23.04.2005

Indigene Völker im Norden Russlands und Sibiriens

Ein geographisch-ethnographischer Überblick

Der Norden der Russischen Föderation erstreckt sich über eine Entfernung von etwa 6 000 km von der finnischen Grenze bis an den Pazifischen Ozean. Die Nord-Süd-Ausdehnung dessen, was man in Russland als den "Norden" bezeichnet, wächst von knapp 1 000 km im europäischen Russland auf über 3 000 km im asiatischen Sibirien. Dieses enorme Gebiet war vor der Eroberung durch Russland im 16. bis 18. Jahrhundert von einer Vielzahl ethnischer Gruppen bewohnt, die in jüngerer Zeit - mit wenigen Ausnahmen - zu kleinen Minderheiten in einer zunehmend russifizierten und sowjetisierten Umgebung wurden.

Die kulturellen Eigenarten dieser Völker entstanden aus der Notwendigkeit, unter arktischen und subarktischen Bedingungen in dünn besiedelten Gebieten zu überleben. Das Zusammentreffen mit den russischen Eroberern des 16. - 18. und besonders mit den sowjetischen Lehren des 20. Jahrhunderts stieß auf vollkommenes gegenseitiges Unverständnis. Dieses trug neben den Wirtschafts- und Machtinteressen der Eroberer zu einer weitgehenden Auslöschung der ursprünglichen Kulturen bei. Viele sind trotz allem im Kern erhalten geblieben. Für einige Völker dürfte es keineswegs zu spät sein für eine Weiterentwicklung unter eigenen kulturellen Prämissen, sofern ihnen von der russischen Gesellschaft genug Freiraum gegeben wird. Dazu jedoch sind die derzeitigen sozialen Verhältnisse in Russland im besten Falle ungeeignet, obwohl die juristischen Voraussetzungen ansatzweise vorhanden sind.

Tundra und Taiga

Die Gebiete des russischen und sibirischen Nordens liegen hauptsächlich nördlich der Dauerfrostgrenze, die sich im Ostsibirischen Hochland ziemlich weit nach Süden erstreckt. Mit 55° N entspricht sie der geographischen Breite Schleswig-Holsteins. An der pazifischen Küste rechnet man das Sichote-Alin-Gebiet mit; dort liegt die Treibeisgrenze im Süden an der russisch-chinesischen Grenze bei Vladivostok. Die Volksgruppen (oder indigenen bzw. Ureinwohner-Völker), denen dieses riesige Gebiet vor der Kolonisierung gehörte, bezeichnet man in Russland als "Völker des Nordens".

Das Land besteht im Norden aus einer meist mehrere hundert Kilometer breiten Zone von baumloser Tundra. Nach Süden geht diese Vegetationszone in den riesigen Nadelwaldgürtel der "Tajga" (Taiga) über. Diese Wälder wechseln, besonders im westlichen Sibirien, mit ausgedehnten Sumpfgebieten, während im Osten Hochgebirgsregionen vorherrschen. An der Pazifischen Küste, auf Kamtschatka, Sachalin und den Aleuten, ist die Landschaft von zahlreichen aktiven Vulkanen geprägt. In Sibirien fließen einige der größten Ströme der Erde zum Nördlichen Eismeer: Ob, Enisej (Jenissei), Lena und Kolyma. Sie sind seit jeher die Hauptverkehrsadern des Landes gewesen, sowohl während der Kolonisierung, als auch der darauffolgenden Ausbeutung der reichhaltigen Schätze des Landes, die bis heute andauert.

Die Inseln im Eismeer haben niemals eine bodenständige Bevölkerung gehabt. Nachdem Russland 1877 Novaja Zemlja annektiert hatte, wurden einige hundert Nenzen (Samojeden) dort angesiedelt. Als Russland auf Novaja Zemlja mit seinen Atomtests begann, wurden deren Nachkommen 1955 erneut zwangsumgesiedelt: in das Narjan Mar-Gebiet auf dem Festland und auf die Inseln Kolguev und Vajgac in der südlichen Barents-See.

Abstammung und Sprache

Die Völker des Nordens gehören zwei Hauptgruppen an. Die eine besteht aus den Nachkommen alteingesessener Völker, die das Land bewohnt haben, solange wir die Geschichte kennen. Sie leben hauptsächlich im nordöstlichen Sibirien und Kamtschatka: Tschuktschen, Korjaken, Jukagiren, Tschuwanen, Itelmenen. Einige sehr kleine Gruppen sind auch andernorts erhalten geblieben: Die Keten am mittleren Enisej und die Nivchen im nördlichen Teil Sachalins und an der Amur-Mündung am Ochotskischen Meer. Diese Völker sprechen sogenannte paläo-asiatische Sprachen. Ebenfalls zu den alteingesessenen Gruppen kann man die Inuit (Eskimo) und Aleuten zählen, deren Sprachen eine eigene Sprachfamilie bilden.

Eine spezielle Stellung nimmt das Volk der Ainu auf dem südlichen Sachalin, den Kurilen-Inseln und dem nördlichen Hokkaido in Japan ein; sie gehören zum europiden Zweig der Menschheit, während die anderen Völker des Nordens ausschließlich zum mongoliden gehören. Eine Theorie besagt, dass die Ainu die Urbevölkerung der japanischen Inseln bildeten, bevor die Japaner vom asiatischen Festland aus einwanderten. Ihre Sprache steht sehr isoliert. Auf russischem Gebiet leben heute praktisch keine Ainu mehr. Offiziell tauchten sie zuletzt in der Volkszählung von 1926 auf, als sich 32 Menschen zu diesem Volk zählten.

Die andere Hauptgruppe sind Völker, deren Ursprung im zentralen Asien liegt. Sie verdrängten bei ihren Einwanderungswellen vor und während des Mittelalters die paläo-asiatischen Völker, oder vermischten sich mit diesen und auch untereinander. Ihre Angehörigen sprechen ural-altaische Sprachen und gehören damit einer Sprachfamilie an, in die u. a. auch Mongolisch, Türkisch, Ungarisch und Finnisch eingehen. Östlich des Enisej herrscht die altaische Sprachgruppe vor, d. h. die Turkvölker der Jakuten, Dolganen und - weiter südlich - die Karagassen sowie die tungusischen Völker der Evenken, Evenen, Nanaien, Negidalzen, Udegen, Orotschen, Oroken und Ultschen.

Westlich des Enisej, bis hin zum Land der Samen im europäischen Norden, sind Völker der uralischen Sprachgruppe zuhause, mit einem - von West nach Ost - finnischen Zweig (Samen, Karelier, Komi), einem ugrischen Zweig (Chanten, Mansen) und einem samojedischen Zweig (Nenzen, Selkupen, Enzen, Nganasanen). Die meisten dieser Völker bilden heute kleine Minderheiten in ihren alten Heimatgebieten. Ausnahmen sind die Karelier, die Komi und die Jakuten, die mehr oder weniger immer noch die mehrheitliche Bevölkerung ihrer Heimat bilden und in autonomen Republiken mit einem gewissen Grad an innerer Selbstverwaltung innerhalb der Russischen Föderation leben.

Rentiere, Fische und Pelze

Obwohl die einzelnen "Völker des Nordens" ziemlich unterschiedliche geschichtliche und sprachliche Hintergründe haben, gibt es unter ihnen eine Vielzahl kultureller Gemeinsamkeiten. Das kommt zum großen Teil daher, daß die subarktischen und arktischen Verhältnisse des Landes eine erwerbsmäßige Anpassung erfordern, die in weiten Gebieten sehr ähnliche Merkmale ausprägte. So sind es eher die geographischen und klimatischen Gegebenheiten als die ethnische Abstammung, die z. B. die Erwerbsformen bestimmen.

Pelztierzucht kam während der Kolonisierung durch die Russen hinzu. Landwirtschaft wird praktisch nur von denjenigen betrieben, die südlich der Dauerfrostgrenze leben, den Kareliern, Komi sowie einem Teil der Chanten und Jakuten. Die südlichen Gebiete der Jakuten und Evenken lebten einst außerdem in hohem Maße von Rinder- und Pferdezucht. Die Methoden der Ausübung dieser Erwerbsformen, Ausbildung traditioneller Gerätschaften, Handwerkskunst und neuere Formen von Kunst wie Malerei und Literatur sind selbstverständlich von Volk zu Volk und von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich.

Schamanismus

Eine wesentliche kulturelle Gemeinsamkeit ist die traditionelle Religion, die vor der russischen Kolonisierung ausschließlich aus Formen des schamanischen Animismus bestand, dem Glauben an eine beseelte Natur, also an die Existenz von geistlichen Wesen in allen natürlichen Objekten und Kräften. Der Mensch kann mit diesen Wesen in Kontakt treten, und sie mit ihm. Die Geister der Natur können vom Schamanen, der eine Zeit der Bewusstseinsausbildung durchlebt hat, im Trancezustand (Ekstase) bewusst aufgesucht werden, indem seine Seele den Körper zeitweilig verlässt und sich auf eine andere Wirklichkeitsebene begibt, die den gewöhnlichen Menschen weitgehend verschlossen ist. Diese Ekstase wird durch Trommeln und monotonen Sprechgesang hervorgerufen, nur in Ausnahmefällen - soweit bekannt - werden Drogen benutzt. Der Schamane begibt sich auf derartige Seelenreisen, um im Falle von Krankheiten oder anderen Nöten mit den Geistwesen verschiedener Wirklichkeitsebenen Abhilfe auszuhandeln, meist gegen den Preis gewisser Opfergaben. Diese Reisen können für den Schamanen gefährlich sein; nicht selten ist es geschehen, dass die Seele nicht in den Körper zurückkam, und der Schamane starb. Oft jedoch ist das Vorhaben gelungen und Nöten wurde abgeholfen oder Kranke wurden erstaunlich schnell geheilt.

Dabei spielte natürlich auch Naturheilkunde, die Anwendung natürlicher Medizin und verschiedener Behandlungsmethoden, eine Rolle. Eine zentrale Wirklichkeitsebene, in der sich der Schamane auskennen muss, ist die der Schutzgeister. Das sind Wesen, meist in Tiergestalt, unter denen der Schamane Verbündete wählt, damit diese ihm bei den gefährlichen Reisen in die Welt der Toten oder gar die der Schöpfergestalten zur Seite stehen. Die Bezahlung für diese Schutzgeister waren wiederum Opfergaben.

Das kulturelle Erbe - Balance zwischen den Wirklichkeiten

Das Weltbild des schamanischen Animismus der nordischen Völker ist, wie auch das der amerikanischen Indianer und andere indigener Völker, das einer ausgeprägten Balance in der Natur. Alles, was geschieht, hat Folgen und Auswirkungen. Nur begnügt sich die Anschauung nicht damit, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung in der Ebene der mit dem Verstand erfassbaren Welt zu suchen. Durch die Praktizierung des Schamanismus, also eine Veränderung von unerwünschten Zuständen durch die aktive Beeinflussung von Geschehnissen auf anderen Wirklichkeitsebenen, waren diese Völker der modernen Ökologie einen gewaltigen Schritt voraus. Das Unverständnis der "modernen" Welt, das weitgehend auch heute noch anhält, hat einen großen Teil dieses Wissens bereits verloren gehen lassen. Unter vielen sibirischen Völkern ist die Christianisierung weit weniger nachhaltig praktiziert worden, als z. B. bei den europäischen Samen. Mischreligionen sind heute häufig anzutreffen. Offiziell wird kein Schamanismus mit gefährlichen Seelenreisen mehr praktiziert, obwohl die Hoffnung besteht, dass diese Kunst inoffiziell doch überlebt hat; in welchem Grad, ist ungewiss. Unter einer Vielzahl von Völkern wie z. B. Evenken, einigen samojedischen und paläo-asiatischen Gruppen ist die Religion jedenfalls am Leben. Damit ist wohl Grund genug gegeben, alles daran zu setzen, das Überleben dieser Kulturen im Sinne der Zukunft unserer Erde zu sichern, einmal ganz abgesehen von menschlichen Aspekten, wie Identitätskonflikten und kultureller Entwurzelung, die zwangsläufig mit der Kolonisierung dieser Völker einhergingen.

Russifizierung durch Schul- und Sprachenpolitik

Bereits in den zwanziger Jahren wurde intensiv daran gearbeitet, Schriftsprachen für die meisten indigenen Völker zu erstellen. Mancherorts wurde der Analphabetismus innerhalb kurzer Zeit beträchtlich verringert. Dann fiel auch das Bildungssystem dem totalitären Stalinismus zum Opfer. Ab 1937 mussten per Dekret alle Sprachen mit kyrillischem Alphabet geschrieben werden, auch solche deren Phonetik es nicht entsprach. Sprachwissenschaftler, die mit eigens den Sprachen angepassten Alphabeten gearbeitet hatten, wurden als Volksfeinde verhaftet. Gleichzeitig wurde den Eltern verboten, ihren Kindern nicht-russische Namen zu geben. Propaganda gegen die "primitiven Steinzeitmenschen" wurde verbreitet. Ab 1957 konnten Lehrer bestraft werden, wenn sie außerhalb des muttersprachlichen Unterrichts an Schulen in der Sprache des einheimischen Volkes redeten. In den sechziger Jahren prahlte die staatliche Propaganda damit, dass nun mehr und mehr Eltern die Vorteile der russischen Sprache eingesehen hätten und ihre Kinder in russischer Sprache erziehen ließen. Um 1970 wurde außerhalb der drei autonomen Republiken als einzige der 26 Minderheitensprachen nur noch die Sprache der Nenzen im Schulunterricht verwendet.

Auch das System der Internatsschulen hatte stark negative Konsequenzen. Ursprünglich dafür gedacht, Nomadenkindern die Möglichkeit des Schulunterrichts zu bieten, wurde es nach und nach auf alle Kinder angewendet, auch die sesshaften. Es galt für das gesamte Vorschul- und Schulalter. Mit 16 Jahren kamen diese Kinder dann oft als Fremde und ohne kulturelle Bindung an ihr Volk zu ihren Familien zurück. Dieses System wird heute nicht mehr praktiziert, aber der bereits angerichtete Schaden ist groß.

Dies alles trug natürlich zu einem starken Rückgang des Gebrauchs der Muttersprachen bei, insbesondere bei zahlenmäßig kleinen indigenen Völkern. Die Sprachtradition wird heute hauptsächlich von der älteren Generation weitergeführt, eine schlechte Voraussetzung für das Überleben vieler Minderheitensprachen. Hinzu kommt, dass viele Angehörige der mittleren Generation oft weder in der eigenen noch in der russischen oder einer anderen Mehrheitssprache (wie Jakutisch oder Komi) zuhause sind - ein großes Hindernis für die Weitervermittlung kultureller Identität.

Die indigenen Völker Russlands heute: am Rande des Abgrunds?

Die Auflösung der Sowjetunion und die Öffnung Russlands zum Ausland hat uns in den letzten Jahren ein klareres Bild davon ermöglicht, was in den ausgedehnten russischen und sibirischen Nordgebieten vor sich gegangen ist und vor sich geht. Immer mehr authentische und aktuelle Informationen erreichten das Ausland. Gleichzeitig sind wir erneut an die rücksichtslose Eroberung und Ausbeutung Sibiriens erinnert worden, die unzählige Menschenleben kostete und viele der dort lebenden indigenen Völker an den Rand des Untergangs getrieben hat. Heute stehen sie so nahe am Abgrund, dass nicht mehr viel dazu gehört, sie endgültig über die Kante zu stoßen.

Die hemmungslose Industrialisierung des Nordens in den dreißiger Jahren wurde zwanzig Jahre später, nachdem die Sowjetunion sich vom zweiten Weltkrieg erholt hatte, mit vervielfachter Energie fortgesetzt. Der Norden war reich an Wald, Kohle, Öl, Gas und Metallen. Riesenhafte Gebiete wurden der Bevölkerung mit einem Federstrich in Moskau geraubt. Bergwerke, Bohrtürme, Straßen, Fabriken, Kahlschläge, neue Industriestädte und Wasserkraftwerke schossen aus dem Boden, wo zuvor Jagd- und Weidegebiete gewesen waren. Giftstoffe aus Metallhütten flossen ungehindert in die Tundra. Für jene, die das Land in eine "glückliche Zukunft" führen sollten, galten keine Gesetze. Das Militär hatte die Alleinherrschaft auf seinen ausgedehnten Übungsgebieten. Die verwundbare arktische Umwelt wurde gedankenlos zerstampft. Der Ferne Osten verlor 30 Prozent seiner Waldgebiete. In den achtziger Jahren wurden schließlich Abholzungslizenzen auch an kubanische und nordkoreanische Firmen verkauft, die überdies die Flüsse vergifteten.

Der Öl- und Gasboom setzte Mitte der sechziger Jahre ein.

Am schlimmsten betroffen waren die Gebiete des mittleren Ob (Land der Chanten), die Jamal-Halbinsel (Nenzen), das Magadan-Gebiet (Evenken und Evenen) und die Insel Sachalin (Oroken und Nivchen). Eisenbahnen und Straßen durchschnitten die Weidegebiete der Rentiere, Städte wuchsen empor, Gasflammen schlugen gen Himmel, Raupenfahrzeuge walzten den Tundra-Boden irreparabel nieder. Allein auf der Jamal-Halbinsel wurden im Laufe weniger Jahre 600 000 Hektar Rentierweide unbrauchbar gemacht und die Herden um 24 000 Tiere dezimiert. Hinzu kamen tätliche Übergriffe der fremden Ölarbeiter auf die ansässige Bevölkerung. Hütten wurden geplündert und Kulturstätten zerstört.

Diese Zustände herrschten bis Ende der achtziger Jahre, als Proteste in zunehmendem Maße auf Gehör stießen. Stellenweise wurden sogar Konzessionen eingezogen, Firmen mussten gehen. Aber sie hinterließen ein verwüstetes Land. An Entschädigung dachte niemand. Zu den gefährlichsten Nachwirkungen der Sowjetzeit in Sibirien gehören die Folgen der Atomtests, besonders in der Umgebung Novaja Zemljas (die Inseln Kolguev und Vajgac) und auf Tschukotka. Die Bevölkerung wurde nicht weit genug evakuiert, und ein großer Teil der Menschen leidet noch heute an Strahlenerkrankungen und deren Folgen.

"Gemeinsam sind wir stärker"

Proteste gegen diese Verhältnisse waren erstmals 1986 ungestraft möglich; damals verhinderten die korjakischen Einwohner der Stadt Paren (Kamtschatka) erfolgreich die geplante Zerstörung ihrer Ortschaft. Andere Beispiele folgten. Vor allem ab 1989 entstanden Interessenorganisationen, so die Nenzen-Vereinigung " Jamal für unsere Nachkommen", die "Vereinigung der Tomsk-Selkupen", der "Verband der Kola-Samen" und die "Regionalvereinigung der Inuit".

Im März 1990 bildete sich aus Vertretern der Nordvölker der "Erste Kongress der kleinen Völker des Nordens" mit dem Schriftsteller Vladimir Sangi, einem Nivchen, als Vorsitzenden. Der Kongress nahm eine sieben Punkte umfassende Resolution an, in der die damalige Sowjetregierung aufgefordert wurde, die ILO-Konvention 169 über den Schutz Indigener Völker zu ratifizieren sowie juristische, administrative und wirtschaftliche Maßnahmen für den Schutz der "Völker des Nordens" einzuleiten. Im Mai 1990 wählte man in Moskau eine "Vereinigung der kleinen Völker des Nordens", die sich zum Ratgeber der Regierung in allen diese Völker betreffenden Fragen zuständig erklärte. Zu ihrem Vorsitzenden wurde der Chante Eremej Ajpin gewählt, ein Mitglied des Obersten Sowjet, gewählt.

Bereits 1989 hatten sich sowjetische Experten für Minderheitenfragen auf dem "Samotlor-Praktikum" in Tjumen (Westsibirien) darauf geeinigt, dass der beste Weg zur Sicherung der Zukunft der Nordvölker in der Einrichtung nationaler Territorien mit Selbstbestimmungsrecht in wirtschaftlichen Fragen, im Verbot von Siedlungszerstörungen und Zwangsumsiedlungen sowie in der Ersetzung zentral gesteuerter Entwicklungsprojekte durch lokal angepasste Maßnahmen liege. Gleichzeitig beschloss die Zentralregierung die Wiedereinführung muttersprachlicher Schulklassen für Ultschen, Jukagiren, Itelmenen, Dolganer und Nivchen. Lehrprogramme für Rentierhaltung, Jagd und Pelztierzucht wurden eingeleitet. Der erste "Nationale Kreis" (Even-Bytantaj) bekam Selbstbestimmungsrecht für wirtschaftliche Entwicklung auf nationaler Grundlage. Mittels Gesetzesänderungen wurde die Einrichtung neuer nationaler Verwaltungsgebiete dort ermöglicht, wo ein indigenes Volk die lokale Mehrheit bildet und dies wünscht. Wo ein indigenes Volk nur eine Minderheit bildet, sollen "ethnische territoriale Einheiten" entstehen können. Diese Gesetze wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom russischen Staat im Dezember 1991 übernommen.

Weg in die Zukunft

In unserer westlichen Kultur wird oft missverstanden, was der Wunsch von indigenen Völkern nach einer Weiterentwicklung gemäß eigener Prämissen beinhaltet. Er bedeutet nicht, die Zeit zurückzudrehen und wieder in Erdhäusern oder Zelten aus Häuten zu leben. Niemand will das. Aber Völker, denen der größte Teil ihres Landes und ihrer Kultur genommen worden ist, müssen zumindest ihr Selbstbestimmungsrecht wiedererlangen, ihre eigene Fortentwicklung planen und auf der Grundlage ihrer eigenen Werte durchführen können. Nur auf diese Weise kann man auf lange Sicht ethnische Konflikte und militante Separationsbewegungen umgehen.

Die Reformen der letzten Jahre werden zwar als ein Zeichen des guten Willens angenommen. Aber der Praxis stehen gewaltige Hindernisse im Weg: teils wegen des alten, verfilzten Parteiapparates, dem es besonders in entlegenen Gebieten gewaltig schwer fällt, sich umzustellen, teils wegen neu aufkommender russisch-nationalistischer Haltungen, teils wegen der allgemein schwierigen Wirtschaftslage und nicht zuletzt, weil vielerorts, wo Mafiagruppen und das Militär nach eigenem Gutdünken handeln, praktisch gesetzlose Zustände herrschen.

Jetzt, wo die Länder des Westens und des Fernen Ostens mit Rußland um die Öffnung der Nordostpassage verhandeln und wo die Weltmeinung zunehmend die Geschehnisse in Russland beeinflussen kann, sollten wir keine Vereinbarungen mit Russland eingehen, wenn sie die traditionellen Landgebiete und Ressourcen dieser Völker weiter enteignen, zweckentfremden oder zerstören. Die kulturelle Vielfalt unserer Erde ist ein Reichtum, den es unter allen Umständen zu bewahren gilt. Menschen dürfen nicht weiterhin aus ihrer angestammten Heimat vertrieben werden; sie müssen vor den Übergriffen der Militärs geschützt werden. An eine mögliche wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland in den Nordgebieten sollten entsprechende Bedingungen geknüpft werden.

Entnommen aus: Die kleinen Völker des hohen Nordens und fernen Ostens Russlands. Ein aktueller Lagebericht mit geschichtlich-ethnographischer Einführung; Gesellschaft für bedrohte Völker Südtirol, Bozen 1998