1915 bis 2015: Die Vernichtung der orientalischen Christen und das Versagen des Völkerrechts

Der Völkermord von 1915 unterschied sich allein in seinem Ausmaß von den Verbrechen, denen sich die orientalischen Christen seitdem immer wieder ausgesetzt sehen. Prof. Hannibal Travis spannt einen Bogen von den Ereignissen vor 100 Jahren bis in die Gegenwart und beleuchtet, wie das Völkerrecht und die Staatengemeinschaft bis heute versagen, um derartige Verbrechen zu verhindern.
Von Hannibal Travis
Wiederholt sich die Geschichte? 1996 hat Bat Ye’or Beweise dafür vorgelegt, dass die orientalische Christenheit – das reiche ethnische und nationale Erbe der Armenier, Assyrer, Pontus-Griechen, Maroniten, Kopten und anderen Minderheiten im Mittleren Osten – in Gefahr ist. Durch den umfassenden historischen Überblick sowie Exzerpte aus Schlüsseldokumenten macht Ye’or deutlich, dass das orientalische Christentum unter dem Druck, der Diskriminierung und der Gewalt, die an dem Armenier-Völkermord von 1915 exemplarisch dargestellt wird, in Vergessenheit gerät.[1] Der chaldäische Patriarch von Bagdad, Raphael I. Louis Sako, hat kürzlich festgestellt, dass die Katholiken in der heutigen Türkei vier Diözesen und drei Bischöfe während des Völkermords von 1915 – 2015 verloren, und die Katholiken im Irak eine ähnliche Reduktion um die Hälfte allein seit 2004 erlitten haben.[2] Der Genozid-Forscher Taner Akcam sieht eine Verbindung zwischen den Ereignissen, die ein Jahrhundert auseinander liegen, vor allem darin, dass türkische Politiker die Identität ihrer Nation auf Kosten der Christen radikalisieren.
Als im August 2014 der Islamische Staat gewaltsam ein Drittel des Irak besetzt und 200.000 Assyrer sowie andere Christen vertrieben hat, sprachen Beobachter davon, dass „die letzte Hochburg derer, die noch Aramäisch sprechen auf der Welt, nun ihr Schlusskapitel erlebt, denn die Sprache stirbt aus“.[3] Diejenigen, die nicht geflohen sind, wurden gefoltert und getötet, darunter ein Vater, dem die Augen ausgeschlagen wurden, und sein neunjähriger Sohn, der von einem Auto durch die Straßen von Qaraqosh geschleift wurde. Obwohl die 200.000 bis 250.000 vertriebenen Christen gern in ihre Heimat zurückkehren würden, so wissen sie doch, dass sich „viele ihrer sunnitisch-islamischen Nachbarn begierig den Terroristen des Islamischen Staats angeschlossen haben, so dass sie sich niemals wieder sicher fühlen können, auch wenn die Dschihadisten besiegt werden sollten“.[4]
Mehrere Wellen der Verfolgung haben die orientalischen Christen in ihrer mittel- und zentralasiatischen Heimat zu einem Schatten von dem gemacht, was sie einmal waren. Im Mittelalter verschwanden die nestorianischen Diözesen östlich von Persien. Im späten 19. sowie im frühen 20. Jahrhundert haben osmanische und irreguläre kurdische Verbände die meisten orientalischen Christen im heutigen nördlichen Iran und der östlichen Türkei vernichtet. Zwischen 1980 und 2010 hat die Entstehung von theokratischen Regierungen und gewalttätigen Milizen die urbanen Gemeinden von Teheran, Bagdad, Mossul, Basra und der östlichen Türkei dezimiert.
Seit 2011 erleben wir die Eliminierung der Armenier, Griechen, Maroniten und Assyrer aus den letzten Orten, an denen sie sich sicher fühlten und ihr kulturelles Erbe pflegen konnten, darunter die Ebene von Ninive, sowie aus Aleppo, Damaskus, alQamishli, Hassake und Homs. Damit einher werden die verbliebenen vorchristlichen Religionen von Mesopotamien und Persien, die Mandäer und Yeziden, ebenso brutal aus diesen Orten vertrieben. Es wird auch vermutet, dass das Christentum unter den Arabern in Palästina zwischen 2030 und 2040 verschwunden sein wird.[5]
Dieser Text – in Form eines Abrisses - beschreibt meine Forschungen zu dem Thema, meine jüngsten Versuche, die Aufmerksamkeit auf die Krise der orientalischen Christen zu lenken, und meine Erklärungen, warum sich die Führer der Welt nicht kümmern und nichts unternehmen, damit das orientalische Christentum überlebt. […]
Leugnung in der Vergangenheit – Widerhall in der Gegenwart
Faktoren, die Forscher als Ursache für einen Völkermord ansehen, sind die Leugnung vergangener Völkermorde, Krieg, die Herausbildung von Milizen, fanatische Propaganda, Massenvertreibung, Waffenimporte und Menschenrechtsverletzungen. Die Assyrer und vor-christliche Minderheiten wie die Mandäer und Yeziden hatten nie die Mittel für Forschungen, die ihre Notlage ins Zentrum rückten, so wie sie den arabischen Staaten, den Armeniern, der Türkei, den Kurden, Europa und den Vereinigten Staaten zur Verfügung stehen. Die Türkei und ultranationalistische Geldgeber haben große Summen ausgegeben, um diejenigen zu diskreditieren, die über den Völkermord an den Armeniern oder auch den anderen christlichen Gruppen schreiben.[6] Artikel I. der Konvention gegen den Völkermord verbietet theoretisch allen Staaten, Völkermord zu begehen. Er soll „Völkermord verhindern und bestrafen, wann immer und unter welchen Bedingungen er begangen wird.“[7]
Es gibt zudem die Übereinkunft, die Vorbereitung von Völkermord zu verhindern und zu bestrafen, selbst wenn er gar nicht ausgeführt wird. Völkermord unterscheidet sich von anderen, weit verbreiteten Verbrechen wie der Ermordung von besiegten Kriegsgegnern, der Folter von Verdächtigen oder von Kriegsgefangenen. Sein extremer Charakter ist die Ursache dafür, dass Raphael Lemkin diesen Begriff eingeführt hat, der die staatliche Souveränität in Fällen von weit verbreiteter Grausamkeit einschränkt und die Verantwortung für den Schutz von einer Nation auf den gesamten Planeten überträgt. Er sah die vertragliche Verpflichtung auf der universell-menschlichen und nicht nur auf der nationalen Ebene. Sein Ziel war es, dort wo eine Nation einen Völkermord vorbereitet, die Regierung zu wechseln, wie im Osmanischen Reich vom frühen 20. Jahrhundert, in Deutschland Mitte der 1930 Jahre – und in dem heutigen „Islamischen Staat“.
Die VölkermordKonvention ist nicht genutzt worden, um die bevorstehende Vernichtung des Christentums im Iran, dem Irak, Syrien und der Türkei zu verhindern. Die Vereinten Nationen haben versagt, ihre Handwerkszeuge – Verurteilungen, Aktivitäten des Sicherheitsrates, Wirtschaftssanktionen und Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten – im Falle der anti-kurdischen und anti-christlichen Massaker in diesen Ländern einzusetzen, so wie sie dies nach kleineren Massakern im Kosovo getan haben.
Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten haben ausdrücklich jede Verantwortung für den Schutz der vertriebenen und getöteten Christen von sich gewiesen, auch wenn die Gewalt durch deren Kriege und Wirtschaftssanktionen ausgelöst wurde.[8] Fanatische und ultra-nationalistische Araber, Kurden, Perser und Türken haben armenisches, griechisches und assyrisches Land besetzt sowie armenische, griechische und assyrische Kirchen, Siedlungen und Dörfer zerstört, ein Prozess, der im Irak und Syrien ebenso wie im Südosten der Türkei und im Nordosten vom Iran bis heute anhält. Ortsansässige Araber, Kurden, Perser und Türken haben Eigentumsrecht für Land, religiöse Gebäude und Häuser erworben, die sie im Zuge religiöser Kampagnen gegen Armenier, Griechen und Assyrer als „herrenloses Eigentum“ okkupiert haben, eine Rechtsgrundlage, die noch aus osmanischer Zeit stammt.[9]
Forscher, die diese Prozesse dokumentieren wollen, lehren in der Regel nicht an renommierten Universitäten, und sie sind einer Marginalisierung ausgesetzt angesichts der Fülle von Veröffentlichungen zur arabischen Identität, palästinensischen Rechten, kurdischen Ansprüchen, etc… Auf akademischen Konferenzen über den Völkermord im Mittleren Osten, die ich besucht habe, haben Akademiker ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck verliehen, das die Assyrer und andere kleine Gruppen überhaupt erwähnt werden, und häufig haben sie beteuert – trotz erdrückender Beweise für das Gegenteil – dass die Assyrer nie existiert hätten.
2010 habe ich eine Monografie veröffentlicht, die erstmals eine umfassende rechtliche und soziale Geschichte des Völkermords im Mittleren Osten und Nordafrika vorlegt.[10] Mein Buch zeigt unterstützende Faktoren zum Völkermord an den osmanischen Christen und deren Ausmaß auf, unter anderem wirtschaftliche Anreize, Imperialismus, Rassismus, die deutsche Anstiftung und die preußisch-deutsche Militär-Taktik. Über eintausend Jahre haben ethnische Türken, Kurden und Turko-Mongolen die Siedlungen, Kirchen, das Gold und die Personen in Form von Versklavung der eingesessenen Armenier, Assyrer, Griechen und slawischen Christen geplündert und gestohlen. Der osmanische Völkermord an den Christen beschleunigte diesen Trend durch die Militärherrschaft der Jungtürken, die Notwendigkeiten, mit denen Regierungen während eines Krieges konfrontiert sind sowie die Einwanderung von muslimischen Flüchtlingen aus dem Balkan und dem russischen Reich.[11] Der Antisemitismus hat durch die Machtübernahme der Nazis ebenso einen erheblichen Aufschwung erfahren.
Seit 2003 wurde deutlich, dass Staaten, die einen politischen Wechsel durchlaufen oder einen bewaffneten Konflikt erleben, im Fokus der Völkermord-Prävention sein sollten, denn es werden in der Regel Milizen gebildet, während Minderheiten über keine Macht verfügen oder keine Möglichkeiten haben, ihre Rechte zu schützen; den Minderheiten wird vorgeworfen, mit den Feinden der Mehrheiten zu kollaborieren, die religiöse Freiheit ist in Gefahr, Folter und Mord nehmen epidemische Ausmaße an. Länder, auf die diese Beschreibung in der jüngeren Vergangenheit zutrifft, sind Afghanistan, die Zentralafrikanische Republik, Kolumbien, die Demokratische Republik Kongo, Ägypten, der Irak, Libyen, Myanmar, Nigeria, Pakistan, Sri Lanka, der Sudan und Syrien.
Im 21. Jahrhundert wurden die Assyrer, Armenier, Mandäer und Yeziden im Irak massakriert oder massenhaft vertrieben. Sie haben den größten Teil ihrer Bevölkerung durch Flucht vor ethnischen Säuberungen verloren. In Bagdad und Basra begannen 2003 massive Bombardements von zivilen christlichen und schiitischen Zielen und 2005 haben gezielte Morde die meisten Assyrer aus Basra vertrieben. 2007 haben zehntausende Yeziden den Irak verlassen. Terrorangriffe haben vermutlich 400.000 Christen aus dem Irak vertrieben ebenso wie 2008 etwa 70.000 Kurden gemeinsam mit der verbliebenen christlichen Bevölkerung aus Mosul. 2010 sind weitere tausende Assyrer nach Bombenanschlägen auf die katholische Maria-Erlösungs-Kirche und christlichen Wohngebieten aus Bagdad geflohen. Seit 2011 schließlich sind Armenier, Assyrer und Griechen zu großen Teilen aus Aleppo, Homs und Maloula sowie zu kleineren Teilen aus Damaskus und al-Qamishli geflohen, als die „Freie Syrische Armee“ und ihr Verbündeter Jabhat al-Nusra (die syrische Vertretung von al-Qaida) den Dschihad gegen alle Nicht-Sunniten im Land verhängt hat, weil sie sich gegen die von den Golfstaaten und der Türkei unterstütze Revolution gestellt hätten. Die Hälfte der syrischen Christen ist auf der Flucht, so wie die Hälfte der Armenier und Assyrer seit 2008 aus dem Irak geflohen ist.[12]
Seit 2003 gehen in Afghanistan und dem Irak zahlreiche Morde direkt auf Bombenanschläge zurück, die von Saudi-Arabien oder Pakistan unterstützt wurden und sich unmittelbar gegen zivile Ziele wie Märkte, Hotels und Gotteshäuser richteten. Dennoch weigern sich die Vereinten Nationen, diese Attacken Saudi-Arabien und Pakistan anzulasten, wo sie geplant und finanziert wurden, während die Verurteilung der „Russland-gestützten“ Angreifer in der Ukraine selbstverständlich ist. Seit 2010 sind die Veteranen dieser Mordkampagnen nach Libyen, Mali und Syrien weitergezogen, deren Kulturen ebenso vor der Vernichtung stehen wie in Afghanistan seit 2002. Saudi-Arabien, Katar und die Türkei haben Sudans Herrscher Omar al-Bashir ihre starke Unterstützung versichert, obwohl gegen ihn ein Haftbefehl wegen Völkermord vom Internationalen Gerichtshof erlassen wurde. Gleichzeitig erklären diese Nationen, sie würden Demokratie, ein Ende der Repression sowie die Modernisierung in Syrien unterstützen.
Übersetzt von Klemens Ludwig
Durchsicht von Abdulmesih BarAbraham
[1] Bat Ye'or, The Decline of Eastern Christianity Under Islam: From Jihad to Dhimmitude(Fairleigh Dickinson University Press, 1996); Sidney Griffith, ‘The Decline of Eastern Christianity under Islam: From Jihad to Dhimmitude, Seventh-Twentieth Century,’ International Journal of Middle East Studies30(4) (1998): 619-621.
[2] Joseph Mahmoud, ‘Out of the Synod Comes a United Chaldean Church That Is Closer to Refugees, Says Baghdad Patriarch,’ Asia News,Feb. 9, 2015, www.asianews.it/news-en/
[3] Ross Perlin, ‘Is the Islamic State Exterminating the Language of Jesus?´, St. Paul Pioneer Press (Minnesota/United States), Aug. 24, 2014.
[4] Christian Cary, ‘It's a Black Christmas for the Christians of the Middle East,’ Foreign Policy, Dec. 23, 2014.
[5] Hannibal Travis, ‘Wargaming the Arab Spring: Predicting Likely Outcomes and Crafting U.N. Responses,Cornell International Law Journal 46, 2013, S. 79.
[6] Siehe u. a., Dennis R. Papazian, “Misplaced Credulity: Contemporary Turkish Attempts to Refute the Armenian Genocide,” Armenian Review45, no. 1-2/177-178 (Spring-Summer 1992).
[7] Hannibal Travis, „On the Original Understanding of the Crime of Genocide, Genocide Studies And Prevention 7(1), 2012, S. 39