10.10.2011

Editorial

Thomas Benedikter, Foto: privat

Aus bedrohte völker_pogrom 267, 4/2011

Liebe Leserinnen und Leser,

sich selbst zu regieren als regionale Gemeinschaft, ohne die staatliche Zugehörigkeit in Frage zu stellen, ein eigenes Regionalparlament und Regierung frei zu wählen, im Rahmen der Verfassung regionale Gesetze zu verabschieden, - dies ist der Kern von Autonomie und kann zu „interner Selbstbestimmung ohne Sezession“ führen.

Moderne Regionalautonomie im Rahmen demokratischer Rechtsstaaten ist ein Experiment, das sich seit 90 Jahren bewährt. 1921 gewährte Finnland nach Völkerbundbeschluss als erstes den schwedisch besiedelten Åland-Inseln regionale Selbstregierung. Inzwischen gibt es mindestens 60 solcher Territorialautonomien in 20 Staaten auf allen Kontinenten. In Europa bieten elf Staaten 37 Teilgebieten damit einen stabilen Rechtsrahmen: von den Autonomen Gemeinschaften Spaniens über die Regionen mit Sonderstatut in Italien bis hin zu Gagausien in Moldawien. Die jüngste Autonomie ist „revitalisiert“: Serbiens Provinz Vojvodina erhielt Ende 2009 ihre von Milosevic abgeschaffte Autonomie zurück.

Meistens war Regionalautonomie die Antwort auf Forderungen nach Selbstbestimmung und Schutz kleinerer Volksgruppen. Denn Territorialautonomie hat ein bis heute unterschätztes Konfliktlösungspotenzial. Das Konzept bietet sich überall dort an, wo weder die vollständige Föderalisierung eines Staats noch die Sezession eines Gebiets in Frage kommen. Doch ohne Demokratie und Rechtsstaat kann Autonomie nicht funktionieren. Mit Diktatur und Rechtsunsicherheit ist diese Lösung nicht vereinbar.

Ich wage die These: Viele Sezessionskriege der jüngsten Geschichte hätten durch eine echte, international abgesicherte Autonomie verhindert oder auf die Ebene politischer Gespräche verlagert werden können. Von blutigen Auseinandersetzungen oder jahrelangem Guerilla-Krieg betroffen waren beispielsweise die Moros auf Mindanao (Philippinen), Aceh und West-Papua in Indonesien, die Chittagong Hill-Völker in Bangladesch, die Tamilen im Norden Sri Lankas, die Shan, Karenni und Karen in Burma, die Kurden der Türkei, aber auch Korsika und Neukaledonien. In meiner Heimatregion Südtirol gab es vor 50 Jahren Opfer auf beiden Seiten, als Italien die völkerrechtlich zustehende Autonomie nicht einlöste. Andererseits folgten auf die Abschaffung von Autonomie jahrelange militärische Konflikte in Eritrea, im Südsudan, in Irakisch-Kurdistan, im Kosovo, in Indisch-Kaschmir, in Süd-Ossetien und Abchasien.

Verweigerung von Autonomie, die Unterdrückung von Minderheitenrechten sowie die Rücknahme einmal gewährter Autonomie führen oft zu militantem Widerstand. Die Gewährung echter Autonomie dagegen hat Konflikte nachhaltig gelöst. Zentralstaaten fürchten bei Autonomie üblicherweise Sezession. Meist bewies die Geschichte aber das Gegenteil: Eine zufriedenstellende Autonomie schafft Vertrauen und bietet den Rahmen für „innere Selbstbestimmung“.

Thomas Benedikter

Mitbegründer und ehemaliger Leiter der GfbV-Südtirol, Mitarbeiter des EURAC-Instituts für Minderheitenrecht in Bozen. Autor von „Die modernen Autonomiesysteme der Welt“

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