30.09.2016

Angela Merkel: Halten Sie fest am Kurs für Menschlichkeit!

OFFENER BRIEF AN BUNDESKANZLERIN MERKEL

Frau Merkel: Gewähren Sie langjährig geduldeten Roma-Flüchtlingskindern Bleiberecht! Foto: UN Photo/Aliza Eliazarov

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

mit Interesse verfolgte ich am vergangenen Dienstag in Berlin, wie Sie anlässlich des 70. Geburtstags des Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, die „Geschichte“, Kunst und Kultur dieser auch in der jüngsten Vergangenheit vielfach verfolgten oder diskriminierten ethnischen Minderheit als festen Bestandteil „unserer gemeinsamen Gesellschaft“ würdigten.

Ihre Worte ermutigen uns, Sie heute herzlich darum zu bitten, jetzt für die Roma-Minderheit an Ihrem Kurs für Menschlichkeit festzuhalten, den Sie im vergangenen Jahr mit der Einladung von einer Million Flüchtlingen und Vertriebenen eingeschlagen haben.

Doch jetzt ist eine Massenabschiebung von langjährig geduldeten Flüchtlingen, die ausgerechnet auch die etwa 4.400 Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo mit ihren hier aufgewachsenen Kindern trifft, geplant. Das ist herzlos und kann doch nicht Ihre Reaktion auf die Ablehnung Ihrer großmütigen Flüchtlingsinitiative durch größere Teile der deutschen Bevölkerung sein, die sich der AFD zuwandten!

Die Eltern der betroffenen Flüchtlingskinder mussten ihre Heimat im Kosovo verlassen, nachdem die Regierung Schröder/Fischer dort zusammen mit anderen europäischen Staaten 1999 gegen das serbische Militär interveniert hatte. Der Unterzeichner musste vor Ort mitverfolgen, wie 100.000 Angehörige der Roma-Minderheiten nach Kriegsende vor den Augen deutscher Bundeswehrsoldaten, die zur Nato-Sicherheitstruppe KFOR gehörten, von nationalistischen Albanern vertrieben, 70 ihrer 75 Dörfer und Stadtteile geplündert und zerstört wurden. Heute leben dort höchstens noch 8.000 Roma. Ihnen wird der Zugang zum Arbeitsmarkt weitgehend verwehrt. Sie finden so gut wie keine medizinische Hilfe, ihre Kinder werden in Schulen diskriminiert und ausgegrenzt. Kaum eines ihrer Häuser wurde wiederaufgebaut.

Angesichts dieser bedrückenden Situation wird eine Abschiebung der langjährig geduldeten Roma-Flüchtlinge und ihrer Kinder aus Deutschland zur Vertreibung. Für uns ist es eine unerträgliche Vorstellung, dass diese deutschsprachigen, meist hier geborenen Roma-Kinder und ihre Eltern jetzt verängstigt auf der Flucht vor Behörden und Polizei durch unser Land irren. Deutschland ist doch ihre Heimat! Sie dürfen nicht vertrieben werden! Jahrelang haben Lehrer, Sozialarbeiter, Erzieherinnen für ihre Integration gewirkt. Sie sind de facto zu deutschen Kindern geworden.

Auch eingedenk der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma durch das NS-Regime fordern wir Sie und unsere Bundesregierung dazu auf, diese in Deutschland geduldeten Roma aus dem Kosovo als Kontingent bei uns – hier in ihrer Heimat - aufzunehmen. Wir appellieren an Sie: Bitte sorgen Sie dafür, dass diese Flüchtlingskinder und ihre Angehörigen nach dem Vorbild der russlanddeutschen und jüdischen Aussiedler schnell eingebürgert werden. Viele Millionen deutsche Kinder, Frauen und Männer sind nach 1945 Opfer von Flucht und Vertreibung geworden. Auch ihr Schicksal mahnt uns, diese Roma-Kinder nicht erneut zu vertreiben.

Herzlichen Dank!

Mit freundlichen Grüßen

Tilman Zülch

Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker International