßige Zerstörung hunderter Dörfer und Stadtteile.

10. Vollständige Zerstörung der materiellen islamischen und weitgehend auch der katholischen Kultur, darunter 1 189 Moscheen und Medresen und bis zu 500 katholische Kirchen und Gemeindehäuser sowie 38 orthodoxe Kirchen.

11. Verschleppung und Ermordung tausender Zivilisten. Sie wurden irgendwo verscharrt. Noch immer werden etwa 8.000-13.000 Vermisste gesucht. Sie müssen exhumiert und identifiziert werden.

12. Geiselnahme und Missbrauch von 284 UN-Soldaten als menschliche Schutzschilde

13. Vergewaltigung von mehr als 20.000 bosnisch-muslimischen Frauen in- und außerhalb der Vergewaltigungslager

14. Ermordung von 8 372 Bosniaken in der Stadt Srebrenica – Männer und Jungen, unter ihnen auch 560 Frauen - und deren Verscharrung in Massengräbern