24.06.2015

"Von 'ethnischen Säuberungen' in Til Abyad gegen die Araber oder Turkmenen kann keine Rede sein."

Interview mit Rami Abdulrahman, Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London

Rami Abdulrahman, Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Foto: GfbV-Archiv

Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Syrian Observatory for Human Rights, SOHR) ist eine in London ansässige Organisation. Sie wird von Rami Abdulrahman geleitet, sammelt und veröffentlicht Informationen über Menschenrechtsverletzungen in Syrien.
In Nordsyrien gibt es drei mehrheitlich von Kurden besiedelten Bezirke: Kobani, Jazira und Afrin. Diese wurden gegen den Widerstand des Assad-Regimes in Damaskus und der islamistischen Opposition für autonom erklärt.

Julia Schlüns, Praktikantin im Nahostreferat und Kamal Sido, Leiter des Nahostreferates, sprachen am 24.06.2015 mit Rami Abdulrahman.

GfbV: Nach der Eroberung von Til Abyad und der Vertreibung des „Islamischen Staates“ (IS) werden der kurdischen YPG (Yekîneyên Parastina Gel / Volksverteidigungseinheit) „ethnische Säuberungen“ gegen die turkmenische Minderheit und die arabisch-sunnitische Bevölkerung vorgeworfen. Welche Ziele verfolgen die Kurden durch diese „ethnische Säuberungen“?

RA: Von „ethnischen Säuberungen“ in Til Abyad gegen die Araber oder Turkmenen kann keine Rede sein. Wenn die YPG Araber und Turkmenen vertreiben wollte, hätte sie dies bereits bei der Befreiung von den Dörfern getan. Es kommt jedoch vor, dass – wenn der IS vertrieben ist – die Bewohner aufgefordert werden, wegen Minengefahr nicht sofort wieder in ihre Dörfer zu gehen. In einigen Dörfern, wie in Dogan oder Al Bajela, wurden die Bewohner länger daran gehindert, zurückzukehren, weil in den Dörfern noch IS-Kämpfer vermutet wurden.

GfbV: Die Vorwürfe über „ethnische Säuberungen“ kommen vor allem aus der Türkei und der zur Assad-Regime in Opposition stehenden Syrischen Koalition. Warum?

RA: Das ist doch klar, warum diese Vorwürfe von der türkischen Regierung kommen. Was die Syrische Koalition anbetrifft, so hat sie das wiederholt, was Recep Tayyip Erdogan einige Zeit davor gesagt hat. Ich wiederhole: Die türkische Regierung steht den Kurden sowohl in der Türkei als auch in Syrien feindselig gegenüber. Sie befürchtet eine Stärkung der kurdischen Position in der Region. Ich erinnere daran, dass im Herbst 2014 mindestens 300.000 Kurden durch den IS vertrieben wurden. Von „ethnischen Säuberungen“ gegen die Kurden hat damals die türkische Regierung nicht gesprochen. Ganz im Gegenteil. Die türkische Regierung hat mit dem IS kooperiert.

GfbV: Hat die YPG zu früheren Zeitpunkten „ethnische Säuberungen“ in anderen Gegenden, etwa östlich von Til Abyad in Kamischli usw., betrieben?

RA: Mir sind solche Fälle nicht bekannt. Es gibt dutzende arabische Dörfer bei Kamischli, weiter im Osten. Die Araber leben immer noch dort und werden von der YPG auch geschützt. Zwar kommt es bei den Kämpfen zwischen der YPG und dem IS zu Opfern auch unter den Zivilisten, von einer gezielten und systematischen Verfolgung der Menschen durch die YPG aufgrund ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit kann aber nicht die Rede sein.

GfbV: Werden arabische, assyro-aramäische oder armenische Bewohner in dem Herrschaftsgebiet der YPG verfolgt?

RA: Eindeutig nein.

GfbV: Sind Ihnen andere Fälle von ethnisch- oder religiös-motivierter Verfolgung durch die Verwaltungen in den Kantonen von Afrin, Kobani oder Jazira bekannt?

RA: Nein.

GfbV: Der YPG wird Rekrutierung von Personen unter 18 Jahren vorgeworfen, was wissen Sie darüber?

RA: In dieser Angelegenheit beobachten wir das Verhalten der YPG sehr genau. Hin und wieder wird von Rekrutierungen Minderjähriger durch die YPG berichtet. Es sind in der Regel aber Einzelfälle. Die Behörden in den Kantonen reden dann von einer „Tahil“ (Rehabilitation). Wenn etwa Minderjährige aus verschiedenen Gründen aus ihren Familien weglaufen und von den Behörden der Kantone aufgenommen werden. Da aber noch keine eindeutigen Grenzen zwischen den verschiedenen Behörden existieren, wirft man der YPG oder der PYD vor, Minderjährige zu rekrutieren. In jedem Fall fordern die Autonomiebehörde der Kantone ausdrücklich dazu auf, eindeutige Grenzen zu ziehen. Minderjährige dürfen nicht rekrutiert werden. Im Übrigen sind wir auch gegen eine Zwangsrekrutierung (Wehrpflicht) von Erwachsenen. Der Kampf gegen den IS sollte nur von Freiwilligen geführt werden. In dieser Frage sind wir im Gespräch mit den Autonomiebehörden in Afrin, Kobani und Jazira.

GfbV: Zwischen der PYD und dem kurdischen Nationalrat (KNCS) gibt es Konflikte. Was können Sie zu diesen Konflikten sagen?

RA: Der KNCS beklagt sich immer wieder darüber, dass die Autonomiebehörde in den Kantonen ihre Anhänger verfolgt. In dieser Frage muss man eine Tatsache zu Kenntnis nehmen: Die PYD (Partiya Yekitîya Demokrat/Partei der Demokratischen Union) und der KNCS sind politische Konkurrenten. Der KNCS arbeitet eng mit der syrischen, in Istanbul ansässigen Syrischen Koalition und will die Existenz der Autonomiebehörde und der Kantone nicht anerkennen. Wir verurteilen jede Form der Verfolgung aufgrund politischer Ansichten.

GfbV: Warum ist der türkischen Regierung der IS als Nachbar „lieber“ als die Kurden bzw. PYD und YPG?

RA: Wie ich bereits geantwortet habe, befürchtet die türkische Regierung eine Stärkung der kurdischen Position in der Region. Daher duldet sie den IS und unterstützt ihn sogar. Ohne eine türkische Unterstützung wäre der IS nicht zu dem geworden, was er heute ist. Über die Türkei kamen etwa 50.000 Dschihadisten aus der ganzen Welt nach Syrien und in den Irak. Uns liegt Bild- und Videomaterial vor, das die Kooperation zwischen dem IS und türkischen Stellen eindeutig belegt.

GfbV: Will die PYD in Nordsyrien einen rein „kurdischen Staat“ gründen? Oder wollen sie nur eine Selbstverwaltung?

RA: Nach unseren Kenntnissen und nach offiziellen Verlautbarungen der YPG und der PYD wollen sie keinen separaten Staat gründen. Sie wollen ein demokratisches, nicht-zentralistisches, pluralistisches, ethnisch-religiös vielfältiges Syrien.

Im Übrigen [scherzhaft]: „Nur Allah weiß, was die Herzen verbergen.“ Also ich bin kein Hellseher. Ich kann nicht sagen, was die Zukunft bringt.

GfbV: Sollte die internationale Gemeinschaft die drei Kantone in Afrin, Kobani oder Jazira unterstützen? Und wenn ja, warum?

RA: In jedem Fall. Das ist eine unserer Hauptforderungen an Europa und an die internationale Staatengemeinschaft. Im syrischen Chaos und in diesem furchtbaren Gemenge müssen die Menschen in Syrien eine Perspektive bekommen. Und die Kantone in Nordsyrien sind eine Perspektive. Die Menschen in Syrien müssen Beispiele im eigenen Land sehen, wo ein friedliches Miteinander funktioniert. Und Nordsyrien könnte ein Beispiel für ganz Syrien werden.