13.03.2013

Verfassungsrechte der indigenen Völker Kanadas sind in Gefahr

Written UN-Statement (deutsche Fassung)

Obwohl Kanada 2010 die UN-Deklaration der Rechte indigener Völker (UNDRIP) angenommen hat, sind die Verfassungs- und Vertragsrechte der First Nations ernsthaft in Gefahr, denn die vor kurzem verabschiedeten Gesetzespakete (Omnibus Laws) Bill C-38 und Bill C-45 verletzen ein Grundprinzip der UNDRIP, das Recht auf „Freie Vorherige Informierte Zustimmung“ (Free Prior Informed Consent / FPIC). Sie hatten einen Sturm der Entrüstung unter den First Nations in ganz Kanada zur Folge, der sich über die Staatsgrenze in die USA und sogar bis Europa ausbreitete.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) befürchtet, dass die Regierung Kanadas das Wirtschaftswachstum über den Schutz der Verfassungs- und Vertragsrechte der First Nations stellen könnte. Gesetze wie Bill C-38 und Bill C-45 öffnen Land, das eigentlich durch die Verträge (zwischen den indianischen Völkern und der britischen Krone; d. Übers.) geschützt ist, für die wirtschaftliche Entwicklung und die Förderung von Rohstoffen. Handelsabkommen mit Asien, vor allem China, und der Europäischen Union werden ausgehandelt, ohne dass die First Nations an daran beteiligt werden, selbst wenn ihre traditionellen Gebiete und ihr Vertragsland davon betroffen sind.

Herzstück dieser Gesetzgebung ist das neue Gesetz zum Schutz der Schifffahrt (Navigation Protection Act / NPA), welches das Gesetz zum Schutz schiffbarer Gewässer (Navigable Waters Protection Act / NWPA) von 1882 ersetzt. NWPA sah noch einen ausführlichen Bewilligungs- und Beratungsprozess vor, bevor irgendeine Maßnahme direkt an oder in der Umgebung von schiffbaren Gewässern erfolgen konnte; das NPA schränkt die Anzahl von Wasserwegen, für deren Nutzung ein Genehmigungsprozess erforderlich ist, jetzt auf ein Mindestmaß ein. Nur noch 97 von 32.000 größeren Seen, 62 von mehr als 2,25 Millionen Flüssen und die drei Meere (Atlantik, Pazifik, Nordpolarmeer) werden geschützt bleiben. Das bedeutet: für 99,9 Prozent der schiffbaren Gewässer, von denen viele sich in dem traditionellen Land der First Nations befinden, entfällt jeder Schutz.

Die GfbV weist darauf hin, dass dadurch Pipeline-Projekte wie zum Beispiel die Enbridge Northern Gateway Pipeline oder Abbaumethoden mit sehr großem Wasserverbrauch wie z.B. die Ölgewinnung aus Teersanden ermöglicht werden. Beide Projekte werden von den First Nations, deren Territorien davon betroffen sind, vehement abgelehnt; trotz des in der UNDRIP verankerten FPIC-Mitbestimmungsverfahrens wurden sie an dem Entscheidungsprozess nicht beteiligt.

In den Indian Act (ein Gesetz von 1876, das die rechtliche Stellung der First Nations definiert/d. Übers.) wird in einer Weise eingegriffen, dass die neue Gesetzgebung die Verpachtung indianischen Reservatslandes und somit die Öffnung vertraglich geschützten indianischen Landes und indianischer Territorien für die industrielle Erschließung und Rohstoffausbeutung ermöglicht wird. Was das Gesetzt zur Umweltverträglichkeitsprüfung (Environmental Assessment Act) betrifft, so wurde Anwendbarkeit und Bedeutung des Umweltprüfverfahren in drastisch reduziert.

Die Verfassungsrechte der First Nations beruhen auf den historischen Verträgen zwischen den Ureinwohnernationen und der (britischen) Krone. Sie wurden 1982 bestätigt, als Absatz 35 der Verfassung und später auch der Oberste Gerichtshof die bestehenden Vertragsrechte, die gleichberechtigten Beziehungen zwischen der kanadischen Regierung und den First Nations von Nation zu Nation und die Landrechte der First Nations anerkannte und bekräftigte. Seitdem wurden die Ureinwohnerrechte immer weiter eingeschränkt.

Im Dezember 2007 veröffentlichte das Ständige Komitee zu Gesetzgebenden und Verfassungsbedingten Angelegenheiten (Standing Committee on Legislative and Constitutional Affairs) den Bericht: „Die in Absatz 35 festgeschriebenen Rechte ernst nehmen: Nicht-Beeinträchtigungs-Klauseln mit Bezug auf Ureinwohner- und Vertragsrecht (“Taking Section 35 Rights Seriously: Non-derogation Clauses relating to Aboriginal and treaty rights”). Darin bat das Komitee eindringlich um eine Ergänzung des Bundesinterpretationsgesetzes (federal Interpretation Act) durch einen Grundsatz, demzufolge neue Gesetze die Ureinwohner- und Vertragsrechte bestätigen und nicht schwächen sollten. Entgegen dieser Empfehlung verabschiedete der Senat am 18. Juni 2012 das Gesetz „Gesicherte Trinkwasserqualität für First Nations“ (Safe Drinking Water for First Nations Act), in dem zum ersten Mal ausdrücklich festgehalten wurde, dass Ureinwohner- und Vertragsrechte, wenn sie sie in Konflikt zu den Zielen des neuen Gesetzes stehen, nicht respektiert werden sollen. Auch dieses Gesetz wurde ohne Hinzuziehung der First Nations (FPIC) ausgearbeitet und verletzt demzufolge die UNDRIP.

Ernsthafte Bedenken existieren ebenfalls hinsichtlich der Vorlage des Gesetzes zum Privatbesitz für First Nations (First Nations Property Ownership Act /FNPOA). Manche Repräsentanten der First Nations fühlen sich an die Stellungnahme der Regierung zur Indianerpolitik von 1969 (Statement of the Government on Indian Policy / White Paper) erinnert. Der Universität von British Columbia zufolge lässt es sich als Versuch zusammenfassen, den offiziellen Status der Indianer abzuschaffen, das Ministerium für indianische Angelegenheiten (Department of Indian Affairs) binnen fünf Jahren aufzulösen, den Indian Act abzuschaffen, Reservatsland in Privatbesitz umzuwandeln, der von einem Stamm (kanadischer Terminus: Band) oder seinen Angehörigen verkauft werden kann, die Verantwortung für indianische Angelegenheiten von der Bundesregierung auf die Provinzen zu übertragen sowie einen Beauftragten zu ernennen, der die noch offenen Landrechtsverfahren regeln und die vorhandenen Verträge nach und nach auslöschen soll. Das FNOPA knüpft an diese Grundsätze an und kann wenn es umgesetzt wird tatsächlich zum Verlust sämtlicher Vertragsrechte, zu Zwangsassimilation und zum Ende der besonderen historischen Beziehungen zwischen den First Nations als traditionellen Besitzern des Landes und der kanadischen Gesellschaft führen.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker bittet den Menschenrechtsrat, eindringlich die Regierung Kanadas aufzufordern:

- die Sorgen der First Nations und ihrer Repräsentanten ernst zu nehmen

- die Omnibus Laws Bill C-38 und Bill C-45, welche die Verfassungsrechte der First Nations ernsthaft bedrohen, einer Prüfung zu unterziehen

- mit den First Nations einen Dialog aufzunehmen, der den Standards, wie sie in der UN-Deklaration der Rechte indigener Völker und dem FPIC Mechanismus festgelegt sind, entspricht

- dabei die 13-Punkte-Erklärung zu beachten, die von Chief Theresa Spence am Ende ihres sechswöchigen Hungerstreiks am 23. Januar 2013 veröffentlicht wurde:

- Verpflichtung zu einem Handlungsrahmen und einem Mandat für die Durchsetzung und die Anwendung von Verträgen auf der Basis einer Beziehung von Nation zu Nation,

- Verpflichtung zur Aufteilung von Gewinnen aus Rohstoffen unter Beteiligung der Provinzen und Territorien,

- Verpflichtung dazu, dass jede Bundesgesetzgebung der Zustimmung der First Nations bedarf, sobald deren angestammte und vertraglich geregelte Rechte berührt werden

- eine Untersuchung über Gewalt gegen indigenen Frauen durchführen

- Verpflichtung, die UN Deklaration der Rechte indigener Völker vollständig umzusetzen