05.03.2013

SPD muss eigenes Grundsatzprogramm achten und Glaubensfreiheit für Christen, Aleviten und Yeziden in der Türkei einfordern

Nach Lob von SPD-Chef Gabriel für Erdogans Regierungspolitik mahnt GfbV

Sehr geehrter Herr Thierse,

Sehr geehrter Herr Oppermann,

am heutigen Dienstag werden Sie in Göttingen an einer Podiumsdiskussion teilnehmen. Dabei wird es auch um das aktuelle Grundsatzprogramm der SPD gehen. Darin wird zwar festgestellt, dass die SPD „eine religiöse und weltanschaulich pluralistische Partei ist, die in ihren Beschlüssen religiöse Überzeugungen achtet und schützt... .“ Doch dem fühlt sich SPD-Chef Sigmar Gabriel offenbar nicht sonderlich verpflichtet, wenn er die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan lobt wie kürzlich anlässlich des Besuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Türkei. Vollkommen außer Acht gelassen hat Gabriel dabei, dass dort die Rechte der kurdischen Volksgruppe und der christlichen Religionsgemeinschaften noch immer mit Füßen getreten werden. Darauf hatten Kirchen und die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) Merkel hingewiesen und an sie appelliert, sich für die unterdrückten Christen und Kurden einzusetzen.

Sehr geehrter Herr Thierse, sehr geehrter Herr Oppermann, im Namen der GfbV bitte ich Sie dringend, nun dafür zu sorgen, dass die SPD klar Position zur mangelnden Glaubensfreiheit für Christen, Aleviten und Yeziden in der Türkei bezieht.

Die 90.000 syrisch-orthodoxen Christen, die in Deutschland leben, legen großen Wert darauf, dass ihre Sprache und Kultur im Tur Abdin, in ihrer historischen Heimat, erhalten bleibt. Diese Assyrer/Aramäer, die als Kriegs- oder Glaubensflüchtlinge nach Deutschland kamen und sich zwischenzeitlich vorbildlich integriert haben, wünschen sich mehr Engagement für die wenigen in der Türkei verbliebenen Christen. Sie wollen ihre in der Türkei in Bedrängnis geratenen Klöster retten. Das Kloster Mor Gabriel beispielweise muss um sein Überleben kämpfen. Denn es wird versucht, dem Kloster die Ländereien zu rauben. Mor Gabriel ist eines der ältesten christlichen Klöster der Welt und eines der wenigen noch bestehenden geistlichen Zentren der syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei. Die SPD soll helfen, dieses wichtige religiöse Kulturgut zu bewahren!

Auch die 600.000 bis 800.000 Aleviten in Deutschland erwarten mehr Einsatz für ihre Glaubensschwestern und -brüder in der Türkei. In Deutschland sind die Aleviten als eigenständige Religionsgemeinschaft anerkannt. Einzigartig ist, dass sich das deutsche Schulsystem teilweise auf die alevitische Minderheit eingestellt hat. Seit dem Schuljahr 2008/09 wird in Nordrhein-Westfalen und sechs anderen Bundesländern an vielen Schulen alevitischer Religionsunterricht angeboten, um die Integration weiter voranzutreiben. In der Türkei können die Aleviten von diesen „deutschen Verhältnissen“ nur träumen. Fast jeder vierte Staatsbürger der Türkei ist Alevit: Mehr als 15 Millionen der etwa 68 Millionen Einwohner des Landes – Türken, Kurden und auch ein Teil der arabischen Volksgruppe - gehören dieser liberalen humanistischen Glaubensgemeinschaft an. Offiziell ist das Alevitentum in der Türkei allerdings nicht als eigenständige Religion anerkannt. Seine Anhänger werden in ihrer Glaubensfreiheit eingeschränkt und diskriminiert.

Die türkische Staatsführung verfolgt seit Gründung der Republik das Ziel, das Land ethnisch und religiös zu vereinheitlichen. Dafür wird die Assimilation und Sunnitisierung der Aleviten vorangetrieben gemäß der Formel „Wir sind alle Muslime – Hepimiz müslüman?z“. Bis vor kurzem bestritten die türkischen Behörden sogar noch die Existenz der Aleviten. Das Amt für religiöse Angelegenheiten, das die 90.000 Moscheen des Landes unterhält, stellt bis heute keine Aleviten ein. Seit 1980 werden insbesondere in alevitischen Dörfern Moscheen gebaut und sunnitische Vorbeter dorthin entsandt. Sie predigen den Islam sunnitischer Prägung und kontrollieren im Auftrag des türkischen Staates das alevitische Religionsleben. Religion ist in der Türkei Pflichtfach an den Schulen. Doch gelehrt wird nur der sunnitische Islam. An diesem Unterricht müssen auch alevitische Kinder teilnehmen – eine gravierende Missachtung ihrer Glaubensfreiheit. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Türkei deswegen bereits 2007 verurteilt.

Die 50.000 deutschen Yeziden wünschen sich ebenfalls Unterstützung. In der Türkei beschimpfen Muslime die kurdischen Yeziden als "Teufelsanbeter". Sie seien "Heiden" und "Abtrünnige vom Ein-Gott-Glauben", weil sie neben Gott (Chode) auch Melek Taus, den "Engel Pfau", verehren. Eine Anerkennung des Yezidentums als eine eigenständige Glaubensgemeinschaft würde die Alltagsdiskriminierung der Yeziden stark vermindern. Die Yeziden in der Türkei werden wegen ihres Glaubens von ihren muslimischen Nachbarn gehasst und verachtet. Weil ihre Religion nicht - wie das Christen- oder Judentum - als "Buchreligion" anerkannt ist, wird ihr Glaube rücksichtslos bekämpft. Yeziden dürfen ihre Religion nicht ausüben, stattdessen müssen yezidische Schulkinder in der Schule am islamischen Religionsunterricht teilnehmen und werden dazu gezwungen, islamische Gebete zu lernen, die für Yeziden untersagt sind.

Jahrhundertelang wurden die Yeziden in der Türkei wegen ihres Glaubens verfolgt, ermordet und zwangsislamisiert. Die Situation hat sich in den vergangenen Jahren leider nicht deutlich verbessert. Während des Militärdienstes oder bei der gemeinsamen Arbeit mit Muslimen muss ein Yezide ständig Tabus brechen, um nicht als "Ungläubiger" erkannt und bestraft zu werden. Das ist ein Grund dafür, dass heute nur noch wenige Yeziden – meist alte Menschen – in der Südosttürkei leben. Sie sind oft schutzlos der Willkür und unverhohlenen Schikanierung durch türkische Behörden und die nichtyezidische Mehrheitsbevölkerung ausgesetzt.

Mit freundlichen Grüßen,

Tilman Zülch, Generalsekretär