13.02.2007

Mapuche fordern Wahrheit und Gerechtigkeit

STAATLICH INSTITUTIONSALISIERTE GEWALT IN CHILE

Zusammenfassung

"Wahrheit und Gerechtigkeit" lautet die Forderung von Menschenrechtlern und Opferverbänden an den Versöhnungsprozess in Chile bis heute. Denn auch fast 34 Jahre nach dem Putsch, mit dem General Augusto Pinochet 1973 die Regierung Salvador Allende absetzte, herrscht noch immer weitgehend Straflosigkeit für die Täter. Zu den Opfern der staatlich institutionalisierten Gewalt gehören auch die Mapuche, die mit etwa 10 % Bevölkerungsanteil Chiles größtes Ureinwohnervolk sind. Sie untergliedern sich in Mapuche, Pehuenche, Huilliche, Lafquenche, Nagche und Huenteche.

Eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen bestätigte 1978: "Mit dem Tage des Putsches starteten die Großgrundbesitzer und Landbarone, das Militär und die uniformierte Polizei eine regelrechte Hetzjagd auf die Mapuche." 1979 stellte das Interamerikanische Komitee für Menschenrechte in Lateinamerika (Comité Interamericano de Derechos Humanos en América Latina) fest, dass die Mapuche allein aufgrund ihrer ethnischen Identität verfolgt wurden. Auch die unter Präsident Allende begonnene Landreform, durch die die Mapuche 700.000 Hektar Land zurückerhalten hatten, wurde rückgängig gemacht.

Die "Kommission für Wahrheit und Gerechtigkeit", nach ihrem Vorsitzenden auch "Rettigkommission" genannt, schätzt die Zahl der ermordeten und verschwundenen Mapuche auf mehr als 100. Die Rettig Kommission wurde im April 1990 von dem ersten Präsidenten der Regierungskoalition Concertación Patricio Aylwin eingesetzt, um Fälle von Toten und Verschwundenen zu untersuchen. Menschen, die Haft und Folter überlebt hatten, wurden nicht in die Statistiken mit einbezogen. Unter den Opfern körperlicher und psychischer Gewalt waren auch zahlreiche Mapuche. Im Gefängnis von Temuco machten sie in den ersten Monaten nach dem Umsturz 80 Prozent der Gefangenen aus.

Die Rettigkommission wie auch der 1999 eingesetzte Runde Tisch (Mesa de Dialogo) sollten der Wahrheitsfindung dienen. Zur Empörung von Menschenrechtlern und des "Verbandes der Angehörigen von nach der Verhaftung Verschwundenen" AGDD war Gerechtigkeit durch Bestrafung der Täter nicht vorgesehen. Sie kamen in den Genuss des 1978 in der Diktatur erlassenen Amnestiegesetzes, das bis heute gültig ist. Auch aussagewilligen Augenzeugen von Menschenrechtsverletzungen wurde Straflosigkeit zugesichert. Immerhin gaben die Streitkräfte 1999 erstmals zu, dass es überhaupt Menschen gegeben hatte, die nach ihrer Verhaftung verschwunden waren.

Die Mapuche gelten in Chile als ethnische Gruppe innerhalb der Bevölkerung, jedoch nicht als Volk mit eigener Kultur und Geschichte. Bislang ist Chile auf eine ihrer wichtigsten Forderungen nicht eingegangen, nämlich die Ratifizierung der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO. Sie schreibt als einziges internationales Rechtsinstrument Grundrechte für Ureinwohnervölker vor und weist ihnen kulturelle, religiöse, politische und wirtschaftliche Eigenständigkeit und Mitbestimmung als indigene Völker, so der offizielle von den Vereinten Nationen geprägte Terminus, zu.

Stattdessen wird den Mapuche der Gebrauch ihrer Muttersprache Mapudungun bei Behörden, Gerichtsverfahren oder in den Personalpapieren nicht erlaubt. Versprechungen der mittlerweile 17 Jahre alten chilenischen Demokratie, ihnen das unter Pinochet geraubte Land zurückzugeben, wurden bisher nicht erfüllt. Stattdessen zerstören transnationale Holzkonzerne weiterhin das Land der indianischen Kleinbauern durch die Anpflanzung von Monokulturen mit Kiefern und Eukalyptusbäumen für die Zellulosegewinnung. Wenn verzweifelte Mapuche friedlich ihr Land besetzen, werden sie kriminalisiert und gewaltsam von Ordnungskräften der Großgrundbesitzer und der staatlichen Polizei vertrieben.

Wahrheit und Gerechtigkeit in Chile

"Wahrheit und Gerechtigkeit" lautet die Forderung von Menschenrechtlern und Opferverbänden an den Versöhnungsprozess in Chile. Im September 2005 wurde dem damals 89-jährige General Aldopho Pinochet die Immunität entzogen. Psychologen hatten festgestellt, dass der Ex-Diktator, der angeblich unter Demenz, Diabetes und Herzbeschwerden litt, seine gesundheitlichen Leiden nur vortäusche und durchaus in der Lage sei, ein Gerichtsverfahren durchzustehen. Pinochet , der am 10. Dezember 2006 starb, wurde angeklagt,, für das Verschwinden von mindestens 9 Regimekritikern verantwortlich zu sein, die 1975 während der so genannten ‚Operation Colombo’ ihr Leben verloren. Es wird von insgesamt mindestens 119 Todesopfern allein während dieser Geheimoperation ausgegangen. Insgesamt wurden mehr als 3000 Menschen während der Gewaltherrschaft Pinochets im Namen des Regimes ermordet. Zu den Opfern gehörten auch Mapuche, deren tausende von Schicksalen weiterhin ungeklärt sind. In einem demokratischen Chile hoffen die Mapuche auf kulturelle und wirtschaftliche Eigenständigkeit, auf die Rückgabe ihrer während der Diktatur geraubten Ländereien, politische Mitbestimmung und nicht zuletzt auf ihre offizielle Anerkennung als indigenes Volk..

Die "Kommission für Wahrheit und Versöhnung", wurde im April 1990 vom ersten Präsidenten der Koalitionsregierung (Concertación), Patricio Aylwin, eingesetzt mit dem Auftrag, ein möglichst genaues Bild der Verbrechen der Militärdiktatur zu erstellen, die schlimmsten Verbrechen aufzuklären, die Hintergründe und Umstände aufzuzeigen und individuelle Opfer zu identifizieren. Dieses Mandat galt für alle Opfer, also auch für die Opfer unter den Mapuche. Dabei ging es ausschließlich um Tote und Verschwundene. Die vielen Tausend Folteropfer blieben unberücksichtigt. Die Kommission sollte zwar Maßnahmen zur Wiedergutmachung und Rehabilitierung der Opfer vorschlagen. Schuldige namentlich benennen oder gar verurteilen durfte sie jedoch nicht. Insgesamt erfasste der Bericht 2050 Opfer staatlicher Gewalt, 90 Opfer durch Gegner der Diktatur, 778 Fälle, bei denen die Verantwortlichkeit nicht zu klären war. (nach: Claudia Höchst: Vergangenheitsbewältigung und ihre Rolle im Demokratisierungsprozess postautoritärer Systeme. Der Fall Chile; Arbeitshefte des Lateinamerikazentrums der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster, Nr. 81, 2003). Die wirkliche Opferzahl wird sich wohl nie ermitteln lassen. Schätzungen schwanken und gehen bis zu 3200 hingerichteten und verschwundenen Menschen sowie 50.000 Gefangenen, die Haft und Folter überlebt haben (taz, 6./7. 9. 2003).

Als durch die Verfassungsreform im August 2005 einige der letzten Relikte der Diktatur von Augusto Pinochet getilgt wurden, erklärte der damalige sozialdemokratische Präsident Chiles, Ricardo Lagos, dass die Phase des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie abgeschlossen sei. Durch die Verfassungsreform erhält der Staatschef die Vollmacht zurück, Streitkräfte des Militärs und Beamte der Polizei selbst zu entlassen, beziehungsweise zu ernennen (SZ 18.08.2005). Außerdem wurde das Senatsamt auf Lebenszeit abgeschafft und die Regierungszeit von 6 auf 4 Jahre verkürzt. Obwohl dies als ein wichtiger Schritt in Richtung Demokratie zu werten ist, leiden die Mapuche auch nach Amtsantritt der ersten Frau im Präsidentenamt, Michelle Bachelet (Mitte-Links-Bündnis von Christdemokraten und Sozialisten) am 11. März 20006, weiter an sozialer Ungerechtigkeit und Gewalt, die vom Staat, dem Militär und dem Paramiltär ausgeht.

Straflosigkeit statt Gerechtigkeit

Nach dem Prinzip der Straflosigkeit für aussagewillige Zeugen funktionierte auch der Runde Tisch (Mesa de Diálogo), der im August 1999 unter Präsident Frei eingesetzt wurde. An ihm versammelten sich zwar Vertreter aus Militär und Regierung, Menschenrechtsanwälte, sowie vermittelnde Angehörige der Kirche und Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft. Ausgeschlossen blieben jedoch erneut die Angehörigen der Opfer, die vom "Verband der Angehörigen der nach ihrer Verhaftung Verschwundenen" (AGDD) vertreten wurden. Der Runde Tisch endete am 13. Juni 2000 mit der Verabschiedung und Unterzeichnung eines vierseitigen Abschlussdokumentes, in dem die Streitkräfte zum ersten Mal zugaben, dass es überhaupt Menschen gegeben hat, die nach ihrer Verhaftung "verschwanden". Die Streitkräfte verpflichteten sich, binnen sechs Monaten Informationen zur Aufklärung des Schicksals Verschwundener vorzulegen. Doch auch hier wurde die Straflosigkeit für aussagebereite Zeugen zur Voraussetzung gemacht und ein entsprechendes Gesetz eilends verabschiedet. "Es wird also der Wahrheit zunächst Vorrang vor Gerechtigkeit eingeräumt, was auch die heftigen Proteste einiger Menschenrechtsorganisationen gegen das Abkommen erklärt", heißt es in dem Länderbericht 2000, Chile, der Konrad Adenauer Stiftung KAS. Nach Ablauf der Sechsmonatsfrist wurden dann ganze 200 Fälle von Verschwundenen als angeblich geklärt vorgelegt, wobei diese Angaben kritisch zu prüfen sind. So will die Armee 1973 beispielsweise Todesopfer über dem Meer abgeworfen haben, deren sterbliche Überreste 1992 bei Ausgrabungen gefunden und identifiziert wurden (Brennpunkt Lateinamerika, Nr.8 2001, S. 81). Abelina Marihuán, die Witwe eines unmittelbar nach dem Putsch verschwundenen Funktionärs der KP Chile, wartete im Jahre 2001 Monate lang am Rande einer Kupfermine in der Nähe von Santiago darauf, dass die Gebeine ihres Mannes geborgen würden. Angeblich war seine Leiche im Dezember 1976 dort mit denen anderer KP-Funktionäre abgelegt worden. Doch in dem angegebenen Schacht fand man nichts, und die wenigen Knochenreste, die schließlich in einem Nachbarschacht entdeckt wurden, konnten nicht mehr identifiziert werden (taz, 6./7. 9. 2003).

Die Verfolgung der Mapuche in der Diktatur

Die Mapuche wurden wie Tausende chilenische Regimekritiker in den ersten Jahren nach dem Putsch Opfer von Folter, Tod und "Verschwinden". Eine Kommission der Vereinten Nationen bestätigte in einem Bericht von 1978: "Mit dem Tage des Putsches starteten die Großgrundbesitzer und Landbarone, das Militär und die uniformierte Polizei eine regelrechte Hetzjagd auf die Mapuche." 1979 stellte das Interamerikanische Komitee für Menschenrechte in Lateinamerika (Comité Interamericano de Derechos Humanos en América Latina) fest, dass die Mapuche allein aufgrund ihrer Eigenschaft als Ureinwohnervolk verfolgt wurden. Unter der Regierung Allende hatten viele Mapuche von der Agrarreform profitiert, die ihnen etwa 700.000 Hektar Land zurückgegeben hatte. Andere hatten sich vor dem Putsch an der Besetzung von insgesamt ca. 75.000 Hektar Land von Großgrundbesitzern beteiligt. Im September 1972 erließ die Regierung Allende außerdem ein Gesetz (Ley No. 17.729), das den Mapuche grundlegende Rechte in der Verfassung sicherte: die Rückgabe verlorener Landrechte, die Erweiterung der territorialen Garantien, die Förderung sozialer und kultureller Belange, die Verbesserung des Gesundheitswesens und Unterricht in ihrer Muttersprache Mapudungun. All diese Versprechen wurden rückgängig gemacht, als Pinochet gewaltsam an die Macht kam.

Entsprechend brutal war die darauf folgende Verfolgung der Mapuche in den Jahren nach dem Putsch. Damalige Quellen bezifferten die Zahl der Opfer der Militärdiktatur unter den Mapuche auf mehrere Tausend. Es wurde von Dutzenden von Leichen gesprochen, die - wie in der Nähe der Stadt Pitrufquen - in Flüssen stromabwärts trieben. Von Armeelastwagen war die Rede, die mit Leichen beladen aus Gebieten wie Puraquina zurückkehrten. Präzise Zahlen der Mapuche-Opfer werden jedoch vermutlich nie ermittelt werden können. So lässt sich die ethnische Herkunft vieler umgebrachter Kleinbauern oder von in den Siedlungszentren Verhafteten nicht mehr feststellen. Manche Toten sind möglicherweise noch gar nicht geborgen. So wurde der Leichnam eines damals getöteten Mapuche-Studenten aus Temuco erst 1990 gefunden.

Die Rettig-Kommission schätzt die Zahl der ermordeten und verschwundenen Mapuche auf mehr als 100. Der Gesellschaft für bedrohte Völker liegt eine Liste mit den Namen von 116 getöteten Mapuche vor. Mapuche-Repräsentanten gehen von mehr als 300 Angehörigen ihres Volkes unter insgesamt ca. 3.000 Ermordeten aus. Angehörige ganzer Gemeinschaften wurden gefoltert, auch Frauen und Kinder, so etwa in den Dörfern Llaima, Viluco und Allanao. Berüchtigt ist der Überfall auf das Dorf Liquiñe (150 km südlich von Valdivia) im Oktober 1973, der 15 Mapuche das Leben kostete. (Dr. Theodor Rathgeber: Chile: Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Mapuche-Indianern unter Ex-Diktator Pinochet 1973 – 1990; Ein Memorandum der Gesellschaft für bedrohte Völker, Januar 1999).

Alle Institutionen und Organisationen, die sich für die Mapuche und deren Teilhabe an Entscheidungen über ihr Schicksal eingesetzt hatten, wurden von der Militärjunta unterdrückt und zerschlagen. Die nationale Vereinigung der Mapuche (Confederación Nacional de Mapuche) wurde unmittelbar nach dem Putsch verboten, ihre Führer wurden inhaftiert, gefoltert und viele ins Exil vertrieben. Sämtliche Mitglieder der regionalen Vereinigungen der Mapuche wurden verhaftet, viele von ihnen gefoltert. Im Gefängnis von Temuco, dem städtischen Zentrum der Mapuche, machten sie in den ersten Monaten nach dem Umsturz 80 Prozent der Gefangenen aus. Bis Ende der 1980er Jahre besetzten Armee und Polizei Mapuchegemeinden und lösten sie auf. Mit der Verfolgung ging die psychische und soziale Verelendung einher. Leidtragende waren vor allem die Kinder. Ihre Unterstützung mit Milch, Kleidung oder Schulausrüstung wurde eingestellt. Noch Mitte der 80er Jahre starb ein Drittel der Mapuche-Kinder innerhalb des ersten Lebensjahres (pogrom 113/85, S. 44). Die Muttersprache der Mapuche Mapudungun durfte bei öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr verwendet werden.

Die Militärjunta begann sofort nach der Machtübernahme, die friedlichen Landbesetzungen zu beenden, die Landreform zu stoppen und allmählich rückgängig zu machen. Bereits im Oktober 1974 waren 80 Prozent der durch die Agrarreform enteigneten Landgüter wieder an Großgrundbesitzer zurückgegeben worden.

Ein wichtiges Instrument dafür war das Gesetz Nr. 2.568 aus dem Jahr 1979, dessen Artikel 1 besagte, dass "... ab dem Zeitpunkt der Auflösung [der Gemeinschaft] die Ländereien nicht mehr als Ureinwohnerland zu betrachten und die Eigentümer keine Ureinwohner mehr sind." Das Gesetz ermöglichte die Auflösung der gemeinschaftlich verwalteten Ländereien und ihre Parzellierung in Privatbesitz, der verkauft werden durfte. Um es zur Anwendung zu bringen reichte es aus, wenn ein einziger Angehöriger einer Mapuche-Gemeinschaft auch ohne Zustimmung der übrigen den Wunsch zur Auflösung des Gemeinschaftsbesitzes äußerte. Ein ähnliches Gesetz (Nr. 2.885) legalisierte den Landraub bei den Rapanui auf den Osterinseln.

Zerstört wurde damit nicht allein der kollektive Besitz, sondern alle politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Einrichtungen der Mapuche, die an eine kollektive Verwaltung des Territoriums gebunden waren. Von 2.060 Gemeinschaften der mit dem Land verwurzelten Mapuche-Kleinbauern zu Beginn der 1970er Jahre existierten am Ende der 1980er Jahre nur noch 665. Um die Landbesetzerbewegung der Mapuche zu zerschlagen wendet die Regierung bis heute das Anti-Terrorismus-Gesetz (Gesetz Nr. 18.314) und das Gesetz zur inneren Sicherheit (Gesetz Nr. 12.927) an, mit denen die Indianer kriminalisiert und als Terroristen stigmatisiert werden. Bereits 1992/93 waren im Zuge von Landbesetzungen 144 Mitglieder der Organisation "Consejo de todas las Tierras" (Rat aller Länder) als Mitglieder einer ‚kriminellen Vereinigung’ zu Haftstrafen verurteilt worden. (Dr. Theodor Rathgeber: a.a.0.).

Der gegenwärtige Mapuche-Konflikt

Im Oktober 1997 blockierten Mapuche der Gemeinde Lumaco eine öffentliche Straße. Dies war der Auftakt für eine große Bewegung, die die Forderungen der Mapuche bekannt machte: das Recht auf eine eigene Identität und Sprache und die Zurückerstattung ihrer während der Pinochet-Diktatur geraubten Ländereien. Für die meisten Chilenen gehörten die Mapuche längst der Vergangenheit an, doch seit sie tatkräftig ihre Interessen einforderten, kam in dem südamerikanischen Andenland niemand mehr an den Ureinwohnern vorbei. Im "kleinen Chiapas" führten zahlreiche comunidades, ländliche Mapuche-Gemeinschaften, und Mapuche-Organisationen Landbesetzungen, Straßenblockaden, Hungerstreiks, Demonstrationen und andere Aktionen des zivilen Ungehorsams durch (El Mercurio, 10.03.1999).

Während der chilenische Staat eine neoliberale Modernisierung des Landes durch die Förderung der Forstunternehmen, Infrastrukturprojekte, gigantische Energiegewinnungsprojekte mit Wasserkraft und Tourismusprojekte vorantreibt, verteidigen die Mapuche ihre Ansprüche auf das Land in der 8., 9. und 10. Region und ihr Konzept einer eigenen, autochthonen Entwicklung. Diese Wirtschaftsprojekte zerstören das natürliche Umfeld der Mapuche, so dass die Kleinbauern ihre traditionelle Lebensweise kaum beibehalten können. Im mittlerweile 17. Jahr der chilenischen Demokratie stehen ihnen höchstens 200.000 Hektar zur Verfügung, etwa die Hälfte der Fläche von Berlin. Die einzelnen Familien besitzen meist weniger als einen Hektar Land auf dem landwirtschaftliche Aktivität unmöglich und damit das Überleben der Mapuche gefährdet ist. Viele müssen aufgeben und in die städtischen Zentren abwandern, wo sie meist in den Armenvierteln enden. Etwa die Hälfte aller Mapuche soll inzwischen in die Städte verdrängt worden sein. Angaben des chilenischen Agrarministeriums zufolge, benötigt ein landwirtschaftlicher Betrieb zur produktiven Selbsterhaltung mindestens 36 Hektar.

In den letzten Jahren wurden ungefähr 50 Landkonflikte öffentlich bekannt, bei denen es um Grundstücke von Forstunternehmen in der 8., 9. und 10. Region ging, dem Kernland der Mapuche. Ein Mapuche Sprichwort lautet: ‚Was der Natur angetan wird, tun wir uns selber an.’ Früher dienten Araukarien, dunkelgrüne Nadelbäume, den Mapuche als Spender von Mehl für die Herstellung von Tortillas und Brot. Heute bedecken Kiefern und Eukalyptusbäume große Flächen Chiles und lassen den Grundwasserspiegel bedrohlich sinken. Die Erosion schreitet fort, der Einsatz von Pestiziden und genetisch veränderten Arten in der Forstwirtschaft zerstört das natürliche Ökosystem des ursprünglichen chilenischen Waldes. Müllhalden dagegen befinden sich auf Mapuche-Ländereien, oft in der Nähe von Schulen und Siedlungen.

Der Landkonflikt wird immer gewalttätiger und führt zur Anwendung repressiver Gesetze, was die Militarisierung ländlicher Bereiche und schwere Menschenrechtsverletzungen zur Folge hat. Auch kam es schon mehrfach zu Bränden in den Pflanzungen, mit Motorsägen systematisch durchgeführten Rodungen ganzer Baumbestände der Forstbetriebe oder zu Sachbeschädigungen an Forstmaschinen. Vor allem junge, verzweifelte Mapuche greifen zu radikalen Maßnahmen, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen (El Mercurio, 1.02.2001). Oft werden aber auch Mapuche zu Unrecht beschuldigt, für Brandstiftung oder Sachbeschädigung verantwortlich zu sein, denn es besteht großes Interesse, sie öffentlich als Kriminelle und Unruhestifter darzustellen. Außerdem kassieren die Firmen hohe Versicherungssummen. Im Übrigen sind jene Mapuche, die durch Frustration und Verzweiflung zum Mittel der Gewalt gegen Sachen greifen, eine sehr kleine Gruppe. Die meisten Mapuche sind bemüht, angeführt von ihren Häuptlingen (Lonkos) und Sprechern (Werkenes) mit friedlichen Mitteln wie Straßenblockaden oder Landbesetzungen ihre Interessen hörbar und sichtbar zu machen.

Auch der UN-Sonderberichterstatter für die Belange Indigener Völker, Rodolfo Stavenhagen, betont, dass die Gewalt in den Auseinandersetzungen mit den Ureinwohnern Chiles in der Regel vom Staat ausgeht. Im Juni 2003 unternahm Stavenhagen eine Inspektionsreise nach Chile, um die Situation der indigenen Völker zu untersuchen. Er bezeichnete den Vorwurf der Menschenrechtsverletzungen gegen das Mapuche-Volk als gerechtfertigt. Stavenhagen sieht als zentrale Konfliktursache das Landproblem; seiner Meinung nach müssen die Mapuche ihr Territorium zurückerstattet bekommen und entschädigt werden. Auch er räumte ein, dass es unter den Mapuche auch solchegibt, die zum Mittel der Gewalt gegen Sachen greifen. Wenn ein Volk über Jahre unter Repressionen des Staates, des Militärs, Paramilitärs und der Polizei leide, solle man sich nicht wundern, wenn manchmal die Gegenreaktion ebenfalls gewalttätig sei. Unter keinen Umständen dürften Mapuche als jedoch Terroristen dargestellt und verurteilt werden. (Interview mit Stavenhagen, Kolectivo Lientur, 24.07.2003). Die renommierte Menschenrechtsorganisation Fédération Internationale des Ligues des Droits de l´Homme (FIDH), die zwischen dem 21. April und 1. Mai 2002 eine Untersuchung über Menschenrechtsverletzungen an den Mapuche durchführte, kam zu den gleichen Einschätzungen wie Stavenhagen. Dessen ungeachtet geht die Kriminalisierung und Verfolgung der Mapuche ungehindert weiter.

Staatliche und paramilitärische Gewalt

Der chilenische Staat antwortet mit zwei Strategien auf die politische Bewegung der Mapuche. Zum einen werden Demonstrationen und friedliche Landbesetzungen brutal niedergeschlagen. Gemeinsam mit privaten Sicherheitskräften der Forstunternehmen wurde in den Mapuche Regionen eine quasi militärische Zone errichtet. Zum anderen wird versucht, das Mapuche-Problem juristisch zu lösen: durch Kriminalisierung derjenigen Mapuche, die als Terroristen unter dem noch aus der Pinochet-Zeit stammende "Gesetz zur inneren Sicherheit" (Gesetz Nr.18.314) angeklagt werden. Dieses Anti-Terrorgesetz wurde unter der demokratischen Regierung Eduardo Freis 1997 noch einmal verschärft. Viele Mapuche-Gemeinden wurden Opfer von gewalttätigen Polizeiaktionen und nicht aufgeklärten Übergriffen Bewaffneter in Zivil. Die Führer der Mapuche, aber auch andere politisch aktive Mapuche, werden massiv bedroht und verfolgt. Mapucheführer und Vertreter von Menschenrechtsorganisationen zeigen seit einiger Zeit repressive Aktionen der Carabineros (bewaffnete kasernierte Polizeikräfte) und ihrer Spezialeinheiten (GOPE) bei der Polizei an. Erschreckend dagegen der Fall von dem politischen Gefangenen Pascual Pichun, der u.a. deshalb verfolgt wird, weil er Menschenrechtsorganisationen, wie Human Rights Watch, Amnesty International und FIDH über die katastrophale Lage der Mapuche aufklärte.

Auch vor Mord schrecken die Gegner der Mapuche nicht zurück. Der junge Mapuche Jorge Suárez Marihuán, Bruder des Lonko von Malla Malla und selbst aktiv in der Mapuche-Bewegung, verschwand während einer Landbesetzung. Seine Leiche wurde sechs Tage später, am 11. Dezember 2001, im Queuco-Fluss aufgefunden. Dem Obduktionsbericht zufolge wurde Jorge Suárez gefoltert und dann ermordet. Die FIDH machte den Staat für dieses Verbrechen verantwortlich und forderte eine gerichtliche Untersuchung des Falls.

Am 26. 2005 März wurde das Mapuche Oberhaupt José Regle Calhueque, Vorsteher der Mapuche-Gemeinde von Cano Antinao, in den frühen Morgenstunden angegriffen. Als er wie gewohnt sein Haus verließ, um die Tiere auf seinem Land zusammen zu treiben, wurde er von drei Männern überfallen, deren Gesichter von Kapuzenmützen verdeckt waren. Nach einem kurzen Kampf, spürte er, wie sein ganzer Körper erstarrte. Seine Angreifer hatten ihm eine unbekannte Substanz in die Brust injiziert. José Regle Calhueque wurde in das Krankenhaus von Viktoria eingeliefert, dann aber wegen seines kritischen Zustands in das Regionalkrankenhaus von Temuco überführt, wo er sich langsam von dem Überfall erholte. Der Mapuche-Gemeindeverband Mülulche Kimün gab eine öffentliche Erklärung gegenüber dem Justizministerium ab und forderte die Einsetzung einer Untersuchungskommission, um diesen Mordversuch an einer Autoritätsperson der Mapuche aufzuklären und die daran Beteiligten rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. (www.mapuche-nation.org).

Die Gewalt des Militärs, der Paramilitärs und des Geheimdienstes macht auch vor Kindern nicht halt. Die zwölfjährige Tochter des Lonkos Jose Nacupil, Daniela, wurde am 29. Juli 2002 von bewaffneten Unbekannten in Zivilkleidung gezwungen in ein Auto zu steigen, und mehrere Stunden festgehalten. Eine Woche später wurde sie erneut entführt und über ihre Familie ausgefragt, geschlagen und durch Todesdrohungen gegen sie und ihre Familie verängstigt. Vermehrt kommt es auch zu Überfällen auf ganze Mapuche-Gemeinden. Zusammen mit Militär und oft auch mit den privaten Sicherheitsdiensten der Unternehmer stürmen Hundertschaften der Polizei, ausgerüstet mit Tränengasbomben und begleitet von Helikoptern, die kleinen Mapuche-Dörfer. Bei diesen Aktionen kommt es fast immer zu Verletzten. So war es auch am 21. April 2003, als in der Mapuche-Gemeinde Montutui Mapu zum zweiten Mal eine Razzia der chilenischen Polizei stattfand. Die Gemeinde prozessierte um die Rückgabe ihres Landes in "Santa Alicia”, wo die Forstgesellschaft Forestal Mininco S.A. Eukalyptusplantagen unterhält. Dem Überfall folgte eine Verhaftungswelle, bei der auch der Lonko der Gemeinde sowie Frauen und Kinder unter 12 Jahren in Haft genommen wurden. Die Mapuche beklagen die schlechte Behandlung während der Untersuchungshaft. Frauen mussten sich vor den Polizisten ausziehen, Kinder werden zu Erwachsenen gesperrt, die Gefangenen würden wie Vieh behandelt, geschlagen und auf den Boden gestoßen (Enlace Mapuche Internacional; Indymedia.be 23.04.2003). Die staatliche Gewalt zeigt sich zudem in Straßenkontrollen, Überwachung der Mapuchegebiete aus der Luft, Hausdurchsuchungen und nächtlichen Überfällen durchgeführt von den Carabineros der kasernierten Polizei, der Zivilpolizei und den Angehörigen des Geheimdienst.

Angesichts derartiger Vorkommnisse forderte das UN-Komitee gegen Folter die Regierung Chiles auf, einen umfassenden und unparteiischen Untersuchungsausschuss zu gründen, der die Praktiken der Carabineros untersucht. Das UN-Komitee für Menschenrechte und die Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte fordern darüber hinaus, dass Militärtribunale in Fällen, bei denen Angehörige der Armee oder der Polizei in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, nicht eingeschaltet werden dürfen, da eine unabhängige Gerichtsbarkeit in solchen Fällen nicht gewährleistet sei (Poonal, 10. 05. 2003).

Der UN-Sonderberichterstatter Stavenhagen kritisiert ebenfalls die massive Einschränkung des Rechts auf Bewegungsfreiheit der Mapuche, die unverhältnismäßigen Kontrollen unterworfen werden und Land der Forstunternehmen nicht ungehindert durchqueren dürfen. Durch Wächter, oft staatliche "Carabineros", und hohe Zäune sind die Mapuche aus ihren traditionellen Gebieten ausgesperrt. Sie dürfen nicht einmal ihr Vieh zwischen den Bäumen weiden lassen.

Politische Mapuche-Gefangene

Besonders die Führer der Mapuche in der Landrechtsbewegung werden auf Grundlage des Anti-Terror-Gesetzes Nr. 18.314 angeklagt. Dieses Gesetz ist nach Auffassung der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) ein Skandal für einen demokratischen Staat. Es wird auch bei Sachbeschädigung und "möglicher Verbindung" zu einer "eventuell" als terroristisch einzustufenden Vereinigung angewandt und erlaubt der Anklage, Zeugen anonym und dadurch kaum überprüfbar aussagen zu lassen. Die Beschuldigten können monatelang in Untersuchungshaft gehalten werden. Dadurch geraten ihre Angehörigen oft in höchste Not, denn sind sie auf das Einkommen jedes Familienmitgliedes angewiesen. Teure Anwälte, die sie vor Gericht vertreten, können sich nur die wenigsten leisten. Weil sie der chilenischen Justiz nicht trauen, tauchen dann auch viele Bürgerrechtler unter. Die GfbV setzt sich seit langem für die Abschaffung des Anti-Terror-Gesetzes und für die Freilassung aller auf dieser Grundlage angeklagten und verurteilten Mapuche ein. In dem Memorandum ‚Mapuche in Chile fordern die Freilassung der politischen Gefangenen’ (Göttingen 2005) werden der Hintergrund der Kampagne von Herbst 2005 und die Geschichte der zurzeit inhaftierten Mapuche ausführlich dokumentiert.

"Heute sind alle Mapuche Terroristen, es sei denn wir beweisen das Gegenteil. Das ist die neue Gerechtigkeit", sagt der Bauer Victor Ancalaf Llaupe voll Bitterkeit. Der Mapuche-Indianer wurde am 2. Januar 2004 wegen "terroristischer Tätigkeiten" zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Weil er Berufung einlegte, sind es jetzt "nur" noch fünf Jahre und ein Tag. Der heute 38 Jahre alte Vater von fünf Kindern hatte 1997 eine Bürgerrechtsbewegung der Mapuche in Chile gegründet. Schon damals wurde er mehrfach verhaftet. Dann wurde er wegen Holzdiebstahls angeklagt. Angeblich habe er auch einen Minister entführt, wurde ihm nach der kurzfristigen Besetzung eines Gerichtsgebäudes vorgeworfen und schließlich soll er drei landwirtschaftliche Fahrzeuge angezündet haben. "Terroristische Brandstiftung" lautete dann auch die Begründung des Urteils im Revisionsverfahren gegen ihn. Alle anderen Anklagepunkte wurden fallen gelassen. Die Bestrafung für eine Tat, die Victor Ancalaf Llaupe vielleicht gar nicht begangen hat, ist jedoch so hoch, als sei er ein gemeingefährlicher Verbrecher. Wer sich in der jungen Demokratie Chile für die Landrechtsbewegung der Ureinwohner engagiert, an friedlichen Demonstrationen, Straßenblockaden, Landbesetzungen oder anderen gewaltlosen Initiativen gegen Großgrundbesitzer teilnimmt, wird schnell mit schweren Anschuldigungen konfrontiert. "Mitgliedschaft in einer terroristischen illegalen Vereinigung", "terroristische Bedrohung" oder "terroristische Brandstiftung", lauten die Standardvorwürfe, die Mitglieder legitimer indianischer Bürgerrechtsbewegungen einschüchtern und mundtot machen sollen. Schon viele Mapuche wurden angeklagt, wieder freigesprochen, dann wegen der gleichen angeblichen Vergehen erneut beschuldigt und schließlich zu hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt.

Flucht nach Argentinien

Der heute 24-jährige Pascual Pichún Collonao, dem die Anklage Brandstiftung vorwarf, wurde am 10. April 2003 von einem Gericht in Angol für nicht schuldig befunden. Sein Vater, der Lonko Pascal Pinchún Paillalo (53) und einer seiner Brüder, Rafael Pichún Collonao (22) wurden ebenfalls nach Verfahren unter dem Anti-Terrorismus-Gesetz verurteilt. Lonko Pascal Pinchún Paillalo (53) genießt mittlerweile Haftvorteile wegen guter Führung. Er darf zum Beispiel sonntags das Gefängnis verlassen. Einer Pressemeldung von 13. Januar 2007 zufolge soll er vorzeitig auf Bewährung entlassen werden, möglicherweise schon im März 2007. Am 2. Juli 2006 wurde das Urteil gegen seinen Sohn Pascual Pichún Collonao revidiert, am 9. September wurde das Verfahren gegen ihn jedoch erneut eröffnet, diesmal unter dem Vorwurf des Terrorismus. Pascual Pichún Collonao sagte in seiner Eingabe an Stavenhagen:

"Wir leben auf 1½ ha Land, eingepfercht wie die Tiere, wir können nichts produzieren, und haben nichts, was wir unseren Kindern hinterlassen können. Wir leben in Armut und direkt neben uns liegen die riesigen Forstunternehmen mit einer Fläche von 2.000 ha, wie das von Mininco oder Nancahue von Agustín Figueroa. Wir haben an viele Türen geklopft, viele Petitionen eingereicht, aber nichts passiert, es ist keine Lösung in Sicht. Seit kurzem haben wir kein Wasser, die Forstunternehmen haben die Brunnen und Wasserreservoirs ausgeschöpft. Die Gemeindeverwaltung hat uns einen LKW mit Wasser gegeben, für 600 Personen! Da haben wir gesagt, wir werden kämpfen und uns das wiederholen, was uns zu Mapuche macht, das Land. Seitdem wir aufgestanden sind und unsere Stimmen erheben, werden wir verfolgt. Ich habe jetzt schon drei oder vier Gerichtsverfahren, ich weiß es nicht genau. Von der Firma Mininco, dem Staat und das letzte von diesem Agustín Figueroa. Ich war ein Jahr im Gefängnis, ohne dass es Beweise gegen mich gegeben hätte. Sie sagten, sie hätten mit Zeugen gesprochen. Aber die zeigen nicht ihr Gesicht. Die sollen gesagt haben, sie hätten mich dies und das machen gesehen. Aber das waren Lügen. Die Richter haben dann auch gesagt, dass ich unschuldig bin. Jetzt prozessiert Figueroa wieder gegen mich. Sie sagen, der alte Richter taugte nichts. Ich werde wieder wegen Terrorismus angeklagt. Ist das Gerechtigkeit?"

Pascual Pichún Collonao tauchte unter und floh nach Argentinien. Am 6. Dezember beantragte er dort Asyl. Er wird betreut von der Argentinischen Liga für Menschenrechte (Liga Argentina por los Derechos del Hombre). Die argentinische Regierung erlaubt ihm freien Aufenthalt, solange das Verfahren um seinen Asylantrag läuft, da ihm bei einer Rückkehr nach Chile die sofortige Festnahme droht.

Die Mapuche leben beiderseits der Anden auf chilenischen und argentinischen Boden. Im Gegensatz zu Chile, erkennt Argentinien den Status der Mapuche als Indigenes Volk mit eigener Kultur und Geschichte an, das aufgrund der ILO-Konvention 169 zu schützen ist. Deshalb hat sich eine argentinische Mapuche-Vereinigung direkt an die argentinische Regierung gewendet und sich für Pascual Pichún Collonao’s Sicherheit vor politischer Verfolgung eingesetzt, um ihm Asyl in Argentinien zu verschaffen. Studenten und empörte Mapuche aus Puelmapu, Argentinien, haben sich bereits zusammengetan in der ‚Vereinung im Kampf für das politische Asyl in Argentinien für unseren Mapuche-Bruder Pascual Pichún Collonao Collonao’. Sie wollen der argentinischen Regierung begreiflich machen, dass Pichún Anrecht auf Exil hat, da er allein wegen seiner ethnischen Identität und seines politischen Engagements im friedlichen Kampf für soziale Gerechtigkeit verfolgt und als Terrorist kriminalisiert wird. Pascual Pichún Collonao ist der erste Mapuche aus Chile, der von der argentinischen Regierung politisches Asyl erbittet.

ILO-Konvention 169:

Die Mapuche sind das größte indigene Volk Chiles und haben einen Anteil and der Gesamtbevölkerung (15 Millionen) von circa 10%. Die Ureinwohner Chiles gelten als ethnische Gruppe, nicht aber als indigenes Volk. Völkerrechtlich ist das ein großer Unterschied. Dementsprechend ist eine der Hauptforderungen der Mapuche die Ratifizierung "Übereinkunft Nr. 169 über indigene und in Stämmen lebende Völker". Sie setzt als bislang einziges Instrument des Internationalen Rechts Grundrechte für indigene Völker und "Stammesvölker" fest und legt den Unterzeichnerstaaten umfassende Verpflichtungen zu deren Schutz auf. Die wichtigsten Artikel betreffen:

- volle Gewährleistung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ohne Unterschiede (Art. 2, 3),

- Recht auf kulturelle Identität (Art. 4),

- Recht auf gemeinschaftliche Strukturen und Traditionen (Art. 4),

- Recht auf Beteiligung bei der Findung von Entscheidungen, die diese Völker betreffen (Art. 6),

- Recht auf Gestaltung der eigenen Zukunft (Art. 6, 7),

- Gleichberechtigung vor Verwaltung und Justiz, (Art. 2, 8, 9),

- Recht auf Land und Ressourcen (Art. 13-19),

- Recht auf Beschäftigung und angemessene Arbeitsbedingungen (Art. 20),

- Recht auf Ausbildung und den Zugang zu den Kommunikationsmitteln (Art. 21).

Der Fall Aucán Huilcamán

‚Ich möchte nicht glauben, dass hier, in unserem Land, Apartheid existiert’, sagte der Mapuche Sprecher Aucán Huilcamán der Zeitung Azkintuwe, nachdem seine Präsidentschaftskandidatur am 15.09.2005 zurückgewiesen worden war.

Unter chilenischem Gesetz muss jeder potentielle Präsidentschaftskandidat, der einer unabhängigen Partei angehört, 35.171 beglaubigte Unterschriften vorweisen können. Huilcamán ritt auf einem weißen Pferd und in traditioneller Mapuche-Kleidung durch das Land und konnte schließlich 39.100 Unterschriften vorlegen. Von diesen konnten jedoch nur 1,399 von einem Notar beglaubigt werden, da Huilcamán die Kosten, die sich auf 2,5 bis 3,5 Euro pro beglaubigte Unterschrift belaufen, nicht aufbringen konnte.

"Was im Fall Aucán Huilcamán und seiner Kandidatur passierte stellte eine Ungerechtigkeit dar und beweist, dass das chilenische demokratische System elitär ist und politische Minderheiten diskriminiert," sagte Francisco Estevez, Präsident der NGO Fundación Ideas. Die Beglaubigung der Unterschriften sollte nicht mit einer Gebührenpflicht verbunden sein (www.mapuche-nation.org).

Derweil untersucht der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (Corte Interamericana de Derechos Humanos, CIDH), bei dem Huilcamán Klage eingereicht hat, den Fall der gescheiterten Präsidentschaftskandidatur des Mapuche Sprechers. Das Verfahren wird sich zwar nicht mehr auf die Wahlen auswirken, die am 11.12.05 stattgefunden haben und aus der Michelle Bachelet als Siegerin hervor ging, dennoch wird es den Mapuche ermöglichen, international auf sich und auf die soziale Ungerechtigkeit unter der sie in Chile leiden, aufmerksam zu machen. Bereits kurz nachdem Huilcamán die Kandidatur verweigert worden war, schrieb die Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament einen Beschwerdebrief an die Regierung Lagos.

Das Freihandelsabkommen der EU und Chile

Private und transnationale Holzfirmen halten ca. 95 Prozent des einst den Mapuche gehörenden Territoriums besetzt. Insgesamt ist mit 33,8 Mio. Hektar Wald fast die Hälfte der Gesamtfläche Chiles forstwirtschaftlich nutzbar. Forstwirtschaft bedeutet für die großen Holzfirmen jedoch vor allem, mit schnell wachsenden Hölzern, größtmöglichen Gewinn zu erwirtschaften. Mit Nachhaltigkeit oder Waldschutz hat das nichts gemeinsam. Die Frustration unter den Mapuche angesichts des Raubbaus an der Natur, dem der Staat tatenlos zuschaut, nimmt weiter zu. So pflanzen die Holzfirmen bevorzugt Eukalyptusbäume und schnell wachsende Nadelhölzer für die Zellstoffproduktion an. Diese verbrauchen mehr Wasser, als sie dem Kreislauf zurückgeben. Dies und die großflächige Abholzung des einheimischen Waldes senkt den Wasserspiegel ab und lässt die Erosion dramatisch ansteigen. Schon 1999 waren davon nach Angaben der staatlichen Forstbehörde (Corporación Nacional Forestal, CONAF) 62 Prozent der Gesamtfläche des Landes betroffen. In der hauptsächlich von Mapuche bewohnten 10. Region waren bereits 50 Prozent des Bodens erodiert.

Am 1. Februar 2003 trat das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Chile in Kraft. Mit einem Anteil von 23% des gesamten Wirtschaftssektors ist Europa der drittwichtigste Markt nach den U.S.A und Asien. Somit trägt Europa durch den Holz- und Zellstoffhandel mit Chile Mitschuld an der Vertreibung der Mapuche und der Zerstörung ihres traditionellen und natürlichen Lebensraums. Als Handelspartner und Förderer der Kommerzialisierung chilenischen Holzes leistet Europa, und damit auch die Bundesrepublik Deutschland, täglich Beihilfe zur Diskriminierung und Verarmung einer der ältesten Kulturen Südamerikas. Dies führt zur Verschärfung des Territorialkonflikts zwischen den Mapuche und Großgrundbesitzern, und damit zu weiteren unschuldig verurteilten politischen Gefangenen in chilenischen Gefängnissen. Wo früher Araukarien, die in der Religion der Mapuche als heilig gelten, standen, bedecken heute Kiefern und Eukalyptusbäume Großteile Chiles.

Obwohl mehrere Artikel des Freihandelsabkommen (Artikel 1, 12, 16, 28, 91) sich nicht nur für den Schutz der Umwelt, sondern auch für die Förderung und Verteidigung der Menschenrechte aussprechen, macht Europa aus den Mapuche Opfer des ‚Fortschritts’ und gefährdet damit nicht nur deren kulturelles Erbe, sondern auch ihr Überleben.

Kritik an diesen florierenden Unternehmen, die als Symbol für Entwicklung, Fortschritt, Wirtschaftlichkeit, Arbeit, Naturschutz und nachwachsende Ressourcen dienen, wird als unpatriotischer Akt niedergeschlagen. Die Taten der Mapuche, Umweltaktivisten und Menschenrechtler werden in den Medien als gewalttätig und illegal dargestellt und mit dem internationalen Terrorismus verglichen. Die Ursachen der Konflikte werden verschwiegen. Für die öffentliche Meinung aber ist es entscheidend, was die Massenmedien verbreiten.

Rechtliche Situation:

Unter Präsident Patricio Aylwin wurden zwei Gesetze zum Schutz der angestammten Rechte der Mapuche und ihrer natürlichen Umwelt erlassen - das "Ley de los Pueblos Indígenas" (1993) und das "Ley del Medio Ambiente" (Umweltgesetz, 1994). Im "Ley Indigena" wird den Mapuche aber nicht der Status als Volk zuerkannt, sondern es wird nur von einer indigenen Bevölkerung gesprochen. Ebenfalls 1993 wurde die Indianerbehörde CONADI (Corporación Nacional De Desarrollo Indígena, Nationale Entwicklungsbehörde für Indigene) gegründet, deren Wirken unter den Mapuche allerdings auf eher gemischte Meinungen stößt. Der Vorsitzende des "Coordinadora de Comunidades en Conflicto" (Koordinationskomitee der Gemeinden im Konflikt) José Huenchunao erteilte der staatlichen CONADI eine deutliche Absage. Sie komme ihren Pflichten nicht nach und sei nicht in der Lage die Situation der Mapuche zu verbessern. Die Machtlosigkeit der Behörde zeigt sich zum Beispiel daran, dass einer ihrer Vorsitzenden ganz einfach abgesetzt wurde, nachdem er sich öffentlich gegen den lange Zeit von den Mapuche erbittert bekämpften Ralco-Staudamm am Bio Bio Fluss ausgesprochen hatte. Das "Ley Indígenas" hat zwar die Möglichkeit geschaffen, Ländereien für die Mapuche zu kaufen, was in einigen Fällen auch geschah. Doch weder in der Menge noch in der Qualität war dieses Land als Ersatz für die erlittenen Verluste tauglich. Die Indianerschutzgesetze, so gut sie vielleicht gemeint sind, leiden unter chronischer Unterfinanzierung. So sind auch die Töpfe für die Landrückkäufe leer. Die Ländereien, die von den Forstunternehmen an die Mapuche zurückverkauft werden sind außerdem bereits ausgelaugt und für landwirtschaftlichen Anbau unbrauchbar.

Forderungen der Gesellschaft für bedrohte Völker

- Freilassung aller auf Grundlage des Anti-Terrorismusgesetzes verurteilten Mapuche

- Einstellung aller noch laufenden Verfahren

- Abschaffung des Anti-Terrorgesetzes

- Faire Landreform für die Mapuche. Damit verbunden ist die Rückgabe ihre ursprünglichen Territorien

- Überprüfung aller Landrechtsverfahren gegen Mapuche

- Anerkennung der Mapuche und der anderen Ureinwohner Chiles durch die Ratifizierung der International Labour Organisation-Konvention 169

- Aufklärung des Schicksals der Mapuche-Opfer der Pinochet Diktatur

- Angemessene Beteiligung der Mapuche und aller anderen Ureinwohner Chiles durch ungehinderte Zulassung ihrer Kandidaten zu Wahlen