13.04.2007
Dersim: Die Geschichte einer unterdrückten Region in Türkisch-Kurdistan.
Dersim, so lautet der althergebrachte Name der heutigen Provinz Tunceli in der Türkei. Da der Name innerhalb der Bevölkerung eine gewisse Tradition bzw. Geschichte widerspiegelt, findet er immer noch Beachtung und mehr Gebrauch als der offizielle Name Tunceli. Dersim war das Kerngebiet verschiedener ethnischer Völker im Südosten der Türkei, welches vom anatolischen Hochland, vom Ararathochland, von Obermesopotamien und von Bergen des Schwarzen Meeres umgeben ist. Nordwestlich fließt der Euphrat, südlich stellt der Fluss Murat die Provinzgrenze dar.
Der überwiegende Teil Dersims ist von Gebirgszügen durchzogen, wobei der Berg Munzur eine besondere Bedeutung einnimmt. Nachbarprovinzen sind im Osten Bingöl und Elazig sowie Erzincan im Südwesten. Die Landkreise von Dersim sind Pülümür, Pertek, Ovacik, Hozat, Nazimiye, Cemisgezek und Mazgirt.
Neben Kurden (zaza- und kurmancisprechende), lebten einst auch Armenier in Dersim. Die Bevölkerung dieser Region ist seit Gründung der Republik der Türkei auf Grund von Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und Auswanderung kontinuierlich gesunken. In den letzten sechs Jahren ist die Einwohnerzahl von 93 548 auf 79 176 (2005) zurückgegangen und hat sich seit 1975 mehr als halbiert. Dersim ist neben weiteren Regionen im Südosten der Türkei der Ort mit dem höchsten Bevölkerungsverlust. So wurden in den letzten fünfzehn Jahren aufgrund militärischer Einsätze viele Dörfer zerstört, Wälder in Brand gesetzt, Menschen inhaftiert, gefoltert und getötet.
Im gleichen Zeitraum wuchs die Bevölkerung der Türkei von 29 Millionen (1961) auf 69 Millionen (2004), das entspricht einem mittleren jährlichen Wachstum von etwa 2%. Diese Wachstumsrate würde einer hypothetischen Einwohnerzahl in der Provinz Dersim von etwa 340.000 im Jahr 2004 entsprechen.
Dersim war den Machthabern gleich ob osmanischer oder jungtürkischer Coloeur stets ein Dorn im Auge. Von hier aus wurden Stimmen gegen alle Formen der Unterdrückung laut, da sich Dersim nicht weiter dem Joch der Tyrannen unterwerfen wollte.
So versuchte bereits das osmanische Reich in Dersim vergeblich, trotz mehrfacher militärischer Angriffe, unter anderem das islamische Recht, die Scharia, einzuführen. Auch die junge türkische Republik unter Mustafa Kemal Atatürk sah in Dersim auf Grund seines Status und seines Ungehorsams eine Gefahr. Atatürk bemerkte hierzu: "Die Dersim-Frage ist eine der wichtigsten Fragen in unseren inneren Angelegenheiten. Es ist notwendig, die Regierung mit umfassender und uneingeschränkter Autorität auszustatten, damit diese die innere Wunde, dieses abstoßende Krebsgeschwür um jeden Preis beseitigen und auslöschen kann.” Um dieses ”abstoßende Krebsgeschwür” auslöschen zu können, wurde das arme und unbewaffnete Volk 1938 fast vollständig ausgerottet. Dersim wurde erstmals in seiner Geschichte vollkommen erobert. Dieses Trauma ist in den Köpfen der Menschen aus Dersim noch nicht verarbeitet worden. Über 70 000 Menschen, darunter Frauen, Kinder und Ältere wurden massakriert. Viele Überlebende wurden zwangsumgesiedelt.
Weder die türkische Regierung noch die Medien, die Justiz, die staatlichen Einrichtungen, wie z.B. das "Amt für türkische Geschichte" (Türk Tarih Kurumu) oder die türkische Gesellschaft fühlte sich verpflichtet diese und andere historische Tragödien aufzuarbeiten. Die Aufarbeitung der türkischen Gräuel ist bis heute schwierig. Während viele Menschen die Massenmorde an den verschiedenen Ethnien als ungesühntes Unrecht empfinden und seit Jahrzehnten eine angemessene Erinnerung fordern, bestreitet die türkische Administration bis dato, dass es überhaupt Massentötungen gegeben habe und wenn ja, dann müssten diese als gerechtfertigte Reaktionen unvermeidlicher Geschehnisse im Rahmen des Krieges bewertet werden.
Ein Staat, der nicht aus der Geschichte für die Zukunft lernt ist stets gehemmt und verkrampft. Die Türkei ist dies; sie ist im Umgang mit ihrer Geschichte versteift und unsicher. Dabei könnte eine Versöhnung mit den Ethnien, die betroffen sind, einen Prozess der Befriedung und des konstruktiven Austausches herbeiführen. Die Bundesrepublik und viele europäische Staaten könnten hier als wertvolles Beispiel angeführt werden. Die Geschichte verstehen, um die Zukunft zu verbessern, so müsste das Motto lauten.
Es hat lange gedauert bis die Bevölkerung von Dersim den Mut fasste ihre Geschichte und ihre Tragödie von 1938 zu erzählen. Über mündliche Überlieferungen und Lieder haben die Kurden auch in anderen Teilen Kurdistan vom Leid und Schmerz der Menschen in Dersim erfahren. Verarbeitet ist Trauma von Dersim bis heute nicht. Es sitzt fest im Bewusstsein der Überlebenden und ihrer Kinder und Kindeskinder. Jeder muss aber lernen mit der Geschichte umzugehen, um eine friedlichere Zukunft zu gestalten und die Schuld der Vergangenheit nicht wieder aufkommen zu lassen.
Doch manchmal wiederholt sich Geschichte bedauerlicherweise doch, obwohl das Erlebte noch nicht einmal verarbeitet wurde. So hat das türkische Militär unter dem Vorwand des Kampfes gegen Guerillas der kurdischen Arbeiterpartei PKK einen erneuten Vernichtungsprozess initiiert. 210 Dörfer und 15 767 Häuser wurden vom Militär von Anfang der 80er Jahre bis 1995 geräumt (Cumhuriyet vom 9./10.03.1997). Die Wälder wurden gerodet und abgebrannt, willkürliche Verhaftungen, Folter und Mord systematisch durchgeführt. 20 000 bis 30 000 Menschen flohen ohne Hab und Gut in den Westen und führen bis heute ein kümmerliches Leben in den Slums westlicher Metropolen.
Die derzeitige Bürgermeisterin Songül Erol Abdil von der pro – kurdischen DEHAP (Demokratik Halk Partisi; Volksdemokratische Partei) versucht sowohl im Bereich der Wirtschaft, der Bildung, des Gesundheitswesens und im sozialen Bereich diverse Projekte zu etablieren mit der sie der Landflucht, der Arbeitslosigkeit und der Armut entgegensteuern will. Frau Abdil ist in der Geschichte der Türkei die erste weibliche Bürgermeisterin einer Stadt. Sie leistet auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für mehr Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit.
Auch derweil ist die militärische Präsenz in Dersim allgegenwärtig. Die Menschen leben in ständiger Angst vor militärischen Auseinandersetzungen zwischen Guerillaeinheiten und dem türkischen Militär. Eine ungewisse Zukunft hindert die Bevölkerung von Dersim an einer nachhaltigen positiven Entwicklung.