01.02.2012

Zwangsräumung in größter britischer Traveller-Siedlung

Das Trauma von Dale Farm

Aus bedrohte völker_pogrom 268, 5/2011

Das Schicksal von mehr als 80 nicht sesshaften Familien in Großbritannien machte in den Sommermonaten 2011 weit über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen: 300 bis 400 Angehörige der Irish Traveller, Roma und Gypsies in der Siedlung Dale Farm in Cray´s Hill in der britischen Grafschaft Essex nordöstlich von London wurden mit Zwangsräumung bedroht. Sie rangen mit dem Rat des zuständigen Bezirks Basildon, dem Basildon Council, um ihre Bleibe. Einige von ihnen lebten unbehelligt seit elf Jahren auf dem Gelände. Viele der 110 betroffenen Kinder waren dort aufgewachsen.

Bis 2005 nutzten die Fahrenden unbehelligt die gesamte Dale Farm. Der Basildon Council hatte das Gelände auch als Wohngebiet ausgewiesen – bis auf einen kleinen Teil. Dort galt die Erlaubnis aufgrund örtlicher Bebauungsbeschränkungen offiziell nicht und alle Traveller, die sich dort niedergelassen hatten, sollten die Dale Farm bis zum 31. August 2011 verlassen. Wenn sie nicht freiwillig gingen, würden sie zwangsweise umgesiedelt.

Die Betroffenen leisteten der Behörde erbitterten Widerstand, mobilisierten Unterstützer und legten auch rechtlich Widerspruch ein. Falls sie ihre Wohnungen auf der Dale Farm aufgeben müssten, drohte vielen Traveller die Obdachlosigkeit. Eltern befürchteten, dass ihre Kinder ihr vertrautes Schulumfeld verlieren würden. Kranke schwebten in Ängsten, medizinisch nicht mehr ausreichend versorgt zu werden. Großfamilien mutmaßten, sie sollten auseinandergerissen werden. Zudem empfanden es die Traveller als diskriminierend, dass ihnen keine Wohnalternativen angeboten wurden, die ihren kulturellen Bedürfnissen gerecht werden.

Die Situation spitzte sich zu, als der Oberste Gerichtshof, der High Court of England and Wales, Ende August den Eilantrag einiger Bewohnerinnen, die eine Klage gegen die Zwangsräumung einreichen wollten, auf eine gerichtliche Überprüfung ablehnte. Am 5. September bestätigte der Basildon Council, dass den Betroffenen erst der Strom abgestellt und dann mit der Räumung begonnen werde. Einige riefen ein Berufungsgericht an, doch dieses verweigerte am 17. Oktober die Erlaubnis, Rechtsmittel gegen das Urteil des High Court vom 12. Oktober einzulegen. Darin hatte der zuständige Richter die Fortführung der Zwangsräumung von 49 der insgesamt 54 Wohnplätze auf unerlaubtem Gebiet der Dale Farm gestattet. Auch ein Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung der Zwangsräumung wurde abgewiesen.

Am frühen Morgen des 20. Oktober rückten Gerichtsvollzieher mit Polizisten auf das Gelände der Dale Farm vor. Die Sicherheitskräfte setzten Schlagstöcke und Elektroschocker gegen Unterstützer und Bewohner ein. Mindestens zwei Frauen erlitten Kopfverletzungen, eine von ihnen musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Ein Schwerkranker, der eine Maschine zum Atmen braucht, um zu überleben, durchlitt höchste Ängste, weil auf seinem Grundstück der Strom abgeschaltet wurde. Angesichts der Gewalt, mit der die Polizei die Räumung durchsetzen wollte, gaben die Bewohner der Dale Farm am späten Abend auf und verließen gemeinsam mit ihren Unterstützern freiwillig das Gelände. Für viele von ihnen wird die Zwangsräumung ein lebenslanges Trauma bleiben. Durch die Art und Weise, wie sie behandelt wurden, fühlten sich die Traveller pauschal kriminalisiert.

Die Betroffenen hatten im Zuge der Auseinandersetzung die Bevölkerung, Institutionen und Einzelpersonen in Großbritannien und weltweit um Solidarität und Unterstützung gebeten. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) hatten sich eingeschaltet. Sie appellierten u.a. an den britischen Premierminister David Cameron und den Vorsitzenden des Basildon Council, Tony Ball, die Traveller und Roma nicht zu vertreiben und die Betroffenen anzuhören, und baten die European Union Agency for Fundamental Rights in Wien und das zuständige Ressort der Europäischen Kommission um Hilfe. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung forderte die Behörden dazu auf, für angemessene und der kulturellen Identität der Traveller entsprechende Ersatzunterkünfte zu sorgen. Und die Oscar-Preisträgerin Vanessa Redgrave besuchte zur Unterstützung die Dale Farm.

Selten hat eine Zwangsräumung wie die von der Dale Farm in Großbritannien soviel Empörung ausgelöst. Es waren nicht nur besonders viele Menschen von der gewaltsam durchgesetzten Vertreibung betroffen. Die Traveller hatten auch noch nie so hartnäckig auf ihrem Gewohnheitsrecht bestanden und sich gleichzeitig so intensiv um eine angemessene Lösung des Konflikts bemüht. Immer wieder hatten sie Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Umso größer war die Enttäuschung, als bekannt wurde, dass der Basildon Council eine Reihe von Alternativen zur Zwangsräumung einfach verspielte, darunter das Angebot der Homes and Community Agency, Land für alternative Siedlungen zur Verfügung zu stellen.

Die britischen Behörden müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, durch die Vertreibung der Traveller von der Dale Farm regionale und internationale Menschenrechtsstandards missachtet zu haben. Laut Völkerrecht „dürfen Zwangsräumungen nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn sämtliche Alternativen ausgeschöpft sind und eine wirkliche Konsultation mit den betroffenen Gemeinschaften stattgefunden hat. Die Behörden sind verpflichtet, ausreichende Fristen zu wahren, Rechtsmittel zuzulassen, angemessene und den kulturellen Besonderheiten der betroffenen Gemeinschaften Rechnung tragende Ersatzunterkünfte bereit zu stellen sowie Entschädigungen zu leisten. Sie müssen sicherstellen, dass keine Person infolge der Räumung obdachlos oder anderweitig in ihren Menschenrechten verletzt wird“. (ig)


Das fahrende Volk der Traveller

Die Traveller sind ein fahrendes Volk mit irischen Wurzeln. Weltweit gibt es bis zu 100.000 von ihnen und zwar fast ausschließlich in Großbritannien, Irland, den USA und Kanada. Ihre Sprache ist gälischen Ursprungs. Die Traveller leiden ähnlich wie Roma und Gypsies unter mangelnder Bildung, Armut und Ausgrenzung. In Großbritannien leben bis zu 40.000 Traveller. Dort sind sie zwar als ethnische Minderheit anerkannt. Doch lokale Behörden müssen ihnen seit einer Gesetzesnovelle 1994 keine Plätze mehr für ihre Wohnwagen zur Verfügung stellen. Die Polizei wurde ermächtigt, Traveller zum Verlassen von nicht autorisiertem Gelände zu zwingen, wenn sie sich dort mit mehr als fünf Fahrzeugen einfinden.


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