"Ich weiß, was es heißt, als Flüchtling in vielen Ländern zu leben"

Die Organisation Partners Relief & Development hat sich zum Ziel gesetzt, die Lebensbedingungen der vertriebenen Rohingya zu verbessern, sie installiert beispielsweise Wasserpumpen. Foto: Steve Gumaer via Flickr

 

Sie sind Staatenlose im eigenen Land – die muslimischen Rohingya, die die Vereinten Nationen als die „am meisten verfolgte Minderheit der Welt“ bezeichnen. Weil sie keine Staatsbürger mehr sind, werden sie wie Rechtlose behandelt und bekommen keine Ausweise. Wer heiraten will, braucht eine Erlaubnis, die oft Jahre auf sich warten lässt. Eheleute dürfen, wenn sie Rohingya sind, nicht mehr als zwei Kinder bekommen. Regelmäßig werden Rohingya als Zwangsarbeiter eingesetzt. Viele suchen deshalb Zuflucht in den Nachbarländern. Ihre Lage dort ist nicht viel besser. bedrohte Völker – pogrom hat mit der 1977 geborenen Dr. Ambia Perveen über die prekäre Situation der Rohingya gesprochen. Sie ist selbst Rohingya und arbeitet als Kinderärztin in Bonn. Seit Jahren setzt sie sich für die Rechte ihrer Volksgruppe ein.

Die Rohingya-Menschenrechtsaktivistin Ambia Perveen. Foto: Gulmira Imin/Weltkongress der Uiguren

 

GfbV: Wer sind eigentlich die Rohingya?

Ambia Perveen: Rohingya sind Ureinwohner Arakans*. Einige Quellen datieren ihren Ursprung bis ins 7. oder 8. Jahrhundert nach Christus zurück. Historischen Studien zufolge stammen die Rohingya von verschiedenen Volksgruppen ab: von Arabern, Moors, Paschtunen, Mogulen, Bengalen sowie von Ariern und Indo-Mongloiden. 1799 tauchte der Begriff „Rohingya“ erstmals in einem westlichen Reisebericht auf. Rohingya und Rakhine lebten bis zur burmesischen Invasion 1784 im Königreich von Mrauk U in Frieden zusammen. Von da an regierte der burmesische König nach dem Prinzip „Teile und Herrsche“. Zurzeit gibt es in Burma etwa 1,3 Millionen Rohingya, die meisten von ihnen im Rakhine-Staat.
Eine Million leben in Saudi-Arabien, Bangladesch, Pakistan, Thailand, Indien, Malaysia und Indonesien. Der Rakhine-Staat war früher reich an fruchtbarem Land und die meisten Rohingya waren Bauern. Während der britischen Besatzung [1885-1948, d. Red.] arbeiteten viele gebildete Rohingya als Beamte für den Staat. Diese Entwicklung setzte sich bis zum Staatsstreich des Diktators Ne Win im Jahr 1962 fort. Heute sind die Rohingya in vielerlei Hinsicht, von der Bildung bis zur Bewegungsfreiheit, eingeschränkt. Ihre Lebensumstände haben sich dramatisch verschlechtert.

GfbV: Deine schwangere Mutter trug dich damals unter dem Herzen, als sie mit Familie aus Burma geflohen ist. Würdest du uns über deine Erfahrungen im Ausland berichten und darüber, was dich schließlich dazu bewogen hat, als Aktivistin im Europäischen Rat der Rohingya (ERC) mitzuarbeiten?

Ambia Perveen: Mein Vater hat sich für eine bessere Schulausbildung von jungen Rohingya eingesetzt. Aufgrund seines Engagements musste er aus seinem Land flüchten. Ich war noch ein kleines Mädchen und ich weiß, was es heißt, als Flüchtling in vielen Ländern zu leben. Wir waren stets mit den Menschen in Burma in Verbindung. Ich weiß daher über das Leid unserer Gemeinschaft und über die Gräueltaten, die das burmesische Regime an den Rohingya verübt hat, bestens Bescheid. All das hat mich dazu bewegt aktiv zu werden. Da ich derzeit in Europa lebe, glaube ich, dass die aktive Mitgliedschaft beim ERC die beste Möglichkeit ist, meine Leute in Burma zu unterstützen.

GfbV: Die UN sehen die Rohingya als eine der am stärksten verfolgten Minderheiten der Welt. Warum wurde ihnen solch ein trauriger Titel zuteil und wie werden Rohingya und Muslime generell in Burma gesehen?

Ambia Perveen: Die UN haben viele Beweise dafür, dass die burmesische Regierung die Rohingya gnadenlos verfolgt. Da diese den Zugang zum Rakhine-Staat für Journalisten eingeschränkt hat, sind Nachrichten über die Verfolgung unter der Kontrolle der Militärregierung. Als jedoch 2012 groß angelegte, von der Regierung unterstützte Verfolgungsaktionen außer Kontrolle gerieten, erregte dies die Aufmerksamkeit internationaler Medien. Seitdem schenkt die Welt der Situation der Rohingya in Burma mehr Beachtung. Es ist klar, dass jede Art der Verfolgung der Rohingya sehr stark zugenommen hat. Dies macht ihre Situation derart entsetzlich und hat ihnen den Titel als „eine der am stärksten verfolgten Minderheiten der Welt“ eingebracht. Rohingya und andere Muslime sind eine kleine Minderheit in Burma verglichen mit den 80 Prozent Buddhisten. Burmesische Nationalisten betreiben seit Mitte der 1960er Jahre religiöse und ethnische Diskriminierung. Sie haben nach und nach den Hass der buddhistischen Mehrheit geschürt, indem sie Hasspredigten und alltägliche Diskriminierung von Nicht-Buddhisten erlaubten. Insbesondere die Parolen des berüchtigten Mönchs Wirathu und seiner Gruppe Ma Ba Tha [Mehr Informationen ab Seite 29] haben den Hass gegen Muslime zunehmend geschürt. Sie vermitteln den Menschen, dass es eine Pflicht sei, Muslime zu hassen, um den Buddhismus im Land zu schützen. Leider unterstützt die Regierung Wirathu. Bei den Parlamentswahlen 2015 wurden im Vorfeld muslimische Kandidaten allein wegen ihres Glaubens ausgeschlossen. Das Leben von Muslimen generell und besonders das der Rohingya ist in Burma an einem kritischen Punkt angelangt, an dem es darauf ankommt, wie das neu gewählte Parlament mit der Situation umgeht.

Viele Rohingya sind 2012 vertrieben worden und in Lagern für Binnenflüchtlinge untergekommen. Dort werden sie immer wieder Opfer physischer Gewalt durch Sicherheitskräfte, die die Lager bewachen. Foto: Bernard Jaspers-Fajer EU/ECHO

GfbV: Der Staat hat den Rohingya ihre bürgerlichen Rechte durch das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1982 entzogen. Was heißt es, staatenlos zu sein?

Ambia Perveen: Wir sind an sich nicht staatenlos, sondern erst diese brutale burmesische Regierung hat uns staatenlos gemacht. Das Staatsbürgerschaftsgesetz verstößt in vielerlei Hinsicht gegen internationale Standards und kann natürlich als ungerecht bezeichnet werden. Mit Gesetzen, die die Möglichkeiten einer bestimmten ethnischen Gruppe einschränken, legitimiert die burmesischeRegierung Genozid. Während andere Länder Einheit trotz Vielfalt anstreben, um ihren Einwohnern Wohlbefinden und Wohlstand zu sichern, ist es sehr traurig zu sehen, wie Burma in ein dunkles Zeitalter von Hass und Diskriminierung zurückfällt.

GfbV: Warum und wie verfolgt die burmesische Regierung die Rohingya?

Ambia Perveen: Im Nationalmuseum in Yangon gibt es Dutzende, traditionell bekleidete Figuren, die die verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes repräsentieren. Leider ist darunter keine, die für die Rohingya steht. Der Name „Rohingya“ wurde aus Schulbüchern entfernt und der rohingyasprachige Radiosender abgeschafft. All das weist darauf hin, dass die Regierung vorhat, die Kultur der Rohingya verschwinden zu lassen. Das beginnt schon damit, dass die Regierung die Bewegungsfreiheit einschränkt. So können viele Rohingya-Kinder keine höheren Bildungseinrichtungen besuchen und die Gesundheitsversorgung ist dadurch ebenfalls beeinträchtigt. Da Rohingya als illegale Einwanderer behandelt werden, ist es ihnen außerdem nicht gestattet, Medizin, Ingenieurswesen oder andere Fächer zu studieren. Das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1982 sorgt außerdem für eine Kontrolle der Bevölkerungsentwicklung der Rohingya: Heiraten sind eingeschränkt und sie dürfen nicht mehr als zwei Kinder bekommen. Hohe Steuern auf die Geschäfte und Landwirtschaft von Rohingya sowie die willkürliche Erpressung Einzelner beweisen, dass die Verfolgung staatlich institutionalisiert ist. Am schlimmsten ist die Zwangsarbeit an Infrastrukturprojekten sowie bei der Errichtung buddhistischer Bauwerke, oft auch auf dem vorher enteigneten Land, die Rohingya- Bauern leisten müssen, um mit ihrem mageren Einkommen von der Hand in den Mund leben können.

Figur mit traditionellem Schmuck im Nationalmuseum in Yangon. Dort gibt es Dutzende solcher Figuren, die die verschiedenen ethnischen Gruppen des Landes repräsentieren. Es gibt jedoch keine, die für die Rohingya steht. Foto: Adam Jones via Flickr

GfbV: Die Rohingya leben in Camps für Binnenvertriebene, sogenannte Internally Displaced Persons (IDP) Camps, in Sittwes Ghetto Aung Mingalar und in Dörfer verteilt über den Rakhine-Staat. Wie sind ihre Lebensbedingungen generell und speziell jetzt nach den schrecklichen Überschwemmungen im August 2015?

Ambia Perveen: Heute leben mehr als eine Million Rohingya in IDPCamps im Rakhine-Staat. Diese Camps sind in einem erbärmlichen Zustand und nicht dazu geeignet, starken Unwettern zu trotzen. Es gibt weder ein richtiges Abwassersystem noch sanitäre Anlagen. In manchen Camps teilen sich mehr als 100 Menschen eine Toilette. Das führt zu vielen Infektionskrankheiten. Insbesondere das Aung-Mingalar-Camp sieht aus wie ein Ghetto aus dem Zweiten Weltkrieg. Gleich gegenüber davon lebt die Gemeinschaft der Rakhine in Freiheit, Wohlstand und ohne Einschüchterungen, während die Rohingya in permanenter Gefahr sind, keinen Zugang zu Nahrung, Gesundheitsversorgung und Bildung haben und auf UN-Gelder angewiesen sind. Von der Flut sind Hunderttausende Rohingya betroffen. Ihre Camps wurden nicht ordnungsgemäß evakuiert und die Menschen wurden auch von staatlichen finanziellen Hilfen ausgeschlossen. Zum Teil wurden ihnen sogar internationale Hilfsgelder vorenthalten. Nach unseren Informationen müssten die meisten IDP-Camps repariert und besser vor Regen und starkem Wind geschützt werden.

GfbV: Sie sind Kinderärztin. Können Sie uns mehr über das Leid der Rohingya-Kinder erzählen?

Ambia Perveen: Die Kinder im Rakhine-Staat und insbesondere in den IDP-Camps sind unterernährt. Die staatlich unterstützte Verfolgung hat ihnen eine normale Kindheit genommen. Sie stehen unter permanentem Druck, genug zu essen und einen sicheren Schlafplatz zu finden. Die Kinder sind traumatisiert, das macht sie anfällig für psychische Störungen. Aufgrund fehlender Impfungen laufen sie Gefahr, krank zu werden. Der fehlende Zugang zu Bildung bedeutet ein Leben in Unsicherheit. Ich glaube, die internationale Gemeinschaft kann vieles tun, um diesen notleidenden Kindern zu helfen. Als leidenschaftliche Kinderärztin ist das Leid jedes einzelnen Kindes für mich hart zu ertragen. Kindern bessere Bedingungen zu schaffen, bedeutet für mich, eine bessere Zukunft zu ermöglichen.

GfbV: Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?

Ambia Perveen: Es muss ein Bewusstsein für kollektive Verantwortung geschaffen werden. Als Aktivistin und Mitglied im ERC versuche ich, dieses Bewusstsein international zu steigern. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Rohingya in Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft die burmesische Regierung dazu bringen können, diese unmenschliche Verfolgung von Rohingya und anderen ethnischen Minderheiten zu stoppen. Damit würden wir nicht nur den Rohingya helfen, sondern der ganzen Welt. Verfolgungen ziehen Domino-Effekte nach sich. Das kann man derzeit am globalen Flüchtlingsproblem sehen. Wir müssen Verfolgungen ein Ende setzen.

Das Dorf Narzi nahe der Stadt Sittwe, in dem Rohingya lebten, wurde im Zuge der Unruhen 2012 dem Erdboden gleichgemacht. Foto: Adam Jones via Flickr

GfbV: Der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) hat bisher nichts gegen die Verfolgung der Rohingya unternommen. Wie wir gesehen haben, beeinträchtigt die Rohingya-Flüchtlingskrise jedoch die regionale Stabilität Südostasiens, indem sie auch Spannungen in Nachbarländern erzeugt. Welche Rolle sollte der ASEAN Ihrer Meinung nach spielen?

Ambia Perveen: Zuallererst sind die ASEAN-Staaten durch Wirtschaftsinvestitionen oder anders gesagt „wirtschaftliche Ausbeutung“ eng mit Burma verbunden. Sie sind deshalb darauf angewiesen, gute Beziehungen zu Burma zu pflegen. Doch dieser Ansatz sollte umgedacht werden, wenn es um Leben und Tod einer Bevölkerungsgruppe geht. Die aktuelle Bootflüchtlingskrise der Rohingya ist ein Warnsignal an die ASEAN-Staaten. Wenn Burma sein Problem nicht löst, kann es zu einem regionalen oder gar globalen Problem werden. Die Rohingya fordern nichts Unmögliches ein, sondern nur die Zurückerlangung ihrer Rechte als Staatsbürger Burmas sowie fundamentale Menschenrechte, denen jeder der ASEANStaaten durch die Unterzeichnung der UN-Charta verpflichtet ist. Daher sollten die ASEAN-Länder mehr mit Burma kommunizieren und Ressourcen sowie Telekommunikation zur Verfügung stellen, um die Rohingya vor Verfolgung zu schützen.

GfbV: Die Wahlen finden im November 2015 statt. Was sind Ihre Hoffnungen und Erwartungen für Burma und speziell für die Rohingya?

Ambia Perveen: Dies ist eine gute Möglichkeit für Burma, seine Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und wieder den Weg zu Frieden und Wohlstand zu finden. Aber die tatsächlichen Entwicklungen gehen in die entgegengesetzte Richtung. Anstatt freie und faire Wahlen zu gewährleisten, benutzt die Regierung nationalisische Mönche, die gegen demokratische Kräfte wie die Nationale Liga für Demokratie (NLD) predigen. Wählerlisten werden manipuliert, sodass mehr als eine Million Rohingya nicht mehr wahlberechtigt sind. Prominente Rohingya werden nicht als Kandidaten zu den Wahlen zugelassen. Es scheint so, als sei die Regierung nicht ehrlich bei der Durchführung der Wahlen. Wir sind auch besorgt, dass es am Wahltag zu Ungereimtheiten kommt. Der gegenwärtigen Verfassung nach stehen dem Militär 25 Prozent der Parlamentsplätze zu. Dabei können Militär und Regierung als eins gesehen werden, da die meisten Abgeordneten der Regierung einen militärischen Hintergrund haben. Es wäre also angemessener die kommenden Wahlen als eine Show zu bezeichnen, die die internationale Gemeinschaft zufriedenstellen soll und nicht das aufrichtige Ziel verfolgt, eine Veränderung für die Menschen in Burma zu bringen.

 

*Arakan ist ein bereits untergegangenes Reich im Südwesten des heutigen Burmas. Heute wird das Gebiet als Rakhine-Staat bezeichnet.


Header Foto: Steve Gumaer via Flickr

Bild oben rechts:Gulmira Imin/Weltkongress der Uiguren

Bild Mitte: Bernard Jaspers-Fajer EU/ECHO via Flickr

Bild unten links: Adam Jones via Flickr

Bild unten Mitte: Adam Jones via Flickr



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