26.04.2005

Afghanistan: Vielvölkerstaat vor der Zerreißprobe

Schenkt man Staatspräsident Hamid Karzai Glauben, so gibt es keine ethnischen Probleme in Afghanistan. Wortreich bemüht sich der Paschtune Karzai in Interviews, ethnische Zerwürfnisse in seiner Heimat zu leugnen. Mit keiner Silbe erwähnt er die Vertreibung von mehr als 60.000 Paschtunen aus dem Norden Afghanistans durch die siegreiche Nord-Allianz nach dem Sturz der Taliban oder die andauernden Repressalien gegen Paschtunen in der Provinz Herat. Seit Jahrzehnten schwelende und immer wieder ausbrechende ethnische Konflikte werden tabuisiert, um den Traum von einem Zusammenleben in Frieden in einem wirtschaftlich starken und geeinten Staat zu nähren. Die Ursachen der ethnischen Konflikte reichen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, als Ahmad Khan mit seiner Streitmacht aus dem Osten des heutigen Afghanistan persische Invasoren aus dem Norden und Westen des Landes vertrieb. Paschtunischen Führern überließ er zum Teil die Kontrolle eroberter Gebiete, um sich ihre Zustimmung zur Bildung eines Staates mit starker Zentralgewalt zu sichern. Bis heute sind Paschtunen in diesen Gebieten nicht sonderlich beliebt.

Afghanistan ist ein Vielvölkerstaat, in dem 21 verschiedene ethnische Gruppen leben. Die zahlenmäßig größte und alle anderen Völker beherrschende Gruppe sind die 10 Millionen Paschtunen (38 Prozent der 26,5 Millionen Bewohner des Landes). Aufgrund ihrer seit Jahrhunderten beherrschenden Stellung im politischen Leben werden sie auch oft als das "Staatsvolk" bezeichnet. Besonders starken Einfluss besitzen sie im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, in Pakistan leben nochmals 20 Millionen Paschtunen. Die Paschtunen sind in unterschiedlichen Stämmen organisiert. Neben den Berg-Paschtunen in den gebirgigen Regionen des Südostens leben im Westen und Südwesten die traditionell verfeindeten Gruppen der Durrani und Ghilzai.

Die Paschtunen stießen bei ihrer Wanderung nach Westen in den Ebenen auf die Tadschiken und unterwarfen sie. Ein Teil der Tadschiken zog sich daraufhin in die Bergtäler im Nordosten Afghanistans zurück. Die heute 6,5 Millionen Tadschiken (25 Prozent der Gesamtbevölkerung) leben vor allem in den Städten.

Die 5,3 Millionen Hazara sind heute mit 19 Prozent an der Gesamtbevölkerung die drittgrößte ethnische Gemeinschaft. Die schiitischen Hazara wurden nicht nur aufgrund ihres Glaubens von der überwiegend sunnitischen Bevölkerung jahrzehntelang diskriminiert und verfolgt. Auch sozial waren sie immer die am meisten benachteiligte Gruppe, da ihr Lebensraum in den Tälern und Hochebenen Zentralafghanistans besonders karg war und so ihre Verschuldung und Verarmung dramatische Ausmaße annahm. In den letzten 20 Jahren hat der Anteil der Hazara an der Gesamtbevölkerung stark zugenommen. Die Hazara hatten besonders unter der Herrschaft der Taliban gelitten, die Massaker an ihnen verübten.

Die im Norden des Landes lebenden 1,6 Millionen Usbeken sind die viertgrößte Bevölkerungsgruppe (6 Prozent der Gesamtbevölkerung). Kleinere ethnische Gemeinschaften sind unter anderem die im Nordwesten des Landes lebenden Aimaq, die Beluchen und Brahui im Südwesten, die Turkmenen im Norden, die Nuristani im Osten sowie die schiitischen Farsiwan in den Regionen Herat, Kandahar und Ghazni.

Auch unter den Taliban dominierten die Paschtunen im politischen Leben Afghanistans. Mit dem Sieg der von Tadschiken, Usbeken und Hazara kontrollierten Nord-Allianz eskalierten die ethnischen Spannungen im Norden und Westen des Landes. Dort wo Paschtunen in der Minderzahl und seit Jahrzehnten verhasst waren, kam es Ende 2001 zu massiven übergriffen. Allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit wurden sie Opfer von Einschüchterungen, Vergewaltigungen, Plünderungen, willkürlichen Verhaftungen und Vertreibungen. So leugnet der mächtige Hazara-Führer und heutige Vizepräsident Afghanistans Karim Khalili das Massaker der Nord-Allianz an gefangenen Taliban in Dascht-e-Leili im Dezember 2001. Noch im August 1998 waren mehr als 3.000 Hazara bei einem Massaker von Taliban in der Stadt Mazar-i-Sharif kaltblütig ermordet worden. Doch die Gräueltaten wiederholen sich: Seit Dezember 2001 vertrieben Warlords mehr als 60.000 Paschtunen aus dem Norden und Westen Afghanistans. Im März 2003 sicherten einige Kriegsfürsten gegenüber den Vereinten Nationen zu, den Vertriebenen die Rückkehr in ihre Dörfer zu gestatten. Angesichts der anhaltenden übergriffe haben nicht nur Paschtunen ernsthafte Zweifel an der Glaubwürdigkeit solcher Ankündigungen. Auch haben die oft planmäßigen übergriffe auf Paschtunen ein Klima der Willkür und Gewalt geschaffen, das den demokratischen Neuanfang in Afghanistan nachhaltig beeinträchtigt.

Das Land ist heute zerrissener denn je zuvor. Zwar steht mit Karzai ein Paschtune an der Spitze der Übergangsregierung, doch die meisten Paschtunen sehen ihn als Verräter an, der das Land und ihre Interessen an die USA verkauft habe. Zwar sind die Paschtunen mit 15 Ministern in der Übergangsregierung vertreten (Tadschiken neun Minister, Usbeken und Hazara jeweils vier), die das Land bis zu den Wahlen im Jahr 2004 führen soll, doch dies ist keine Regierung der nationalen Einheit, die sich für einen gerechten Interessenausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen einsetzt. Es mangelt an politischem Programm, nur die Machtsicherung scheint viele Kabinettsmitglieder zu interessieren. So sind die Perspektiven für ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller ethnischen Gruppen im Vielvölkerstaat Afghanistan düsterer denn je zuvor.

AUF EINEM AUGE BLIND

Als Kreuzzug für Menschenrechte bezeichnete Großbritanniens Premierminister Tony Blair sein militärisches Engagement an der Seite der USA in Afghanistan. Das menschenverachtende Taliban-Regime stürzte, doch a uch Menschenrechte blieben zuweilen auf der Strecke. Geopfert der Staatsräson, wenn es westlichen Politikern nicht opportun erschien, ihre afghanischen Bündnispartner für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.

So wird dem in der siegreichen Nord-Allianz maßgeblichen General Abdul Rashid Dostum vorgeworfen, für den gewaltsamen Tod von bis zu 3.000 gefangenen Taliban-Anhängern im Dezember 2001 verantwortlich zu sein. Die ehemaligen Taliban-Kämpfer sollen aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen in unbelüfteten Container-Lastwagen erstickt sein. "Sie haben meinen Lastwagen beschlagnahmt", erklärt einer der Fahrer gegenüber dem britischen Dokumentarfilmer Jamie Doran (Le Monde Diplomatique, September 2002). "Ich sollte die Gefangenen von Kalai Zeini nach Dasht e Leili bringen, wo sie von den Soldaten erschossen wurden. Manche lebten noch, waren verletzt oder bewusstlos. Sie haben sie hierher gebracht, ihnen die Hände gefesselt und sie erschossen." Noch Monate später liegen zerbrochene Schädel und Knochen verstreut in der Wüste. Spuren von Bulldozern weisen darauf hin, dass hastig Massengräber ausgehoben wurden.

US-Soldaten sollen dem Massaker beigewohnt haben, berichten Augenzeugen. Die USA bestreiten dies energisch. Auch die Sonderberichterstatterin der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen für Massaker und extralegale Hinrichtungen, Asma Jahangir, schloss sich im Januar 2003 der Forderung von Menschenrechtsorganisationen an, den gewaltsamen Tod der Gefangenen von einer unabhängigen, internationalen Kommission untersuchen zu lassen.

Ungeachtet der Frage, ob US-Soldaten unmittelbar beteiligt waren, ist das Verhalten der US-Regierung und der Vereinten Nationen ungeheuerlich. Mehr als ein Jahr nach bekannt werden des Massakers bleibt die ansonsten so um die Wahrung der Menschenrechte in so genannten Schurken-Staaten bemühte US-Regierung untätig und tabuisiert die Kriegsverbrechen Dostums. Bereits am 28. Januar 2002 war Washington von der US-Menschenrechtsorganisation Physicians for Human Rights auf das Massengrab hingewiesen worden. Mehrfach legte die Organisation detaillierte Berichte von Gerichtsmedizinern und Rechercheuren vor. Doch die US-Regierung unternahm nichts, um Dostum zur Rechenschaft zu ziehen. Auch die Vereinten Nationen versagten bei der Sicherung der Massengräber und beim Schutz der Zeugen. Stattdessen konnten Dostums Truppen ungehindert Spuren verwischen, Zeugen einschüchtern, verhaften und foltern: zwei wichtige Augenzeugen starben.