13.06.2012

Irgendwo im Nirgendwo: Zu Gast bei einer Flüchtlingsfamilie aus der Westsahara

Aus bedrohte völker_pogrom 269-270, 1/2012

Ein Arabisch-Sprachkurs in der Sahara. Diese einmalige Erfahrung wollte sich Paulina Rinne nicht entgehen lassen. Im Herbst 2010 fuhr sie mit dem Zentrum für Europäische und Orientalische Kultur nach Algerien. Dort lebten die Sprachkursteilnehmer einen Monat lang jeweils zu zweit oder zu dritt in Flüchtlingsfamilien aus der Westsahara im Lager Al-`Uyun und drückten die Schulbank.

Von Frankfurt aus flogen wir erst in die algerische Hauptstadt Algier und nach einem langwierigen Zwischenstopp weiter nach Tindouf. Aus dem Flugzeug steigend, schlug uns die - stehende Hitze ins Gesicht. Es war ein Uhr in der Nacht und ich konnte kaum sehen, wo wir waren: ein kleiner Flughafen und sonst nichts. Wir hätten in der Wüste oder auch am Meer sein können. Auf der ca. halbstündigen Fahrt ins Flüchtlingslager wurden wir zweimal von bewaffnetem Militär kontrolliert. Die Dunkelheit ließ das ganze Szenario noch unheimlicher erscheinen. Im Flüchtlingslager angekommen, bogen wir auf eine Sandstraße ab. Unser Wagen rumpelte über die „Waschbrettpiste“ – wir waren hier tatsächlich in der Wüste. Irgendwo im Nirgendwo stiegen wir aus und obwohl unsere Gastfamilien uns noch nie zuvor gesehen hatten, wurden wir äußerst herzlich begrüßt. Riesige Kissen, ähnlich wie Sofas, wurden für uns nach draußen gebracht. Auf diesen Kissen sollten wir während unseres Aufenthaltes dann jede Nacht schlafen, während sich die Familie auf Teppichen bettete.

Morgens konnten wir endlich sehen, wo wir waren: soweit das Auge reichte nur Sand, aber kein schöner feiner Sand, sondern Geröllwüste, und darin Lehmhütten und vereinzelt große Zelte. Das war also Al-`Uyun. Ab und zu fuhr ein alter Jeep durch die karge Landschaft und wirbelte eine Staubwolke auf. Hier und da sah ich auch eine Ziege. Wie sich später herausstellen sollte, wurden die Ziegen nachts in Drahtkäfigen untergebracht, die einfach aus einem Ring aus Maschendraht bestanden. Durch diese Käfige, die weit in der Landschaft verteilt waren, erschien mir das Gesamtbild noch elender. Diese Ziegenställe verbreiteten für einen meiner Mitreisenden „Weltuntergangsstimmung“. Die Lehmhütten – der Geröllwüste farblich angepasst - standen nicht wie Reihenhäuser nebeneinander, sondern waren wie kleine Höfe jeweils um einen Mittelpunkt herum angeordnet. Unsere Familie besaß ein paar Lehmhütten, eine Blechhütte, einen Ziegenstall und zwei Toilettenhäuschen. Eine Lehmhütte mit einem Kühlschrank, zwei Herdplatten und einer Arbeitsfläche wurde als Küche benutzt. Auf dem Hof standen zwei Solarplatten, über die tagsüber Autobatterien aufgeladen wurden. Mit ihrem Strom wurden die technischen Geräte betrieben, darunter Fernseher, Handys und natürlich Lampen.

Während wir tagsüber immer in der gerade neu gebauten „Lehmhüttenschule“ waren, besuchten unsere zwei kleinen Gastgeschwister die „Grundschule“ in unserem Viertel. Eine unserer älteren Gastschwestern war in Algier auf einem Internat und einer unserer Gastbrüder war Verkäufer in einem der vielen, immer gleichen Läden in der Einkaufsstraße des Flüchtlingslagers. Mehrere Männer aus unserer Gastfamilie, die wir aber selbst nie kennen lernten, arbeiteten für die POLISARIO in den befreiten Gebieten. (Wie uns oft beschrieben wurde, sollen die befreiten Gebiete und besonders die noch besetzten Küstenregionen paradiesisch schön sein – im Gegensatz zum Flüchtlingslager). Die übrigen zehn erwachsenen Personen saßen morgens noch auf dem Hof, später dann in den Lehmhütten und kochten Tee, schauten sich im Fernsehen Soaps an und unterhielten sich.

Wenn wir um ein Uhr mittags aus der Schule kamen, wartete schon das Mittagessen auf uns. Es gab Linsen, Reis oder Couscous mit wenig Gemüse und Fleisch. Reis und Konserven konnte man in der Einkaufsstraße kaufen. Außerdem erhielt jede Familie einmal im Monat eine Lieferung von verschiedenem Obst und Gemüse sowie Wasser, das in großen Containern auf dem Hof gelagert wurde.

Nach zwei Wochen in Al-`Uyun bekam ich einmal solche schlimmen Magenkrämpfe, dass man mich ins Krankenhaus des Flüchtlingslagers brachte und untersuchen ließ. Der behandelnde Arzt war Saharaui und hatte im Ausland Medizin studiert. Er verschrieb mir kostenlos Antibiotika (ohne Beipackzettel), wollte mich sogar stationär aufnehmen und intravenös mit Schmerzmitteln versorgen.

Weil es immer etwas über 50 Grad heiß war, uns der Schweiß schon in der Schule und erst recht auf dem kurzen Heimweg von nur drei Minuten sowie beim Essen in Strömen lief, blieb uns nichts anderes übrig als zu schlafen. Jeden Tag hielten wir wegen der erbarmungslosen Hitze also mit der gesamten Familie Mittagsschlaf in einer der Hütten. Abends trugen wir dann die Teppiche wieder nach draußen in die angenehm warme Dunkelheit, aßen zu Abend und saßen bis zwölf oder ein Uhr nachts zusammen, tranken Tee nach saharauischer Tradition.

War ich anfangs sehr überrascht über die gute medizinische, technische und hygienische Ausstattung und die sehr gute Infrastruktur der Camps, befanden wir uns doch mitten im Nirgendwo. Später verstand ich dann, dass die Menschen in diesen Flüchtlingslagern nicht unter einer fehlenden Grundversorgung litten, sondern an der Leere jedes einzelnen Tages und an der Schwierigkeit, diese mit etwas „Sinnvollem“ zu füllen. Selbst für uns war der tägliche Schulbesuch Beschäftigungstherapie. Unsere Lehrerin erzählte uns einmal von einem kleinen Mädchen, das unbedingt Journalistin werden und die Welt bereisen wollte. Nachdem das Mädchen erwachsen geworden war und sogar Englisch studiert hatte, musste sie feststellen, dass sie die Welt niemals würde bereisen können und für immer in der Sahara festsäße. Sie beschrieb die Wut und Verzweiflung, die aus dieser Hilflosigkeit hervorgingen und sich gegen alles und nichts richteten. Am Ende wurde das Mädchen Lehrerin im Flüchtlingslager.

Während unseres Aufenthalts in Al-`Uyun mussten wir feststellen, dass jeder Tag ein neues und scheinbar nicht enden wollendes, langweiliges Warten und Ausharren darauf war, dass der in Aussicht gestellte Volksentscheid über die Zukunft der Westsahara endlich durchgeführt wird. Das Gefühl der Ohnmacht und Wut, seit 30 Jahren allein und verlassen mitten in diesem unwirtlichen Landstrich zu campieren, sein Leben nicht aus eigener Kraft bestreiten zu können, sondern ganz und gar auf Hilfsorganisationen angewiesen zu sein (wie mir unsere Gastmutter einmal anvertraute, sei das alles - dabei zeigte sie über unseren Hof - nicht möglich gewesen ohne Spenden), die dort sogar die Gehälter der Politiker zahlen, ist allgegenwärtig.


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