27.04.2005

Nationalitätenfrage und Demokratisierung in China

Konfliktursachen, Ethnische Reaktionen und Lösungsansätze

Statistisch betrachtet hat der Anteil der offiziell anerkannten 55 "nationalen Minderheiten" an der Gesamtbevölkerung Chinas seit 1990 deutlich zugenommen. Laut Volkszählung machten sie damals mit zusammen 91,2 Millionen Menschen rund acht Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Beim Mikrozensus von 1995 lag ihr Anteil bereits um einen Prozentpunkt höher bei zusammen 108,5 Millionen Minderheitenangehörigen. 18 Prozent davon entfallen auf die drei großen Gruppen der Tibeter, Uiguren und Mongolen.

Zu diesem Bevölkerungswachstum unter den nationalenMinderheiten hat vor allem ein zunehmendes Selbstbewußtsein und eine dadurch erhöhte Bereitschaft zum Bekenntnis zur eigenen ethnischen Identität geführt. Zugleich nehmen aber auch die Konflikte der Nationalitäten untereinander zu. Ohne Gegenmaßnahmen dürften sie sich in den kommenden Jahren erheblich verschärfen. Jahrzehntelang wurden sie fast völlig geleugnet. Unter sozialistischen Verhältnissen, so hieß es, gebe es keine ethnischen Konflikte mehr, weil Diskriminierung und Unterdrückung beseitigt seien. Mittlerweile wird aber eingeräumt, daß diese Behauptung unzutreffend ist.

Chinesische Meinungsumfragen erlauben, bei aller gebotenen Vorsicht, den Schluß, daß ein erheblicher Teil der Angehörigen ethnischer Minderheiten sich gesellschaftlich nicht respektiert fühlt. Eine Umfrage, bei der ca. 80 Prozent der Befragten Angehörige ethnischer Minderheiten gewesen sein sollen, kam zu dem Ergebnis, daß 51,7 Prozent aller Befragten das Beziehungsgefüge zwischen Han und Minderheiten für höchst konfliktträchtig hielt. 63,3 Prozent empfanden verstärkt ein Gefühl der Ungleichheit, 35,6 Prozent erwarteten ethnische Unruhen und 33,0 Prozent stellten eine wachsende Unzufriedenheit unter den Minderheiten fest.

Die Konfliktursachen sind vielfältig. Historische Traumata, wie die Verdrängung, Vernichtung oder Demütigung von Völkern wirken bis heute nach. Ins kollektive Gedächtnis eingegraben hat sich ebenfalls die traditionelle Vorstellung, daß die Han sich schon immer von anderen Völkern unterschieden hätten, weil sie als einzige "Kultur" besaßen. Politisches Ziel der Han sei es, diese "anderen" Völker zu "kultivieren". In einer an das historisch-materialistische Weltbild Stalins angelehnten Hierarchie stehen die Han an der Spitze, die indigenen (Ureinwohner-) Völker als "Barbaren" am untersten Ende.

Der Kaiserhof als Träger der "höchsten" Kultur wurde nach der Revolution durch die KP ersetzt. Diese erklärte es zur Aufgabe der Nationalitäten, den großen Bruder möglichst schnell einzuholen und sich seiner (sozialistischen) Zivilisation anzunähern. Der patriarchalische sozialistische Staat erhielt die Aufgabe, entsprechende Schritte einzuleiten. Er legt fest, was für die "Minderheiten" nützlich ist und welche Sitten und Bräuche "gesund" (oder fortschrittlich) und damit "reformierbar" sind, oder "ungesund" (oder rückständig) und abgeschafft werden müssen.

Das Autonomiegesetz von 1984 und die Aufwertung der Minderheiten in der Verfassung von 1982 änderten an dieser Ausgangssituation nichts. Die Partei bleibt den autonomen Verwaltungsinstitutionen als letztlich entscheidende Instanz stets übergeordnet. Mangels Rechtsinstitutionen wie Verfassungs- und Verwaltungsgerichte gibt es keine Rechtssicherheit. Außerdem sieht das Autonomiegesetz in wichtigen Fragen wie Einwanderung von Han, Industrieansiedlung oder Schutz natürlicher Ressourcen keinerlei Mitspracherechte vor. Letztlich befinden sich die nicht-Han Völker im Status institutionalisierter Abhängigkeit, weil sie politisch und ökonomisch von Han-Institutionen dominiert werden.

Die Minderheitengebiete zählen zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Gebieten Chinas, obwohl ein Großteil von ihnen aufgrund reicher Rohstoffvorkommen ein bedeutendes Entwicklungspotential besitzt. 80 Prozent der offiziell unter der Armutsgrenze lebenden rund 80 Mio. Menschen in China leben in Minderheitengebieten (= 64 Mio.). Ein Fünftel der Angehörigen ethnischer Minderheiten gilt als "arm". Alle autonomen Gebiete und Provinzen mit hohem Minderheitenanteil hängen am Tropf der Zentralregierung.

Verstärkt wird die Unzufriedenheit der Nationalitäten durch zunehmende Zuwanderungen von Händlern, staatlichen Institutionen oder Privatpersonen, die ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung Wälder abholzen, nach Edelmetallen schürfen oder Kohle abbauen, und durch die steigende Arbeitslosigkeit in den Minderheitengebieten infolge der bevorzugten Einstellung von Han in den Staatsbetrieben. Hinzu kommt wachsende religiöse Intoleranz der Behörden und Betriebsleitungen. So ist z. B. in islamischen Gebieten überwiegend der Sonntag Ruhetag, am muslimischen Feiertag (Freitag) wird gearbeitet. Manche Unternehmensleitungen haben Gebete während der Arbeitszeit verboten. Die für Muslime verpflichtende Teilnahme an Bestattungen und Hochzeiten wird an Arbeitstagen nicht erlaubt. Verstöße gegen diese Anordnungen werden in der Regel streng bestraft.

Beschäftigte, die einer ethnischen Minderheit angehören, werden oftmals schlechter bezahlt, verrichten minderwertigere Tätigkeiten und besitzen geringere Fortbildungschancen als Han. Die Kreditvoraussetzungen für Betriebe in Minderheitengebieten und für private Unternehmer, die einer ethnischen Minderheit angehören, sind erheblich strenger als für andere. Gleichzeitig hat die Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen die Vermarktung und Kommerzialisierung der Minderheiten-Kulturen begünstigt. So wird zum Beispiel in "Nationalitätendörfern" (minzu cun) eine künstliche Exotik für Touristen produziert. Bestattungsbräuche wie die tibetische Himmelsbestattung werden zu hohen Preisen Touristen zugänglich gemacht, ohne die Betroffenen zu konsultieren. Wichtige Kulturstätten werden als "Erschließungszonen" einfach zu Touristenattraktionen ausgebaut. Bei "authentischen" Kulturdarbietungen wird die Tracht der Nationalität A mit der Musik der Nationalität B und einem Tanz der Nationalität C gemischt und dieses Mogelpaket dann als "Kultur" der Nationalität D ausgegeben.

Landrechte für indigene (Ureinwohner-) Völker gibt es in China nicht. Ihre Siedlungsgebiete, Jagdgründe und Weiden werden durch den Abbau von Rohstoffen, Migration und Industrieansiedlungen zerstört. Der Boden wird von den Gemeinde- oder Kreisbehörden vergeben, überwiegend an Unternehmen aus Han-Gebieten oder an Han. Pelze und Felle werden häufig gegen Alkohol oder Drogen eingetauscht. Bei einigen kleineren Nationalitäten hat sich eine Tendenz zur Resignation und Anpassung an die Han entwickelt. Die nordostchinesischen kleinen Jägervölker der Ewenken, Oroqen, Dahuren und Hezhe etwa wurden von den Behörden gezwungen, seßhaft zu werden und ihre Lebensweise als Nomaden, Jäger und Sammler gegen die von Ackerbauern einzutauschen. Schamanistische und animistische Rituale wurden verboten. Die Folge sind Alkoholmißbrauch und hohe Selbstmordraten vor allem unter Jüngeren.

Andere Nationalitäten leisten aktiven Widerstand. So protestierten Muslime in den letzten Jahren mehrfach gewaltsam gegen Verächtlichmachungen ihrer Religion in chinesischen Publikationen. Auf der Insel Hainan wehrten sich die Bewohner zweier Dörfer der muslimischen "Utsat" mit Gewehren und selbstgebauten Molotow-Cocktails gegen die permanente Gewaltanwendung und diskriminierende Maßnahmen der Han aus Nachbardörfern, nachdem die lokalen Behörden lange Zeit nichts zum Schutz der Minderheit unternahmen. Daraufhin wurden 500 Muslime verhaftet, die Angreifer blieben ungeschoren.

Manche Gruppen von Minderheiten weichen in Rückzugsgebiete in Bergen oder Wäldern aus. Alte Traditionen und religiöse Überzeugungen werden wiederbelebt. Bei den Yi etwa lassen sich mehr und mehr junge Leute zu Bimo, den traditionellen Schriftgelehrten, Seelenbegleitern und Heilern oder zu Suni, Schamanen, ausbilden. Bimo besitzen ein hohes Prestige in der Yi-Gesellschaft und füllen die Lücken im staatlichen Gesundheits- und Bildungsnetz. Der Reformprozeß in China hat also keineswegs zu einer Angleichung der Kulturen geführt. Der Teilrückzug des Staates bewirkt vielmehr eine Rückkehr lokaler Kulturen.

Bei verschiedenen Miao-Gruppen etwa findet die traditionelle Heilserwartung, daß nach einer Zeit der Katastrophe der Miao-König zurückkehren, den Miao das ihnen von den Han weggenommene Land zurückgeben, ihr Leben verbessern und ihnen möglicherweise einen eigenen Staat geben werde, wieder wachsende Verbreitung. Bei den Yi im Liangshan-Gebirge wächst der Einfluß von Bewegungen und Sekten, die auf das Ende der Welt warten, Partei- und Massenorganisationen unterwandern, mehr und mehr Dörfer, den Zugang zu Partei- und Verwaltungsämtern und teilweise schon die Wahlen auf Dorf-, Gemeinde- und Kreisebene kontrollieren. Besonders ausgeprägt ist das religiöse Wiedererwachen bei den muslimischen Hui und in Xinjiang. Chinesischen Berichten zufolge hat es sich bis zu einem kaum noch kontrollierbaren Grad entwickelt.

Gerade junge Minderheitenangehörige wandern auch in andere Landesteile oder ins Ausland ab. Tibeter flüchten ins indische Exil des Dalai Lama, Angehörige der Turkvölker in Xinjiang gehen in die benachbarten neuen zentralasiatischen Staaten oder in die Türkei, Dai nach Thailand, Koreaner nach Korea. Innerhalb Chinas sind vor allem die Ballungszentren und die Küstenregionen Anziehungspunkte. So gibt es in Peking das "Xinjiang-Dorf", dessen Einwohner hauptsächlich im Dienstleistungssektor tätig sind (Gastwirte, Händler etc.). Armut, Arbeitslosigkeit und mangelnde Bildungschancen haben auch Yi oder Tibeter in die Städte getrieben. In den großen südwestchinesischen Städten (wie Chengdu oder Kunming) haben sich zum Beispiel Banden aus jungen arbeitslosen Yi oder Tibetern gebildet, die einzelne Stadtteile unter sich aufgeteilt haben. Ähnlich verhält es sich mit den Uiguren in ostchinesischen Großstädten wie Peking oder Shanghai.

Auch in den Minderheitengebieten nehmen abweichendes Verhalten und kriminelle Aktivitäten bedrohlich zu. Dies gilt besonders für Eigentumsdelikte und Menschenhandel, aber auch für Schwerkriminalität (Mord, Raub und Vergewaltigungen). Massiv zugenommen haben auch innerethnische gewalttätige Auseinandersetzungen (Clanfehden) sowie Konflikte ethnischer Gruppen untereinander um Boden- oder Wasserrechte. Statt vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, reagiert der Staat darauf mit rigider polizeilicher Gewalt.

Das nächste Jahrhundert könnte in China eine Periode ethnischer Konflikte und Auseinandersetzungen werden, wenn nicht frühzeitig Ansätze zur Konfliktlösung und –Prävention entwickelt werden. Längerfristig könnte die Schaffung eines föderativen Staates eine Perspektive sein. Denkbar wäre die Variante eines sog. asymmetrischen Föderalismus, in dessen Rahmen autonome Regionen weitergehende Kompetenzen (Sonderstatus) erhalten als Provinzen, die mit einzelnen autonomen Einheiten jeweils ausgehandelt werden ("spanisches Modell"). Außerdem müßten in den mit autonomen Rechten ausgestatteten Verwaltungseinheiten die Rechte der anderen Minderheiten (vor allem auch der Han) abgesichert werden und selbstverständlich auch die Rechte derjenigen Minderheiten, die außerhalb autonomer Verwaltungseinheiten leben.

Der Staat müßte sich auf die politischen Rahmenbedingungen und ordnungspolitischen Maßnahmen eines "Minimalstaates" beschränken. Die autonomen Regionen hätten dann das Recht, in wirtschaftlichen und kulturellen regionalen und lokalen Angelegenheiten weitgehend selbständig zu entscheiden. Dies würde die gesetzliche Absicherung kultureller, ökonomischer und sozialer Autonomie voraussetzen. Die autonomen Verwaltungseinheiten müßten über wichtige Fragen wie Zuwanderung, Industrieansiedlung, Landnutzung und -vergabe, die Kontrolle über natürliche Ressourcen des Gebietes oder Umweltschutz selbständig entscheiden können. Gleiches gilt für die Kulturpolitik.

Die Minderheiten sollten politisch, ökonomisch (z.B. im Zugang zu Krediten, Rohstoffen, Fachkräften), im Bildungs- und Ausbildungsbereich bevorzugt werden, um die Ungleichheit zwischen Han und Nicht-Han zu verringern. Außerdem müßten Maßnahmen gegen die wachsende Diskriminierung von Angehörigen ethnischer Minderheiten sowie gegen die weit verbreiteten Vorurteile und Stereotypen auf beiden Seiten(Han wie Nicht-Han) ergriffen werden. Dies alles setzt eine gesicherte, organisierte und legitimierte Interessenvertretung der einzelnen Nationalitäten voraus.

Der Mehrheit müßten dazu u. a. durch ein unabhängiges Gerichtswesen rechtliche Grenzen gesetzt werden. Auch die Partei dürfte nicht länger außerhalb des Rechtsrahmens stehen und der Autonomie übergeordnet bleiben. Wichtig wäre ferner eine zwischenethnische Trauer- und Versöhnungsarbeit in einem offenen Diskurs von Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten untereinander. Doch eine Aufarbeitung würde von der Mehrheit, den Han, die Anerkennung der Minderheiten als gleichberechtigte Gesprächs- und Verhandlungspartner verlangen. Solange diese Akzeptanz nicht gegeben ist, erscheint eine zivilisierte Austragung der Konflikte kaum möglich.

 

Prof. Heberer ist ehrenamtlicher Koordinator der GfbV für die Minderheiten Chinas. Der Beitrag entstand auf der Basis eines 36-seitigen Aufsatzes und wurde von Yvonne Bangert für pogrom bearbeitet.