30.06.2005

Hintergrundtext zur Öl- und Gasförderung in Westsibirien

Göttingen
Russland ist einer der größten Erdöl- und Erdgasproduzenten weltweit. Deutschland importiert mehr Öl und Gas aus Russland als aus jedem anderen Land der Welt. Dieses Öl kommt hauptsächlich aus dem Gebiet Tjumen. Dort leben die "kleinen Völker des Nordens": Chanten, Mansen, Nenzen und andere indigene Gruppen. Viele dieser Menschen versuchen trotz der zunehmenden Urbanisierung, traditionell zu wirtschaften. Sie leben von der Rentierzucht, vom Fischfang und von der Jagd. Das Vordringen der Erdölunternehmen in die Tundra und Taiga macht dies jedoch immer schwieriger. So versuchen die Menschen, sich mit den Konzernen zu arrangieren oder durch Proteste ihre Anliegen durchzusetzen.

Chanten, Mansen, Nenzen

Die Chanten leben in einem etwa 1300 km² großen Gebiet entlang der Flüsse Ob und Irtysch. Das Territorium der Mansen liegt südwestlich von dem der Chanten und zieht sich bis in die tiefergelegenen Gebiete des Ural. Chanten und Mansen umfassen etwa 30.000 Menschen. Die Nenzen siedeln größtenteils nördlich des Polarkreises, in einem großen Gebiet von etwa einer Million km², das auf der Kola Halbinsel an das Gebiet der Saami grenzt und im Osten bis an das Jenisej - Delta heran reicht. 1987 gab es etwa 32.000 Nenzen. Die Sprache der sibirischen Völker ist in zahlreiche Dialekte unterteilt. Häufig verstehen auch Angehörige ein und derselben Volksgruppe, beispielsweise die Chanten, sich untereinander nicht, wenn sie aus unterschiedlichen Gebieten stammen. Im 19. Jahrhundert waren diese Völker in Klans mit jeweiligen Oberhäuptern aufgeteilt. Auf der Familienebene hatten die Ältesten das Sagen. Die wichtige Rolle des Familienoberhaupts besteht bis heute weiter.

Die Chanten, Mansen und Nenzen sind über die väterliche Abstammungslinie organisiert. Für die jeweilige Identität der Klans sind ihre Siedlungs- und Migrationsgebiete, in denen sie ihre heiligen Orte haben, sehr wichtig. Die Chanten und Mansen, die heute noch ihre traditionelle Lebensweise pflegen, sind zumeist Halbnomaden. Sie wechseln mehrmals im Jahr ihren Wohnsitz. Meist wohnen sie in Holzhütten. Die Nenzen in der Tundra sind Vollnomaden, d.h. sie wechseln mehrmals in der Woche ihren Standort und leben in typischen Nomadenzelten, den Tschum.

Erdölförderung

Die Russische Föderation ist die weltweit zweitgrößte Energieproduzentin nach den USA sowie die zweitgrößte Rohölproduzentin nach Saudi-Arabien. 10 Prozent der weltweiten Primärenergie kommen aus Russland, dessen Ölreserven auf mindestens 50 Milliarden Barrel Öl geschätzt werden. Dies entspricht einem Anteil von 15,6 Prozent an den weltweiten Reserven. 70 Prozent davon lagern in Sibirien, 55 Prozent in den Gebieten der Chanten und Mansen. Schon 1956 stieß man in diesem Gebiet auf Öl. 1960 floss das erste Öl, Mitte der 60er Jahre wurden Pipelines von Perm nach Tyumen verlegt, eine neue Eisenbahn wurde zwischen dem Fluss Ob und dem Ural gebaut. Im Tyumen - Gebiet alleine liegen 500 Ölfelder, die von ihrer Größe und ihrem Umfang her den Ölfeldern Saudi-Arabiens entsprechen. In den 15 Jahren von 1976 bis 1991 belief sich die gesamte Ölförderung Russlands auf rund fünf Milliarden Tonnen. Von 1989 bis 1992 ging die Förderung um 146 Millionen Tonnen zurück, d.h. um 35 Prozent. Die Reserven in den ausgebeuteten Ölfeldern sind versiegt und die Förderanlagen veraltet und marode. Ein Drittel der Bohrlöcher ist defekt. Die Zahl der neuen Bohrungen reichte nicht aus, um die Fördermenge aufrecht zu erhalten.

 

Infolge der extremen klimatischen Bedingungen in dieser Region müssen bei der Ölförderung unterschiedliche Faktoren beachtet werden: Erst durch den Permafrostboden wird die Erde begehbar und bebaubar. Eine Erwärmung des Bodens würde sämtliche Konstruktionen im Morast versinken lassen. Der Verschleiß der Anlagen ist unter diesen Bedingungen sehr hoch und es ist sehr aufwendig, in dieser Region überhaupt etwas zu bauen, weil alle Konstruktionen, die Wärme ausstrahlen, isoliert werden müssen. In Sibirien beherrschen russische Öl- und Gasfirmen die Produktion. Diese befinden sich seit 1993 in einem Privatisierungsprozess. Trotzdem hält der Staat an den einzelnen Unternehmen einen Anteil zwischen 17 und 51 Prozent. Diese Firmen spielen eine Schlüsselrolle in der russischen Wirtschaft. Zwischen 40 und 75 Prozent der russischen Deviseneinkünfte stammt aus dem Ölgeschäft. Mit seinem Hauptsitz in Moskau ist Lukoil der größte russische Ölkonzern. Nach eigenen Angaben hat Lukoil mit 10,77 Milliarden Barrel die weltweit größten Reserven, davon sollen 7.93 Milliarden in Westsibirien liegen.

Gasprom ist der staatliche russische Erdgasmonopolist und das größte Unternehmen Russlands. Von den 614 Milliarden Kubikmetern Erdgas, die 1997 in Russland gefördert wurden, entfallen 94 Prozent auf Gasprom, das damit ca. 25 Prozent des Weltaufkommens bestritt. Die Förderung des Erdgases wird von acht regionalen Vereinigungen organisiert Die drei wichtigsten befinden sich auf dem Gebiet der Nenzen. Inzwischen sind drei deutsche Gasunternehmen zu den wichtigsten Partnern von Gasprom geworden. Ruhrgas unterzeichnete 1998 Lieferverträge bis zum Jahr 2020 für 25 Milliarden DM und beteiligte sich mit 660 Millionen Dollar, d.h. 2, 5 Prozent, an dem russischen Unternehmen. Die BASF Tochter Wintershall arbeitet über das joint venture Wingas seit 1990 mit Gasprom am Pipelinebau von Jamal nach Deutschland. Anfang 1999 vereinbarten Wingas und Gasprom auch eine Zusammenarbeit bei der Förderung des Gases und nicht nur bei Transport und Handel.

Auswirkungen: Zerstörung des Lebensgebietes der Minderheiten

Die Schäden durch die Ölförderung haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Umwelt und auf die Wirtschafts- und Lebensweise der lokalen Bevölkerung. Schon mehrfach geriet Öl durch Lecks in das Ökosystem. 1989 waren bereits 28 größere Flüsse und 100 kleinere Gewässer biologisch tot und der Fischfang auf dem Fluss Ob musste eingestellt werden. Für die Chanten, Mansen und Nenzen gehört die Zerstörung der Rentierweiden zu den wichtigsten Folgen. In den letzten 25 Jahren gingen fast 20 Millionen Hektar Rentierweiden verloren, und jedes Jahr kommen weitere 500.000 Hektar hinzu. Diese massiven Zerstörungen werden meist durch Lecks in den Leitungen und Verluste bei den Bohrungen und Förderungen, aber auch durch den Bau von neuen Straßen, Pipelines und Siedlungen hervorgerufen. Für einen Hektar, der zur Ölförderung genutzt wird, werden bis zu 15 Hektar Land zerstört. Ein großes Problem sind die unzähligen Ölverschüttungen. Etwa 8 - 10 Prozent des russischen Öls geht durch Lecks verloren und gelangt so in Böden und Gewässer. Von 1994-1990 versickerten allein im Gebiet der Chanten und Mansen circa 100 Millionen Tonnen Öl im Ökosystem. Die Pipelines sind häufig vollkommen marode und werden nicht ausreichend gewartet. Trotzdem werden sie weiter von russischen und westlichen Ölfirmen benutzt.

Vom Weltall aus betrachtet ist Sibirien der hellste Fleck auf der Erde, weil das Begleitgas überall abgefackelt wird. Zurück bleiben Berge von Ölruß. Durch das Abfackeln entsteht in bestimmten Regionen eine Temperaturerwärmung um 10° C. Um die Gasflammen herum verändern sich daher Flora und Fauna. Dies hat enorme Auswirkungen auf die natürliche Umwelt, insbesondere auf den Permafrost in den Böden. Die Häufigkeit von Waldbränden hat sich um das zwei bis dreifache erhöht. Tausende von Hektar Taiga wurden bereits durch Waldbrände zerstört. Die Ölförderung hat einen eklatanten Wassermangel zur Folge. Aufgrund des tief abgefallenen Drucks in den Ölreservoirs wird Wasser in den Boden gepumpt. Der Wasserpegel der Flüsse kann dadurch so weit absinken, dass diese kaum noch befahrbar sind. Fast die Hälfte der gesamten Wasserreserven in der Region werden inzwischen für die Ölförderung verwendet. Es wurde zudem Salzsäure eingesetzt, um den Druck in den Lagerstätten zu erhöhen. Diese Mischung aus Salzsäure und Wasser treibt die Korrosion und somit den Verschleiß der Pipelines, die Hauptursache von Leckagen, schneller voran. Für die Sondierung neuer Quellen wurden zwischen 1978 und 1985 fünf nukleare Sprengungen für seismische Untersuchen im Gebiet der Chanten und Mansen durchgeführt. In der Nähe des Flusses Jugan gab es schon Klagen der Bevölkerung über Atomabfälle. Im Ob stellte man noch 1996 erhöhte Werte von Cäsium 137 und Strontium 90 fest, und in den Fischen und Pilzen wurde eine zwei bis dreimal höhere Radioaktivität als normal gemessen.

Durch diese vielfältige Zerstörung ihrer Umwelt wird es für die indigene Bevölkerung immer schwieriger, ihrer ursprünglichen Lebens- und Wirtschaftsweise nachzugehen. Um die großen Zentren der Ölförderung herum kann der Lebensunterhalt nicht mehr durch Jagd, Rentierzucht und Fischfang allein bestritten werden. Viele der Wasservögel und Fische, die die Menschen hier noch fangen, sind durch das Öl verschmutzt. Rentiere werden im Sommer von den Bohrstellen angezogen, da dort die Belastung durch Mücken geringer ist. Die Rentiere können dabei in Ölgruben fallen und verenden. An den herumliegenden Abfällen verletzten sich die Tiere, und sie ernähren sich von verseuchten Pflanzen. Mit der Erschließung des Gebietes durch die Ölfirmen hat sich die Urbanisierung der Menschen verstärkt. Sie leben häufig in provisorischen Baracken ohne Zukunftsperspektive. Russisch wird zur Umgangssprache, und die eigenen Traditionen gehen immer mehr verloren. In den Siedlungen gibt es kaum Arbeit. Alkoholismus wird zum Problem. Prostitution, Drogenmissbrauch, Kriminalität und Gewaltverbrechen nehmen zu, auch die Zahl der Unfälle steigt. Chanten, Mansen und Nenzen sind auf ihrem eigenen Territorium durch die Zuwanderung von Ölarbeitern zur Minderheit geworden. Sie drohen in Elend und Armut zu versinken. Diese Marginalisierung lässt sich auch durch demographische Zahlen belegen: Die Lebenserwartung liegt zehn Jahre unter Landesdurchschnitt. Die wichtigsten Todesursachen sind nicht mehr Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten sondern Mord und Selbstmord.