15.01.2007

Schwere Menschenrechtsverletzungen in der Westsahara

Menschenrechtsreport Nr. 45: Eine Chronik des Jahres 2006

Zusammenfassung

Mindestens 685 Menschen wurden im Jahr 2006 in der von Marokko völkerrechtswidrig besetzten Westsahara aus politischen Gründen inhaftiert. Bei der Niederschlagung von Protesten der Zivilbevölkerung gegen die marokkanische Herrschaft wurden mindestens 206 namentlich bekannte Personen im vergangenen Jahr verletzt.

In dieser Chronik der Menschenrechtsverletzungen sind nahezu alle Festgenommenen und Verletzten namentlich erfasst, unter Angabe des Ortes und Datums ihrer Verhaftung oder Verletzung. Einige Personen wurden sogar mehrfach innerhalb weniger Monate inhaftiert. Besonders betroffen von der Repression sind jüngere Saharauis. Während im Jahr 2005 noch hohe Haftstrafen weltweit Aufsehen erregten, so sind die marokkanischen Behörden inzwischen dazu übergegangen, Kritiker der marokkanischen Besatzungspolitik vor allem kurzzeitig zu verhaften. Mehr als drei Viertel der Verhafteten werden innerhalb von 48 Stunden wieder freigelassen. Zuvor werden sie zumeist während langer Verhöre gefoltert, bedroht und eingeschüchtert.

Zwar begnadigte König Mohamed VI. 42 saharauische politische Gefangene im April 2006, doch angesichts der hohen Zahl von neuen politisch motivierten Verhaftungen im letzten Jahr hat die Begnadigung nicht zu einer Verbesserung der Menschenrechtslage beigetragen. Im Gegenteil, mehr als 20 der ehemaligen politischen Gefangenen wurden inzwischen wieder inhaftiert und die Repression in den Städten El Aaiun, Smara und Bojador ist heute größer denn je zuvor seit Beginn der "saharauischen Intifada" im Mai 2005. Auch in den marokkanischen Städten Rabat und Agadir werden immer wieder Saharauis festgenommen. Verhaftet oder entführt werden auch Menschenrechtsverteidiger. In einem Falle versuchten die Sicherheitskräfte sogar eine Menschenrechtlerin für psychisch krank erklären zu lassen.

Sippenhaft ist weit verbreitet. Immer wieder werden Familienangehörige in Gewahrsam genommen, um polizeilich gesuchte Personen festnehmen zu können oder um Druck auf die Familien auszuüben. So wurden mehrfach Väter verhaftet, um durchzusetzen, dass ihre Kinder zukünftig nicht mehr an Demonstrationen gegen die marokkanische Herrschaft teilnehmen.

Mehrmals wurden Kinder und Jugendliche verhaftet und zum Teil auch gefoltert. Folter ist in allen Polizeistationen und Militärkasernen an der Tagesordnung. In Dutzenden Fällen mussten auch kurzzeitig Inhaftierte sofort nach ihrer Freilassung im Krankenhaus eingeliefert werden, da sie im Polizeigewahrsam schwere Verletzungen erlitten hatten. Ärzte und Freigelassene berichten von gebrochenen Knochen und Rippen, Schädeltrauma, Bewusstlosigkeit, Brandverletzungen, Prellungen, der Folterung von Genitalien, Schlägen und Schlafentzug.

Aufgrund der massiven Menschenrechtsverletzungen muss befremden, dass gerade das EU-Mitglied Frankreich am 31. Oktober 2006 mit seinem Veto im Weltsicherheitsrat verhinderte, dass in einer Resolution auch Besorgnis über die Menschenrechtslage in der Westsahara geäußert wurde.

Angesichts der wachsenden Repression suchen immer mehr Saharauis Zuflucht auf den Kanarischen Inseln. Dieser Exodus wird sich voraussichtlich noch verschärfen, wenn nicht ein besserer Schutz der Zivilbevölkerung sichergestellt werden kann. Dass die Unterdrückung weiter zunimmt, ist angesichts der Vielzahl dokumentierter Fälle offensichtlich, obwohl die marokkanischen Behörden systematisch die Einreise von Journalisten, internationalen Menschenrechtlern und ausländischen Parlamentariern in die Westsahara behindern. So wurden im Oktober 2006 zwei norwegische Journalisten ausgewiesen. Die Nutzung von Internetcafes wird massiv überwacht und kritische Websites zur Westsahara werden zensiert.

Marokko versucht in der Westsahara den Anschein von Normalität zu erwecken. Dies nahm bizarre Formen an, als im Mai 2006 eine Delegation des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte die Westsahara besuchte. So wurden nicht nur präventiv 26 Kritiker der marokkanischen Besatzungspolitik vor dem Besuch verhaftet, um öffentliche Proteste zu unterbinden. Auch waren 7.000 Polizisten entlang der Reiseroute in zivil im Einsatz, um Normalität zu suggerieren. An marokkanische Siedler wurde traditionelle Kleidung der Saharauis ausgegeben, um den Eindruck zu vermitteln, die Bevölkerung der Westsahara begrüße die marokkanische Herrschaft. Der Präsident des vom marokkanischen König eingesetzten "Kronrates für Sahara-Angelegenheiten", Jalihenna Uld Errachid, hat erst im Dezember 2006 Vorwürfe, in der Westsahara würden Menschenrechte verletzt, für "Blödsinn" erklärt.

Doch die erschreckenden Zahlen von Verhaftungen und Verletzungen von Zivilisten dokumentieren, dass breite Teile der Zivilbevölkerung in der Westsahara die marokkanische Herrschaft ablehnen und auf der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts ihres Volkes bestehen.

Forderungen der Gesellschaft für bedrohte Völker an die marokkanischen Behörden:

  • Sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen in der Westsahara,
  • Durchsetzung des Folterverbots im Gewahrsam der Sicherheitskräfte,
  • Gewährung des freien Zugangs zur Westsahara von Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und ausländischen Politikern,
  • Offizielle Zulassung von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen ,
  • Bestrafung der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen (Misshandlungen, Folter, Entführungen, etc.),
  • Beachtung der Allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen zu Menschenrechtsverteidigern,
  • Garantie der Reisefreiheit für saharauische Menschenrechtler,
  • Umsetzung des UN-Friedensplanes für die Westsahara und der von den Vereinten Nationen geforderten Volksabstimmung über die Zukunft der Region.

Forderungen an die internationale Gemeinschaft:

  • Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in der Westsahara durch den Weltsicherheitsrat und die Europäische Union,
  • Erweiterung des Mandats der MINURSO (UN-Mission für ein Referendum in der Westsahara) um die Überwachung der Menschenrechtslage und den Schutz der Zivilbevölkerung vor Übergriffen,
  • Die EU sollte gemäß der EU-Richtlinien für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern Prozessbeobachter entsenden und unfaire Gerichtsverfahren dokumentieren sowie Foltervorwürfen nachgehen,
  • Die EU sollte den Druck auf Marokko erhöhen, um eine Umsetzung des UN-Friedensplanes sowie der geplanten Volksabstimmung über die Zukunft der Westsahara durchzusetzen.

Unseren Menschenrechtsreport können Sie hier herunterladen.