14.05.2013

Kanadas Indigene wehren sich

Medienwirksame Protestaktionen

Aus bedrohte völker_pogrom 274, 6/2012

„Idle No More“ – „Nicht länger tatenlos“ – diesen Namen haben Indigene Kanadas ihrer Basisbewegung gegeben, die sie im November 2012 gegründet haben. Sie wehren sich gegen die Verabschiedung von Gesetzen, die ihre angestammten Rechte endgültig außer Kraft setzen, und machen mit verschiedenen Aktionen auf den Ausverkauf von „Mutter Erde“ aufmerksam.

Die Angehörigen der First Nations in Kanada sind nach dem „Indian Act“ von 1876 Menschen zweiter, wenn nicht sogar dritter Klasse. Das „Department of Indian Affairs and Northern Development“, „Ministerium für indigene Angelegenheiten und Entwicklung im Norden“, bestimmt, wer Indigener ist und wer nicht. Es legt ihre Rechte und Verhaltensweisen fest und beschneidet damit ihre Menschen- und Völkerrechte. 1982 bestätigte die kanadische Verfassung zwar Artikel 35, der den Indigenen ihren Ureinwohnerstatus und ihre angestammten Landrechte bescheinigt und ihnen Mitspracherecht bei der Nutzung der Ressourcen garantiert.

Doch Anfang Dezember 2012 hat die kanadische Regierung die Gesetze „Bill C-45“ (Jobs and Growth Act 2012“, Gesetz zur Schaffung von Arbeitsplätzen und wirtschaftlichem Wachstum) und Bill C-38 (Nivellierung des Fischereiabkommens) verabschiedet, ohne die First Nations anzuhören. Weitere Gesetzesentwürfe zu Wasserrechten und Änderungen des „Indian Act“ sind geplant. Bill C-45 soll das Land für ausländische, insbesondere für asiatische, europäische und chinesische Investoren öffnen. Das Gesetz senkt bestehende Umweltstandards auf ein Minimum: So wird die staatliche Aufsicht über die umweltverträgliche Nutzung auf drei Meere, 97 Seen und 62 Flüsse begrenzt. Alle anderen, etwa drei Millionen Gewässer in Kanada werden „dank“ Bill C-45 in die Hand von Unternehmen gegeben, die Nutzungsweise und Umweltstandards selbst festlegen dürfen. Zudem werden Landrechte neu vergeben, der Abbau von Rohstoffen erleichtert und der Artenschutz gelockert. Auch darf das Verkehrsministerium Projekte durchsetzen, die die Interessen der First Nations ignorieren.

Nicht umsonst nennen indigene Aktivisten die neuen Gesetze der Regierung von Premierminister Stephen Harper „Harpers First Nation Termination Plan“, „Harpers Plan zur Auslöschung der First Nations“: Der Status der First Nations als Ureinwohner mit allen zugesicherten Rechten soll aufgehoben und sie sollen zu „Aboriginal Canadiens“ erklärt werden. Nach dem für 2013 geplanten „First Nations Private Ownership Act“ (FNPOA, Gesetz über den Privatbesitz der First Nations soll zudem die Stammesstruktur aufgebrochen, das Reservatsland unter den Indigenen aufgeteilt und zu bedingungslosem Eigentum des Einzelnen gemacht werden. Jeder Indigene kann dann selbst entscheiden, ob er sein Land behält oder es verkauft. Darüber hinaus sollen die Reservate zu Kommunen umstrukturiert werden, die allen Kanadiern und Einwanderern offenstehen und in denen die kanadische Gesetzgebung gilt. Um die Gesetze durchzubringen, versucht Ottawa, die Indigenen einzuschüchtern, anstatt ordentlich zu verhandeln. Interessengemeinschaften der First Nations, die sich gegen Bill C-45 stellen, erhalten keine oder nur noch unzureichende finanzielle Zuwendungen. Für regional arbeitende politische und traditionelle Initiativen ist somit eine Vertretung Indigener Interessen nicht mehr möglich. Dieses Vorgehen der kanadischen Regierung hat die Indigenen nun zum gemeinsamen Handeln mobilisiert.

Im November 2012 haben vier Frauen aus der kanadischen Provinz Saskatchewan die Basisbewegung „Idle No More“ initiiert. First Nations, Métis , Inuits und Umweltverbände sind in der Bewegung vertreten, um gegen Harpers Politik zu demonstrieren. Seit Dezember 2012 haben sich Tausende von Bürgern in verschiedensten Aktionen solidarisiert. Mit Rundtänzen, Flashmobs – über soziale Plattformen verabredete, zeitlich sehr kurz begrenzte Aktionen –, Gesängen, Trommeln und Protestmärschen machen die Indigenen in allen Provinzen Kanadas und in vielen US-Staaten friedlich auf ihre menschenunwürdigen Lebensbedingungen aufmerksam. Die Demonstranten organisieren Straßensperren und blockieren Bahngleise. Das führt zwar zu erheblichen Verkehrsproblemen, aber auch automatisch zu einer wirksamen Medienpräsenz.

Die First Nations – das haben viele Kanadier längst begriffen – sind aufgrund ihrer Landrechte die Einzigen, die derzeit den Ausverkauf von „Mutter Erde“ noch stoppen können. Aufgrund der flächendeckenden Berichterstattung und zunehmenderinternationaler Solidarität gerät die Regierung immer mehr unter Druck. Mittlerweile sind auch weite Teile der kanadischen Bevölkerung beunruhigt, dass Harper nicht bereit ist, seine Gesetzesvorlage zu Bill C-45 mit den indigenen Gremien und Häuptlingen der verschiedenen Provinzen zu besprechen.

Die Protestaktionen von „Idle No More“ werden so lange weitergehen, bis die kanadische Regierung die Interessen der First Nations berücksichtigt. Im Dezember 2012 trat Chief Theresa Spence von den Attawapiskat in den Hungerstreik, den sie sechs Wochen später beendete, nachdem zwei politische Parteien der Regierung sowie der Dachverband der First Nations AFN (Assembly of First Nations) Redebereitschaft signalisiert hatten. Die Forderungen des AFN unter Chief Shawn Atleo sind eindeutig:

1. Verhandlungen auf Augenhöhe

2. Aufrechterhaltung existierender Landrechte sowie eine zeitnahe Erarbeitung und unabänderliche Vereinbarung von Nutzungsrechten

3. Gleichberechtigte Mitsprache bezüglich der Rohstoffgewinnung

4. Übereinstimmung der Gesetzesänderungen mit Paragraph 35 der kanadischen Verfassung von 1982 und der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker (UNDRIP) sowie die Überarbeitung der Gesetze Bill C-45 und Bill C-38

5. Beendigung des gängigen ungerechten Finanz-Transaktionssystems und der ineffektiven Kreditvergabe

6. Sofortige Bereitstellung einer staatlichen Kommission, die den Verbleib von rund 600 als vermisst geltenden Frauen aufklärt

7. Aufbau eines Indigenen Schulwesens, das in angemessener Weise die Indigenen Sprache und Kultur lehrt und ein sicheres und stabiles Umfeld bietet

Die traditionellen First Nations haben immer schon um ihre Rechte gekämpft, sie waren nie untätig. Allein aber können sie nicht genug bewegen. So machen die „Idle No More“-Aktionen deutlich, dass jetzt die gesamte indigene Basis um ihre Rechte kämpft. Und zwar mit eigener Stimme und eben nicht nach Vorgabe von Anführern – zu denen auch Chief Shawn Atleo gehört –, die zwar von den First Nations gewählt, aber auch stark vom kanadischen Staat beeinflusst werden.

Die First Nations solidarisieren sich untereinander und sie müssen es, wollen sie in ihrem Land nicht nur überleben, sondern ihre wichtige Position als „Keeper of the Land“, „Bewahrer des Landes“ verteidigen und nach ihren Möglichkeiten ausbauen.

Zur Autorin

Christina Fischer ist Mitglied der GfbV-Regionalgruppe Hamburg. Sie beschäftigt sich seit 30 Jahren mit der Situation der Indigenen in Nordamerika und Kanada.

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