29.03.2011

Kontinuierliche Verschlechterung der Menschenrechtslage

Syrien

Die unvorhergesehenen Ereignisse, die derzeit die arabische Welt erschüttern, zum Sturz der Regime von Tunesien und Ägypten geführt haben und höchstwahrscheinlich auch zum Ende der Herrschaft des Gaddafi-Clans in Lybien führen werden, richten den Blick der Weltöffentlichkeit derzeit auch auf die anderen arabischen Staaten. Ob die Protestwelle auch Syrien, das im regionalen Gefüge eine zweifellos wichtige Schlüsselrolle spielt, erreichen wird, ist derzeit ungewiss. Hierzu gehen die Meinungen der Experten auseinander. Während die eine Seite einen möglichen Wandel nach den Vorbildern von Tunesien und Ägypten durchaus für realistisch hält (im Internet wurde bereits zu einem Tag des Zorns in Syrien aufgerufen) ermahnt die andere Seite, dass die Angst der syrischen Bevölkerung vor der harten Hand der Geheimdienste zu groß ist. Die Machthaber in Syrien sind jedenfalls in Alarmbereitschaft. Hiervon zeugt die verstärkte militärische Präsenz der Staatsmacht in den Städten. Wie die syrischen Machthaber auf Unruhen regieren würden lassen verschiedene Beispiele aus der Vergangenheit erahnen, die beweisen, wie die Machthabenden mit politischer Opposition umzugehen pflegen. So wurde der Aufstand der Muslimbrüder, die in Opposition zur Herrschaft stehen, im Jahr 1982 brutal niedergeschlagen. Das sogenannte Massaker von Hama forderte circa 30.000 Todesopfer. 2002 und 2003 wurden Demonstrationen von Kurden in Damaskus brutal niedergeschlagen. Im März 2004 löste ein Streit zwischen den Anhängern arabischer und kurdischer Fußballmannschaften Unruhen in den kurdischen Gebieten Syriens aus, die sich später von Kamischli, im Osten des Landes, bis nach Afrin, das im äußersten Westen des Landes liegt, ausbreiteten. Auslöser war, dass die Anhänger der arabischen Mannschaft die kurdischen Fans unter Hochrufen auf Saddam Hussein und mit dem Einsatz von Waffen angegriffen hatten. Vereinzelt kam es damals auch in den Großstädten zu Unruhen. Die Proteste wurden von der Armee, der Polizei und der Baath Partei blutig niedergeschlagen. Dabei gab es dutzende Tote, hunderte Verletzte, zahlreiche vermisste Personen und mehr als 3000 Festnahmen. Viele kurdische Studenten wurden für immer von den Universitäten ausgeschlossen.

Eines der repressivsten Regime

Das syrische Regime ist nach wie vor eines der brutalsten und repressivsten der gesamten arabischen Welt. Grundlegende Menschenrechte werden hier tagtäglich missachtet. Menschenrechtler und Oppositionelle verschwinden, werden inhaftiert und gefoltert. Allein im vergangenen Jahr verstarben zahllose Menschen an den Folgen der Folter in syrischen Gefängnissen. Derzeit gibt es etwa 3000 politische Gefangene. In den Haftanstalten herrschen katastrophale hygienische Zustände, die medizinische Versorgung ist völlig unzureichend. Die Anwendung von Folter in den Gefängnissen und Polizeistationen ist gängige Praxis. Die Opfer dieser Übergriffe leiden häufig ein Leben lang an den körperlichen und psychischen Folgen der Gewalt. Nicht selten versterben die Opfer an den Folgen der körperlichen Misshandlungen.

In Syrien existieren weder Presse- noch Redefreiheit. Alle Presseorgane sind in der Hand der Regierung und werden streng kontrolliert. Das betrifft sowohl alle Rundfunk- und Fernsehanstalten, als auch die Printmedien. Die Freiheit zur Gründung von Vereinigungen wird von der Regierung stark eingeschränkt. Eine Versammlungsfreiheit oder eine legal organisierte Opposition existieren nicht. Immer wieder werden "unbequeme" Personen mit Verweis auf die syrischen Gesetze und unter dem Vorwurf, dem Ansehen des syrischen Staates zu schaden, verhaftet. Immer wieder verschwinden Menschen monatelang, ohne dass ihr Aufenthaltsort bekannt wäre. Immer wieder werden Menschen, ohne, dass eine Anklage erhoben worden wäre, monatelang inhaftiert.

Diktatur des Präsidenten und der Partei

Die Grundpfeiler des syrischen Regimes, dessen Macht in der Hand des Präsidenten konzentriert ist, bilden die Regierungspartei, die Baath, sowie die verschiedenen Polizei- und Geheimdienste. Die Ideologie der Partei der arabischen Wiedergeburt, die seit 1963 de facto Staatspartei ist und als bedeutendster politischer Ausdruck des arabischen Nationalismus gilt, prägt seit Generationen den syrischen Staat und dessen Gesellschaft. Kern der Ideologie ist ein Panarabismus, der die Nation als gemeinsames identitätsstiftendes Merkmal über ethnische und religiöse Unterschiede stellt. So werden die Unterschiede in der Bevölkerung in den Grundprinzipien des Parteistatuts als "beiläufig" und "falsch" bezeichnet. Das Parteiprogramm arabisiert die syrische Bevölkerung, indem hier festgestellt wird, dass das Arabische die offizielle Sprache des Staates und der Bevölkerung und einzige Lehrsprache ist und gleichzeitig alle Araber sind, die auf arabischen Boden Leben und deren Sprache Arabisch ist. Die Partei unterhält eine 100.000 Mann starke Miliz, die den militärischen Arm der Organisation bildet und durchdringt die Gesellschaft mit Massenorganisationen, wie etwa der Jugendorganisation Pioniere der Baath.

Die Geheimdienste wurden vor allem unter der Herrschaft Hafiz al-Assads zielstrebig ausgebaut und gelten als äußerst effektiv. Aufgrund des Kriegsnotstandsgesetzes, das bereits seit 1963 in Kraft ist, agieren die verschiedenen Zweige des Sicherheitsapparates unabhängig voneinander und kontrollieren sich teilweise gegenseitig. Die wohl größte geheime Organisation ist das Sicherheitsdirektorat, das mit Tausenden von Agenten den Alltag der Syrer kontrolliert. Im Visier der Organisation sind vor allem politische Dissidenten, Ausländer und die Medien. Der militärische Geheimdienst, der beim Verteidigungsministerium angesiedelt ist, unterstützt nach westlichen Erkenntnissen terroristische Gruppen. Für die Aburteilung der politischen Gefangenen ist das Staatssicherheitsgericht zuständig. Dessen Verfahren liegen weit unter internationalen Standards.

Nicht – arabische Minderheiten werden brutal unterdrückt

Opfer der staatlichen Repressionen in Syrien sind neben oppositionellen Kräften im Allgemeinen insbesondere Angehörige der religiösen und ethnischen Minderheiten, meist die Kurden. Syrien hat etwa 20,4 Millionen Einwohner und wird überwiegend von Arabern bewohnt. Mit etwa zwei Millionen Menschen bilden die Kurden rund zehn Prozent der Gesamtbevölkerung und die größte ethnische Minderheit des Landes. Sie leben hauptsächlich am Bergmassiv Çiyayê Kurmênc (Kurdenberg) und der Region Kobani (Arab. Ain al-Arab), beide nordwestlich von Aleppo, sowie im Norden der Provinz Djajira (arab. Al-Hassake). Daneben leben in dem Land Armenier, Turkmenen und Tscherkessen. Zwar kann man sagen, dass die Religionsfreiheit in Syrien grundsätzlich gewahrt wird. Hier leben neben der sunnitischen Mehrheit (71 %) auch Aleviten (12 %), Christen (10%), Drusen (4%), Schiiten (2%), sowie Ismaeliten, Juden, Assyro-Aramäer und Yeziden. Allerdings werden die Juden und die Yeziden von der Religionsfreiheit ausgeschlossen. Die Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaften werden teilweise offen diskriminiert. Ihnen werden grundlegende Rechte verwehrt.

Die Lage der Kurden

Die Lage der in Syrien lebenden Kurden ist beispielhaft für die Unterdrückung aller nichtarabischen Völker und religiöser Minderheiten des Landes. Die Geschichte ihrer Unterdrückung reicht weit zurück. Eines der frühen Zeugnisse der Gewalt gegen die Kurden ist ein Vorfall, bei dem 1957 zweihundertundfünfzig kurdische Kinder in einem Kino in Amuda, das vorsätzlich angezündet worden war, starben. Insbesondre seit der Machtübernahme der Baath Partei im Jahre 1963 werden die in Syrien lebenden Kurden massiv unterdrückt und systematisch in ihren Menschenrechten verletzt. Von offizieller Seite wurde die Existenz der Kurden Jahrzehnte lang geleugnet. Das "Kurdenproblem" versucht man durch aggressive Assimilation und eine rigorose, rassistisch motivierte Arabisierungspolitik zu lösen. Die Kurden verfügen über keinerlei legale politische Vertretung. Da die syrische Verfassung ethnische und religiöse Parteien nicht zulässt, sind kurdische Parteien de facto verboten.

Am 23. August 1962 beschloss die syrische Regierung mit dem Dekret Nr. 93 eine außerordentliche Volkszählung in der Provinz al-Hassaka, die im Oktober 1962 durchgeführt wurde. In Folge dieser Volkszählung wurde 120.000 Kurden die syrische Staatsbürgerschaft entzogen. Diese ausgebürgerten Menschen, sowie deren Nachkommen, wurden zu Ausländern im eigenen Land. Sie gelten offiziell als "Ausländer" oder "Nichtregristrierte". Inzwischen ist der betroffene Personenkreis auf etwa 300.000 Menschen angestiegen. Der Entzug der Staatsbürgerschaft hat weitreichende Folgen für die Menschen, denen staatsbürgerliche Rechte verwehrt werden. So haben die Staatenlosen beispielsweise kein Recht auf Eigentum, keinen Zugang zu Bildung, kein Recht, zivile Ehen zu schließen, kein Recht (aktiv oder passiv) an Wahlen teilzunehmen und kein Recht auf staatliche Anstellung. Mit dem Erlass 49. der syrischen Regierung von 2009 ist es Menschen ohne syrische Staatsangehörigkeit auch nicht mehr erlaubt, im privaten Sektor zu arbeiten. Wer den Erlass verletzt, kann zu einer Geldstrafe in Höher von 100.000 syrischen Pfund (1609 Euro) oder zu einer Gefängnisstrafe von sechs bis 12 Monaten verurteilt werden. Der betroffene Personenkreis ist völlig entrechtet, hat keinen Zugang zu Bildung und ist somit nachhaltig zu Arbeitslosigkeit verdammt. Unter diesen Umständen ist ein menschenwürdiges Leben ausgeschlossen. Viele dieser Kurden fliehen daher, wen sie können, ins Ausland.

Das Jahr 1965 bildete den Auftakt für die rassistisch motivierte und bis heute andauernde Arabisierungspolitik, die sich gegen die Kurden richtet. In diesem Jahr reifte die Idee von einer Politik des arabischen Gürtels heran, der in den kurdischen Gebieten entlang der Grenze Syriens zur Türkei und dem Irak errichtet werden soll. Ziel des Vorhabens ist es, die demographischen Verhältnisse im Norden des Landes umzukehren. Aus der kurdischen Mehrheit in dem Gebiet soll eine Minderheit gemacht werden. Ab 1973 begann die planmäßige und gezielte Ansiedelung von beduinischen Arabern in den kurdischen Gebieten. Bis heute wurden bereits über 50 arabische Siedlungen in diesen Landesteilen errichtet. Die kurdischen Landbesitzer -häufig Menschen, die von der Landwirtschaft leben- werden hierbei meist entschädigungslos enteignet. Sie leben völlig verarmt am Rande der Ballungsgebiete und Großstädte und müssen sich und ihre Familien als Tagelöhner durchschlagen, da ihnen die Lebensgrundlage entzogen wurde. Die Arabisierungspolitik verfolgt das Ziel der Auslöschung der nationalen und kulturellen Identität der Kurden. So wurden die historischen kurdischen Namen und Bezeichnungen von Städten, Dörfern, Bergen, Tälern und Landschaften durch arabische Namen ausgetauscht. Die kurdische Sprache ist verboten. Ihr öffentlicher Gebrauch, der Besitz von kurdischer Literatur und Medien jeglicher Art werden hart bestraft. Bis heute wird die Registrierung kurdischer Namen häufig abgelehnt. Offiziell erging 1992 ein Erlass des Innenministeriums, der verbietet, Kindern kurdische Namen zu geben. Durch das Sprachverbot ist die Zahl der Analphabeten unter den Kurden gestiegen. Viele Menschen, die die arabische Sprache gar nicht beherrschen, haben keinerlei Zugang zu Bildung, weil das Arabische die einzig zugelassene Lehrsprache ist. Der Unterricht in kurdischer Sprache und die Ausübung kurdischer Kultur und Folklore sind verboten. 1994 erging eine Verfügung des Gouverneurs von al-Hasaka, der bestimmte, dass alle Geschäfte, die keinen arabischen Namen hatten, zukünftig einen solchen zu führen haben. Ziel dieser Maßnahmen ist es, die historisch gewachsenen nationalen und kulturellen Realitäten und Identitätsmerkmale zu verfälschen. Ganz offensichtlich versucht man die Kurden gewaltsam zu assimilieren und ihr historisches und kulturelles Erbe –ihre Identität- auszulöschen.

Kontinuierliche Verschlechterung der Menschenrechtslage

Die Menschenrechtslage in Syrien hat sich in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert. Systematische Menschenrechtsverletzungen gegen ethnische und religiöse Minderheiten werden täglich dokumentiert. Dazu gehören willkürliche Verhaftungen, Folter, das Verschwindenlassen und die Ermordung unliebsamer Personen. Täglich werden Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten, insbesondere der Kurden, aber auch christlicher Assyro-Aramäer ohne ersichtlichen Grund von den Sicherheitsdiensten, die die Bevölkerung terrorisieren, inhaftiert. Der Ausnahmezustand, der seit 1963 ohne Unterbrechung gilt, erlaubt es der syrischen Regierung die Bevölkerung zu kontrollieren und einzuschüchtern. Besonders Besorgnis erregend sind die Ereignisse in der syrischen Armee. Immer wieder werden Soldaten kurdischer Herkunft misshandelt und kommen unter nicht geklärten Umständen ums Leben. In den vergangenen sieben Jahren kamen bereits 40 kurdische Soldaten unter mysteriösen Umständen ums Leben. Die Angehörigen werden meist unzureichend und nicht wahrheitsgemäß über die jeweilige Todesursache informiert. In der Regel werden von offizieller Seite Selbstmorde und tödliche Unfälle unterstellt. Da der Zugang zu militärischen Dokumenten dem nationalen Sicherheitsdienst unterliegt, ist es quasi unmöglich, Todesfälle und Fälle von Menschenrechtsverletzungen in der syrischen Armee genau zu untersuchen. Von Angehörigen eigenständig veranlasste Untersuchungen von Leichnamen kommen oft zu dem Ergebnis, dass die Tode durch äußere Gewalteinwirkung erfolgt sind (Schusswunden, Folterspuren).

Der Gesellschaft für bedrohte Völker sind derzeit die Namen von 170 politischen Gefangenen bekannt. Die Beispiele für politisch motivierte Verhaftungen sind zahlreich:

Im Jahr 2009 wurde der kurdische Menschenrechtler Maschal Tamo zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, weil er über die Menschenrechtslage in Syrien berichtet hatte.

Auch christliche Assyro – Aramäer werden benachteiligt

Im September 2010 wurden zwei junge christliche Assyrer/Aramäer, Gabriel Isa Iskander und Nahir Hanna, vom syrischen Geheimdienst inhaftiert, weil sie bei einem Konzert die assyrische Fahne geschwenkt hatten und damit angeblich gegen den Paragraphen 307 des syrischen Strafgesetzbuches verstoßen hatten (Schüren von ethnischen und religiösem Hass). Dieser Vorwurf erscheint absurd, da nach geltendem syrischem Recht assyro-aramäische Nationalsymbole in Syrien nicht verboten sind.

Die 19-jährige syrische Bloggerin Tal al-Malluhi wurde am 14.02.2011 vom syrischen Militärgericht wegen Spionage für die USA zu fünf Jahren Haft verurteilt. Konkrete Beweise für diese Anschuldigungen wurden bisher nicht vorgelegt.

Am 25.01.2011 wurde der kurdische Volkssänger Bave Salah festgenommen. Der Sänger, der regelmäßig bei öffentlichen Veranstaltungen auftritt, gehört keiner politischen Organisation und keiner Partei an. Der Künstler engagiert sich seit Jahren für den Erhalt und die Pflege der kurdischen Sprache, indem er kurdische Volkslieder dokumentiert und sammelt. Nach einer weltweiten Kampagne, die von der GfbV gestartet wurde, wurde Bave Salah am 5. März 2011 freigelassen.

Im August 2010 wurde der deutsch-syrische Menschenrechtsaktivist und Jurist Ismail Abdi inhaftiert. Er hatte mit seiner Familie einen Urlaub in Syrien verbracht und wollte das Land verlassen. Mehrere Monate blieb den Angehörigen sein Aufenthaltsort unbekannt. Er soll nach den § 287 und 288 des syrischen Strafgesetzbuches verurteilt werden.

Syrien achtet, trotz seiner Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, die Charta der Menschenrechte nicht. Die Regierung des Landes verstößt weiter kontinuierlich gegen internationale Verträge, wie die UN-Folterkonvention, die das syrische Parlament 2004 ratifiziert hat. Weder die Rechte aus dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, noch die Garantien des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte werden syrischen Bürgern gewährt.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert die Freilassung aller politischen Gefangenen.

Die Unterdrückung und Verfolgung der kurdischen Minderheit in Syrien muss beendet werden. Die nationalen und kulturellen Rechte der Kurden müssen anerkannt werden.

Die 1963 erlassenen Notstandsgesetze müssen aufgehoben werden.

Die syrische Regierung muss umfassende demokratische Reformen einleiten, die den Bürgern und den ethnischen und religiösen Minderheiten Grundrechte und Grundfreiheiten garantieren.