Urbanes Leben und indigene Traditionen: In La Paz geht beides Hand in Hand. Foto: Svenja Osmers
Das Leben indigener Menschen in bolivianischen Städten ist anders als auf dem Land – und doch ähnelt es sich. Freddy Mamani Mollo vom Volk der Aymara lebt in La Paz. Seine Erfahrungen als spiritueller Führer und seine Erzählungen aus seinem Alltag zeichnen ein differenziertes Bild: von der Erfüllung und Diskriminierung indigener Kultur in der Stadt.
von Svenja Osmers
Auf dem Boden liegt ein aguayo, ein rechteckiges Tuch aus gewebter Wolle, aus dem man eine Geschichte lesen kann. Um mich herum sitzen auf Plastikstühlen und Baumstämmen die Mitglieder verschiedener Bürgerinitiativen aus La Paz. Einige reden über die Busfahrt hierher. Andere unterhalten sich über die Planung für die nächsten Tage. Die Geräusche der Yungas, jenen langgestreckten Tälern Boliviens, die den Übergang zwischen dem Hochland der Anden und dem Tiefland mit dem tropischen Amazonas-Regenwald markieren, untermalen die Szene. Wir sind in der Nähe von Mururata, im Westen Boliviens, auf einem abgelegenen Stück Land. Freddy Mamani Mollo ist unser spiritueller Führer an diesem Wochenende. Er will uns die Elemente der andinen Weltanschauung (cosmovisión) und Spiritualität näherbringen.
Auf den aguayo legen wir ein großes Stück Papier. Auf ihm bereiten wir zwei rituelle mesas vor. Freddy Mamani erklärt, dass der mesa in der andinen cosmovisión ein Opfer für die Mutter Erde repräsentiert: „Zuerst danken wir Pachamama, der Mutter Erde, und geben ihr und den anwesenden Personen eine energetische Reinigung. Das Opfer dient dazu, alle Anwesenden zu harmonisieren. Wir zeigen der Pachamama Respekt und Dankbarkeit. Wir bieten uns ihr an“. Vor uns nehmen zwei verschiedene mesas langsam Gestalt an: einer ganz in Weiß und einer in Bunt. „Mit dem weißen mesita erkennen wir den Ort um uns herum als Lebewesen und denkende Person an. Stell es dir vor, wie wenn du eine Verwandte, deine Oma oder deine Tante besuchst. Du nimmst ihr eine kleine Aufmerksamkeit mit, zum Beispiel ein paar Kekse, einige Blätter Koka. Genauso machen wir es mit der Mutter Erde. Wir zeigen ihr unsere Zuneigung, Aufmerksamkeit und Dankbarkeit.“
Auf dem weißen mesita sammeln sich sogenannte illas: kleine Steine oder Knochen, die alles repräsentieren, was es auf der Erde gibt. „Es ist eine symbolische Darstellung unseres ganzen Lebens. Diese bieten wir der Pachamama an mit dem Ziel, Harmonie und ein gemeinsames ajayu zu erlangen.“ Das ajayu besteht aus (mindestens) vier verschiedenen Konzepten: Geist, Seele, Essenz und Vitalität. Manchmal wird auch noch Mut dazu gezählt. Innerhalb der indigenen Aymarabevölkerung und unter Ethnolog*innen gibt es jedoch bis heute Diskussionen, was genau das ajayu ist.
Wie bei einem Tauschhandel bieten wir der Pachamama mit dem weißen mesita etwas an, um dann mit dem bunten mesita um etwas zu bitten. Auf dem bunten mesita liegen Kokablätter, kleine illas, goldenes und silbernes Lametta und ein in Wolle gewickelter Lamafötus. Mit dem bunten mesita fragt man nach Überfluss, Gnade, Liebe, einem abenteuerlichen Leben, Zuneigung, Reichtum und wirtschaftlichem, intellektuellem und spirituellem Wachstum.
Nachdem jede*r mit ihrem*seinem Atem den illas die eigene Energie eingehaucht hat, werden die mesitas verpackt und zum vorbereiteten Feuerplatz gebracht. Freddy Mamani zeigt die Bedeutung des Verbrennens auf: „Der mesita wird verbrannt, weil die Nina Mallku, die Ahnin des Feuers, die Aufgabe hat, die Materialität des rituellen Tisches, also die Süßigkeiten, Samen und anderen illas, die Teil des mesita sind, in Atem zu verwandeln. Dieser steigt mit dem Rauch auf, um dorthin zu gelangen, wo er hingehen muss.“ Hinterher wird in der Asche gelesen, ob die Wünsche und Bitten an ihrem Bestimmungsort angelangt sind. Dann wird die Asche vergraben. „In diesem Sinne lässt sich folgern, dass alles dorthin zurückkehrt, wo es herkommt: Alles kehrt zur Pachamama zurück“.
Spiritualität in der Stadt
Zurück in La Paz. Auch hier in der Großstadt treffe ich auf viele Elemente der indigenen Bevölkerung Boliviens: Auf dem Markt und in den Straßen sind Frauen im typischen, indigenen Gewand, der pollera mit dem dazugehörigen Filzhut, überall präsent. Der Hut wurde in den 1920er Jahren von englischen Eisenbahnarbeitern in Bolivien eingeführt. Seitdem tragen ihn indigene und mestizische (die Nachfahren von Europäer*innen und indigener Bevölkerung; Anm. d. Red.) Frauen. Außerdem sieht man auf öffentlichen Gebäuden oft indigene Muster und Farben oder als Graffiti in den Straßen.
La Paz ist der Regierungssitz Boliviens. Die meisten Regierungsgebäude befinden sich an dem Hauptplatz der Stadt, dem Plaza Murillo. 2018 eröffnete um die Ecke des Plaza Murillo das „Casa Grande del Pueblo“ (dt.: großes Haus des Volkes) als neuer Sitz des*der bolivianischen Präsident*in, der*des Vizepräsident*in und einiger Ministerien. Es vereint moderne Architektur mit indigenen Elementen. Der damalige Präsident Evo Morales hob das neue Hauptquartier als „Meilenstein in der Wiederherstellung der Identität der indigenen und sozialen Bewegungen“ hervor.
Wieder bin ich mit Freddy Mamani unterwegs. Im Stadtzentrum von La Paz, zwischen den Straßen Sagarnaga und Santa Cruz, zeigt er mir einen Markt. Hier kann man alle wichtigen Zutaten für den mesita und andere Rituale kaufen. Beim Vorbeischlendern sehe ich viele kleine Plättchen mit Bildern oder Symbolen, die illas. Getrocknete Kräuter und Pflanzen werden feilgeboten. Daneben stehen große Säcke mit Kokablättern und an den Wänden hängen aguayos, die auch bei Tourist*innen begehrt sind. Was mir jedoch sofort ins Auge fällt, sind die toten Lamaföten. Sie werden neben den illas und Kokablättern, eingewickelt in Fett und Wolle, auf das Papier des mesita gelegt.
Dieser Markt ist bekannt als „mercado de brujas“, als „Hexenmarkt“. Der Name verrät schon einiges über die Einstellung der weiß/mestizischen, hegemonialen Schichten Boliviens gegenüber den Ritualen und spirituellen Praktiken der Indigenen. „Oft werden die indigenen yatiri, maestros oder amawt’as als Hexer beschimpft“, erzählt Freddy Mamani mir. In der Kultur der Aymara in Bolivien gibt es vier Begriffe für die Spezialist*innen in indigenen Ritualen und Heilpraktiken: yatiri, ch’amakani, qulliri und amawt’a. Als amawt’a wird ein*e hochrangige*r Spezialist*in für Rituale und Heilung bezeichnet, vor allem in der Stadt. In ländlichen Gebieten bezeichnen sich die indigenen Heiler*innen eher als kurantirus oder maestros. Amawt’a wird oft mit „der*die Weise“ oder „Philosoph*in“ übersetzt. Yatiri ist die allgemeine Bezeichnung für eine*n Spezialist*in für Rituale. Er*Sie liest aus Kokablättern und bietet rituelle mesas (rituelle Opfergabe für verschiedene Geister) an.
Bis heute ist das Leben vieler Indigener von Diskriminierung geprägt. „La Paz ist eine Stadt mit kolonialer Geschichte. Die kolonialen Stereotype und Vorstellungen in Bezug auf den Nachnamen, die Farbe der Haut, die Abstammung existieren nach wie vor. Das gute Leben eines Indigenen in der urbanen Umgebung ist abhängig von der Freiheit, seine cosmovisión und Spiritualität ausleben zu können, ohne diskriminiert zu werden“, findet Freddy Mamani. „Solange die Hautfarbe, der Nachname und die Herkunft weiterhin ausschlaggebend sind, um ein guter Bürger zu sein, ist dies nicht möglich. Es gab viele Indigene, die ab den 1950er Jahren versucht haben, ihren Nachnamen zu ‚weißen‘ oder einer bestimmten Glaubensgruppe beizutreten, um dazuzugehören. Das Ausleben meiner Wertvorstellungen und Glaubenssätze steckt zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite ist ein sehr strenges katholisches System und auf der anderen Seite ein kleiner Teil der Bevölkerung, der ein bisschen offener ist. Die meisten Menschen haben das Thema Spiritualität nicht verstanden. Wir sind hier in meiner Gegend das einzige Haus, die einzige Familie, die offen ihre Spiritualität lebt, ihre Glaubensvorstellungen. Es ist schwierig. Wir sind die Seltsamen in der Gegend hier“.
Diese Diskriminierungen ziehen sich durch viele Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Freddy Mamani hat mit seiner Frau Tania zwei Söhne. Sie heißen Ayar und Waskar und tragen langes Haar. Sie sind lebhafte Jungen, die gerne in der Natur spielen und ganz selbstverständlich die Weltanschauung ihrer Eltern lernen. Dabei beklagt Freddy Mamani, dass „das Schulsystem immer noch von rückständigen Vorstellungen durchzogen ist. Es fängt bei den Haarschnitten an. Aber auch das tägliche Beten oder die Schuluniformen gehören dazu. Es ist schwierig, hier anders zu sein. Man wird stigmatisiert und diskriminiert. Es ist ein bisschen anders, wenn man es mit der oberen Mittelschicht oder der Oberschicht zu tun hat. Sie tolerieren zumindest unseren Ausdruck der Indigenität. Ich weiß nicht, ob sie sie respektieren oder verstehen, aber sie tolerieren sie. In El Alto ist es wieder anders. Dort wohnen deutlich mehr indigene Aymara und Quechua. Es gibt eine größere Akzeptanz von Seiten katholischer oder evangelischer Indigener gegenüber den überlieferten Praktiken, denn sie haben die gleichen Vorfahren wie wir.“
Eine ch’alla für dein Auto
Abseits des Zentrums schlängeln sich steile Straßen den Berg nach El Alto (dt.: die Höhe) hoch. Die Stadt liegt unmittelbar westlich von La Paz und zählte bis 1985 noch als Stadtteil zu ihr. Hier schmücken hin und wieder Luftschlangen ein Auto. Manchmal sieht man auch ein Geschäft, vor dem ein mesita verbrannt und der Boden mit Flüssigkeit beträufelt wurde – Hinweise auf eine ch'alla. Die ch'alla ist ein Brauch der Aymara. Sie besteht darin, den Boden oder einen Gegenstand, für den Schutz gesucht wird, mit rituellen Getränken zu befeuchten. Während des Rituals wird der erste Schluck des Getränks an die Pachamama gegeben und es wird um Vermögen und Erfolg für das betreffende Objekt, das Unternehmen oder das Fest sowie um die Erlaubnis gebeten, weiterhin davon profitieren zu dürfen.
Die Aymara haben ihre Bräuche wie die ch‘alla oder auch den mesita teilweise an die Lebensumstände in der Stadt angepasst. Während bei der ch‘alla auf dem Land der Erde für ihre Gaben bei einer reichen Ernte gedankt wird, sieht man in der Stadt auch Läden oder Autos, bei denen eine ch‘alla durchgeführt wurde. „Wenn es dir sehr wichtig ist, dein Auto zu ehren, weil es dir eine Lebensgrundlage in der Stadt gibt, dann ist es vollkommen in Ordnung, für dein Auto eine ch‘alla durchzuführen“, meint Freddy Mamani.
In einer dieser steilen Straßen, in Pasankeri (Stadtteil von La Paz), liegt Freddy Mamanis kleines Lokal. Dort empfängt er auch Kund*innen. „Wir nennen sie nicht Kunden. Sie sind Brüder und Schwestern“, erklärt er. Unter den Gästen sind manchmal auch Ausländer*innen. Die meisten sprechen Spanisch. Das ist essenziell für die Verständigung. Sonst muss jemand übersetzen. „Wir gehören hier einem Verband der yatiri an. Immer, wenn wir die Möglichkeit haben, öffnen wir unseren kleinen Laden und führen Heilungen durch. So machen wir auch temazcales (Dampfbad zur Heilung; Anm. d. Red.) oder Rituale mit Tabak und Weihrauch. Wann immer es möglich ist, erkläre ich während der Zeremonien auch ihre Bedeutung. Es gibt aber Rituale, während derer Stille herrscht. Dann sprechen wir am nächsten Tag über das, was wir in der Nacht gemacht haben. Manchmal stellt die Sprache aber ein Problem dar. Aus dem Aymara wird ins Spanische und dann vielleicht noch in eine weitere Sprache übersetzt. Konzepte, wie das des ajayu, verlieren so ihre tiefe, kulturelle Bedeutung.“
Das Stadtbild von La Paz ist multikulturell. Jedem*Jeder Besucher*in fällt dies sofort auf. Es ist ein schönes, ein buntes Bild. Aber viele Indigene erleben immer noch Diskriminierung und Stigmatisierung. Nach den abgebrochenen Wahlen im Oktober und dem Putsch gegen Evo Morales ist die Angst vor erneuter, schwererer Unterdrückung gestiegen. Welche Auswirkungen die Übergangsregierung und die im September neu zu wählende Regierung auf das Land und seine indigene Bevölkerung haben werden, ist noch unklar.
Svenja Osmers studiert Atlantic Studies in History, Culture and Society an der Leibniz Universität in Hannover. Seit 2008 lebte sie für insgesamt zwei Jahre in Bolivien. Grundlage für diesen Artikel bildet das persönliche Treffen der Autorin mit Freddy Mamani Mollo im August 2019 und ein Interview im Juni 2020.
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