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28.06.2016

Rojava - „Schutzzone“ für religiöse und ethnische Minderheiten in Nordsyrien?

Bericht über die Recherchereise des GfbV-Nahostreferenten

GfbV-Nahostreferent sprach in Nordsyrien mit Repräsentanten fast aller dort vertretenen politischen Parteien, Religionsgemeinschaften, mit Vertretern der Minderheiten, der Sicherheitskräfte und Behörden sowie mit Journalisten, um sich ein unabhängiges Bild der Lage zu machen.

Der Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Dr. Kamal Sido, fuhr vom 12. März bis zum 3. April 2016 nach Rojava-Nordsyrien, um sich ein eigenes Bild von der Lage in dem Gebiet zu machen. Ein wichtiges Ergebnis dieser Reise waren rund 24 Interviews mit Angehörigen verschiedener Volksgruppen, von denen 18 als Anhang in seinem Bericht veröffentlicht sind.

In den westlichen Medien ist zum Teil immer noch das Bild der „guten Revolutionäre“ und des „bösen Regimes“ in Syrien präsent. Doch diese Darstellung ist spätestens seit dem Auftauchen der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS); früher auch bekannt als „Islamischer Staat im Irak und Syrien“ (ISIS) oder „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ (ISIL), überholt. Heute muss zur Kenntnis genommen werden, dass die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA) in Syrien von Islamisten vollständig unterwandert ist.

Die Zivilbevölkerung leidet im ganzen Land enorm unter dem seit 2011 tobenden Bürgerkrieg. Insbesondere die Situation der Minderheiten verschlechtert sich Tag für Tag. Sehr viele Minderheitenangehörige haben aus Angst vor Diskriminierung oder Überfällen bereits das Land verlassen. Es ist ihnen nicht möglich, in Sicherheit zu leben, da überall die Gefahr einer Entführung, Hinrichtung oder Folter droht. Innerhalb Syriens fliehen Angehörige der ethnischen und religiösen Minderheiten entweder in das vom Regime beherrschte Gebiet an der syrischen Mittelmeerküste im Westen, nach Damaskus oder in den Norden nach Rojava-Nordsyrien.

Dieses Gebiet, das in diesem Bericht Rojava-Nordsyrien genannt wird, hat verschiedene Bezeichnungen, deren Benutzung einiges über die politischen Ansichten eines Gesprächspartners verraten kann: Kurden aus den Reihen der Partei der Demokratischen Union (PYD), der führenden Kraft in Nordsyrien, nennen dieses Gebiet „Rojava“. Dieser Begriff ist eine Ableitung oder Abkürzung von dem kurdischen Namen „Rojavayê Kurdistan“. Anhänger von Masud Barzani, dem amtierenden Präsidenten von Irakisch-Kurdistan, die in Konkurrenz mit den Kurden aus dem Umfeld der in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) stehen, sprechen hingegen von „Kurdistana Suriyê“. Von vielen Assyrern/Aramäern und Arabern wird das Gebiet schlicht als „Nordsyrien“ bezeichnet.

Zunächst hatten die Kurden es geschafft, in den Wirren des syrischen Bürgerkrieges eine „Oase des Friedens“ aufzubauen. Ziel war jedoch kein eigener Staat, sondern der Beginn eines demokratischen Syriens mit einer Selbstverwaltung in einem föderalen Land. Dazu gehörten auch der Schutz von Minderheiten und politische Freiheiten für alle Bevölkerungsgruppen. Ab 2013 entstand eine eigene Selbstverwaltung mit einer Regierung, Quoten für die verschiedenen Minderheiten abhängig von deren Bevölkerungsanteil, Gleichberechtigung der Frau, Kulturzentren und einer eigenen Miliz und Polizei. Die Polizei und die Volksverteidigungseinheiten (YPG) haben Rojava-Nordsyrien in den vergangenen Jahren erfolgreich gegen den IS und andere Radikalislamisten verteidigt.

Während seiner Recherchereise besuchte unser Nahostreferent auch die Stadt Kobani, die zum Symbol des Widerstandes gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" geworden ist. Vor Ort sprach er mit den Bewohnern und konnte ihren Willen, Kobani wieder aufzubauen, hautnah miterleben.

Doch die Kurden stehen vor zahlreichen Problemen, die die aufgebaute Selbstverwaltung zunichtemachen könnten: Zum einen werden ihre Gebiete seit über zwei Jahren von Radikalislamisten angegriffen; die kriegerischen Auseinandersetzungen sind heftig und die Zivilbevölkerung wird immer öfter Ziel der radikalislamischen Kräfte. Zum anderen steht Rojava unter einem Embargo der lokalen Mächte: Im Süden gibt es die Blockade durch die Radikalislamisten, im Norden baut die Türkei eine Mauer und hält alle Grenzübergänge geschlossen. Auch die Grenze zu Irakisch-Kurdistan im Osten ist nicht ganz offen. Der Grenzübergang Fish Khabour (Sêmalka) ist unter der Kontrolle der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK Irak) des irakisch-kurdischen Präsidenten Masud Barzani. Die Beziehungen zwischen der DPK Irak und der PYD bzw. der PKK sind gerade von einer heftigen Konkurrenz gekennzeichnet. Von diesem innerkurdischen Streit ist auch der Grenzübergang Sêmalka betroffen. Immer wieder wird der Grenzübergang geschlossen. Wenn überhaupt, können nur Einzelpersonen diese „kurdisch-kurdische“ Grenze mit einem Motorboot über den Tigris überqueren. Dieses totale Embargo hat fatale Folgen für die Zivilbevölkerung in Rojava-Nordsyrien: Medikamente und Lebensmittel werden immer knapper und die Menschen verarmen zunehmend. In Notunterkünften fehlen Brennstoffe für Heizung und das Kochen und es brechen Infektionskrankheiten aus.

Rojava-Nordsyrien muss deswegen humanitär unterstützt werden, insbesondere bei der Bereitstellung von Trinkwasser und Strom. Auch die zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen, die sich in Rojava engagieren, sollten verstärkt finanziell unterstützt werden. Die türkische Regierung, die DKP Irak und die Syrische Nationale Koalition sollten dazu gedrängt werden, mit der regionalen Selbstverwaltung in Rojava sowie mit der PYD Gespräche über die bestehenden strittigen Fragen aufzunehmen. In Ihren Gesprächen mit Vertretern der türkischen Regierung sollte die deutsche Bundesregierung darauf drängen, dass Grenzübergänge nach Afrin, Kobani und Qamischli dauerhaft für Personen, Handel und vor allem humanitäre Hilfe geöffnet werden. Zudem darf die von der türkischen Regierung beabsichtigte „Schutzzone“ in Nordsyrien nicht unterstützt werden. Stattdessen sollte sich Ankara um einen Ausgleich mit den Kurden und Christen in Rojava bemühen.

Sie können den vollständigen Bericht inklusive Interviews online lesen oder kostenlos herunterladen: Rojava - "Schutzzone" für religiöse und ethnische Minderheiten in Nordsyrien? (pdf)

Sie können den Bericht - ohne die Interviews - auch in Arabisch online lesen oder kostenlos herunterladen: Rojava - "Schutzzone" für religiöse und ethnische Minderheiten in Nordsyrien? (arabische Version) (pdf)