26.06.2008

Indigene Völker verteidigen neue Rechte gegen alte Machtstrukturen

Menschenrechtsreport Nr. 55: Bolivien

1. Zusammenfassung

Bolivien, eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, steht mitten in einem erbitterten Machtkampf zwischen der Regierung unter dem indigenen Präsidenten Evo Morales, die mit umfassenden Reformen die rechtliche und wirtschaftliche Stellung der indigenen Bevölkerungsmehrheit deutlich stärken will, und der bürgerlichen, nicht-indigenen Opposition in den sogenannten Halbmondstaaten Pando, Beni, Santa Cruz und Tarija im östlichen Tiefland Boliviens. Diese vier Bundesländer (Departments) haben sich inzwischen mit Referenden für Autonomiestatute ausgesprochen und sind damit deutlich von der Zentralregierung abgerückt. Die Polarisierung zwischen dem armen indianischen Andenhochland im Westen Boliviens, in dem sich die politische Macht konzentriert, und dem reichen von Europäern und Mestizen geprägten Tiefland, in dem sich die wirtschaftliche Macht ballt, hat damit eine neue Qualität gewonnen. Evo Morales sah sich veranlasst, nun seinerseits die Machtfrage zu stellen. Voraussichtlich am 10. August 2008 will er die Bolivianer darüber abstimmen lassen, ob er im Amt bleiben soll oder nicht.

Die indigenen Organisationen äußern sich geschlossen gegen die Autonomiebestrebungen der östlichen Bundesländer. Durch diese stehen ihre Rechte und die neu ausgearbeitete Verfassung auf dem Spiel. Sie setzen sich für die Vollendung des Verfassungsprozesses ein, an dem sie erstmalig beteiligt waren.

Die indigenen Völker bilden mit einem Anteil von 62 Prozent an der Gesamtbevölkerung von geschätzt 9.427.219 Einwohnern (Juli 2003, Angaben der Botschaft Boliviens in Deutschland) die Mehrheit der bolivianischen Bevölkerung. Offiziell anerkannt sind 36 Völker von denen die Quechua mit 30,7% und die Aymara 25,2% die beiden größten sind. Beide leben v.a. im westlichen Hochland der Anden Boliviens, aber auch in den Städten und in den Tälern des Tieflands im Osten. Dort sind die indigenen Völker eine Minderheit von 17 %. Die größten Gruppen sind die Chiquitano (3,6%), Guaraní (2,5%) und die Mojeno (1,4%).

Der Wohlstand ist in Bolivien sehr ungleich verteilt. 82 % der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (UNDP-Bericht 2004), in manchen ländlichen Gebieten des Hochlands sind es sogar mehr als 90%. Die Ärmsten der Armen sind die Ureinwohner. Ungleich verteilt ist auch das Land. So gehören 90 Prozent der v.a. indigenen Bevölkerung nur zehn Prozent des Landes, während 90 Prozent des Landes in den Händen von Großgrundbesitzern sind.

Im Tiefland drangen Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt Kautschukproduzenten, Großgrundbesitzer, Viehzüchter und schließlich Agrar- und Forstindustrie in indianisches Land vor, das sie sich illegal aneigneten. Die indigenen Völker, die dort zuvor vom Jagen, Sammeln und Fischen gelebt hatten, mussten nun für diese Siedler arbeiten oder wurden vertrieben. Nach dem 2. Weltkrieg kam eine neue Einwanderungswelle mit Europäern, die sich ebenfalls Land der Ureinwohner aneigneten, ohne dass es darüber eine Kontrolle gegeben hätte. Die Zuwanderung von Siedlern indigener Gruppen aus dem Hochland, die seit den 1960-er Jahren ins Tiefland gekommen sind, führte zu weiteren Landkonflikten.

Nach Angaben der Behörde für Landreform INRA sind im Tiefland 35 Familien in Besitz von Flächen, deren Größe jeweils zwischen 15.000 und 290.000 ha liegen. "Tierra y territorio" – "Zugang zu Land und Rohstoffen und Anerkennung ihrer Landtitel", ist daher eine zentrale Forderung der dortigen indigenen Organisationen.

Im Hochland hatte eine Agrarreform bereits 1953 unter Präsident Victor Paz Estenssoro von der Nationalistischen Revolutionären Bewegung dazu geführt, dass es weniger Großgrundbesitz gibt. Den indigenen Bauern gehören dort heute aber aufgrund der Erbteilung meist nur kleine Landgebiete, die "minifundios" (1 ha pro Familie). Bolivien ist reich an natürlichen Rohstoffen. Im Hochland gibt es Silber, Zink, Gold und Blei, im Tiefland Erdgas, Erdöl, Wasser(kraft) und Holz. Boomsektor des Landes ist das Bundesland Santa Cruz, das am 4. Mai als erstes über eine Autonomie abstimmen ließ. Von dort kommen 34 % aller Exporte Boliviens. Hier im Südosten befinden sich auch die größten Öl- und Gasvorkommen des Landes. Die Kontrolle darüber will man nicht an La Paz abgeben. Santa Cruz fordert Selbstbestimmung bei den Finanzen, der Justiz, der Bildung, der Polizei und der Landverteilung. "Die cruzenische Elite besteht vor allem aus Großgrundbesitzern und Agrarunternehmern, die vom Rechtsstaat wenig halten. Ihre Wirtschaft wächst nicht durch Produktivität, sondern oft durch illegale Ausdehnung ihrer Ländereien. Sie fordern, dass künftig nicht mehr La Paz, sondern der Gouverneur von Santa Cruz Landtitel vergeben soll." (Die Tageszeitung, 21./22.Juni 2008)

Ein größerer Gegensatz zu den Grundideen der Verfassungsreform, die ein zentraler Bestandteil der Regierungspolitik von Präsident Morales ist, ist kaum vorstellbar. Kernpunkte sind eine Landreform und eine Umverteilung der Kontrolle über die Rohstoffe. Mit der Agrarreform von 1996 wurde unter der Regierung von Gonzalo Sánchez de Lozada (1993 - 1997) die Kategorie des "Gemeinschaftlichen indigenen Landbesitzes´" (TCO - Tierras Comunitaria de Origen), d.h. offiziell und rechtlich anerkannter indigener Gebiete, eingeführt. Die Umsetzung der Reform, mittels der kollektiver Landbesitz und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen der indigenen Völker anerkannt und Landtitel vergeben werden sollten, war jedoch nicht so erfolgreich wie nötig. Auf Grundlage der Agrar-Gesetzgebung haben indigene Völker nach Angaben der INRA zwischen 1996 und 2007 Landrechtstitel über elf Millionen Hektar bekommen, von denen 3,4 Mio. im Hochland und 7,6 Mio. im Tiefland liegen.

Im Rahmen der Agrar- und Landreform, die die Morales-Regierung im November 2006 verabschiedet hat, sollen nun illegal angeeignete Ländereien zurückgegeben werden und es soll der kollektive Landbesitz der indigenen Völker gefördert werden. TCOs können bei der INRA Anträge auf die Zuteilung von Land stellen. Dann muss die INRA entscheiden, ob und wenn wie viel Land sie zuweist. Geplant ist, zunächst solche Flächten eines Großgrundbesitzes zu verteilen, die ungenutzt brach liegen und nur zu Spekulationszwecken gehalten werden. Insbesondere in den Bezirken Santa Cruz, Tarija, Pando und Beni kam es darüber zu heftigen Konflikten mit den Großgrundbesitzern.

Der Verfassungsentwurf wurde am 9. Dezember 2007 von der Regierung verabschiedet, allerdings in Abwesenheit der Opposition, die nun die Legitimität der Verfassung infrage stellt. Daher soll jetzt das bolivianische Volk über Annahme oder Ablehnung der Verfassung abstimmen. Einen Termin für diese Abstimmung gibt es noch nicht.

Bolivien hat bereits 1991 die ILO-Konvention 169, das wichtigste bindende Rechtsdokument für die Grundrechte indigener Völker, und alle grundlegenden internationalen Vertragswerke der Vereinten Nationen und der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) ratifiziert. Außerdem hat es im September 2007 als erstes Land die UN-Deklaration für die Rechte indigener Völker unterzeichnet und am 7. November 2007 alle 46 Artikel dieser allgemeinen Erklärung mit dem Gesetzesartikel 3760 in seine nationale Gesetzgebung aufgenommen.

Aber noch ist die Regierung nicht in der Lage, diese pro-indianischen Gesetze auch wirksam durch- und umzusetzen. Die schlimmsten Missstände haben die Tieflandvölker zu beklagen. Die Guarani in Santa Cruz beispielsweise warten seit nun mehr als zehn Jahren auf die Anerkennung ihres Landtitels. Einige Guarani-Gemeinschaften mit zusammen etwa 7.000 Angehörigen leben unter Bedingungen, die mit Sklaverei vergleichbar sind. Sie müssen für Großgrundbesitzer arbeiten, die das Land nutzen, auf dem sie einst selbst lebten. Die Indianer bekommen wenig oder keinen Lohn, können sich nicht frei bewegen, bekommen Nahrung und Kleidung zugeteilt. Die Guaraní-Organisation Asamblea del Pueblo Guaraní APG hat sich bereits an die Interamerikanische Menschenrechtskommission (IACHR) gewandt, um die Rechte dieser Familien und Gemeinden auf Land und Freiheit einzuklagen. Sie wirft der Regierung Morales vor, ihr Gesetz 29292 gegen Zwangsarbeit, Knechtschaft und andere Formen von Sklaverei, dessen Paragraph 6 sich direkt auf die Guaraní bezieht, nicht schnell genug umzusetzen. Am 25. April 2008 appellierte die IACHR an den bolivianischen Staat, unverzüglich Maßnahmen zur Beendigung der Sklaverei bei den Guarani zu ergreifen, die Agrarreform umzusetzen und alle Hindernisse zu überwinden, die dem Zugang zum Land entgegenstehen.

Problematisch sind auch die Rahmenbedingungen der Rohstoffausbeutung. Obwohl Bolivien die ILO-Konvention 169 schon 1991 ratifizierte, setzt es das darin enthaltene verbindliche Regelwerk nicht durch, das vor dem Beginn von Maßnahmen, welche die Lebensverhältnisse indigener Völker berühren, die ausführliche Information, Befragung und Einverständniserklärung der betroffenen indigenen Völker festschreibt.

Besonders verletzlich sind die kleinen Völker, die in Ostbolivien teilweise in freiwilliger Isolation leben. Sie haben keine gesicherten Landtitel und sind daher abhängig von der Toleranz und dem Respekt der Gruppen, in deren Gebiet sie sich aufhalten. Große Industrieprojekte auf solchem Land gefährden sie existenziell.

 

2. Forderungen der Gesellschaft für bedrohte Völker

An den Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen zu den Rechten indigener Völker, Prof. James Anaya:

Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen auf Vertreterinnen und Vertreter indigener Völker und Menschenrechtler, insbesondere von Inhabern öffentlicher Ämter sowie Ermittlungen gegen die Verantwortlichen der Übergriffe in Sucre (Mai 2008) und La Cordillera (Februar und April 2008) und Unterstützung der Opfer

An die Regierung Boliviens:

Sofortige Umsetzung der Empfehlungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zur Beendigung der Versklavung bei den Guaraní;

An die Bundesregierung bzw. das BMZ:

Hilfe für den Aufbau neuer indigener Medien zur Förderung des Demokratieprozesses und der gesellschaftlichen und politischen Integration der indigenen Völker;

Entsendung internationaler Konfliktschlichter und Beobachter zur Entschärfung der Krise und zum Schutz der Menschenrechte.


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