12.12.2008

Raphael Lemkin, der Initiator der Konvention gegen Völkermord

Rede Claudia Kraft – Universität Erfurt:

Claudia Kraft

Der polnische Jurist Raphael Lemkin (1900-1959) prägte in seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe 1944 den Begriff genocide [Genozid] (aus dem griechischen genos: Rasse, Stamm, Volk und dem lateinischen caedere: töten), dessen Definition maßgeblich in die am 9. Dezember 1948 von der Organisation der Vereinten Nationen verabschiedete "Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Genozids" einging.

Lemkin stammte aus dem multiethnischen polnisch-weißrussischen Grenzgebiet. 1900 geboren wuchs er als russischer Untertan auf, da Polen zu jener Zeit noch geteilt war. In der Zweiten Polnischen Republik (1918-1939) war er zunächst als Staatsanwalt, dann als Rechtsanwalt tätig. Bereits zu dieser Zeit engagierte er sich unter anderem im Rahmen des Völkerbundes für die internationale Vereinheitlichung des Strafrechts. Polnische Strafrechtsexperten waren seit den 1920er Jahren an führenden Positionen in der Association International de Droit Pénal an Projekten der Strafrechtsvereinheitlichung beteiligt. Die Offenheit der polnischen Rechtsexperten gegenüber solchen Formen der internationalen Kooperation hing auch mit der Tatsache zusammen, dass der nach dem Ersten Weltkrieg wiedererstandene polnische Staat sich eine neue Rechtsordnung geben musste und dass daher interne und internationale Rechtskodifikation in einem fruchtbaren Wechselverhältnis standen.

1933 trat Lemkin mit dem Entwurf einer internationalen Konvention an die Öffentlichkeit, deren Ziel es war, "Akte des Vandalismus und der Barbarei" zu völkerrechtswidrigen Verbrechen (delicta iuris gentium) zu machen. Dabei bezeichnete er die Angriffe auf internationale Verkehrs- und Kommunikationswege sowie die vorsätzliche Zerstörung von Kulturgütern als "Akte des Vandalismus", die sich nicht gegen einzelne Personen, sondern gegen die gesamte Menschheit richteten und daher nicht nationalstaatlicher Strafverfolgung allein unterliegen sollten. Deutlich leitete ihn hier die Vorstellung, dass es jenseits aller politischen Systemunterschiede universal zu schützenden Rechtsgütern gäbe. Als "Akte der Barbarei" benannte er das gewaltsame Vorgehen gegen Angehörige ethnischer, konfessioneller, kultureller und sozialer Gruppen. Er diagnostizierte hier – mit Blick etwa auf die Verbrechen an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs, dass Individuen nicht als Individuen, sondern in ihrer Wahrnehmung als Angehörige einer bestimmten Gruppe staatlicher Gewalt zum Opfer fallen konnten. Lemkin betonte die Wehrlosigkeit solcher Gruppen, da im traditionellen Völkerrecht die staatliche Souveränität ein Eingreifen von außen zugunsten der bedrohten Staatsbürger verhinderte. Damit wies er bereits zu Beginn der 1930er Jahre auf Verstöße gegen die Menschenrechte hin, denen die Völkerrechtsgemeinschaft mehr oder weniger hilflos gegenüberstand.

Nach dem deutschen Angriff auf Polen im Herbst 1939 gelang es ihm, über Lettland und Schweden in die USA zu fliehen. Dort verfasste er sein Hauptwerk Axis Rule in Occupied Europe, in dem er die Praktiken der nationalsozialistischen Besatzungspolitik einer genauen Analyse unterzog. Er machte deutlich, dass die nationalsozialistischen Verbrechen an den eigenen Staatsbürgern bzw. an der Zivilbevölkerung der besetzten Länder sich einer strafrechtlichen Verfolgung durch das bestehende Völkerrecht entzogen, da sich dieses auf die Ahndung von Kriegsverbrechen konzentrierte. Er nahm in beratender Funktion an den Nürnberger Prozessen teil, wo er die mangelnde Rechtsgrundlage, die eine umfassende Verurteilung der nationalsozialistischen Verbrechen behinderte, kritisierte. Dabei griff er auf seine Vorarbeiten aus der Vorkriegs- und Kriegszeit zurück und forderte eine internationale Konvention zur Verhinderung des "Gruppenmordes". Auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 1946 wurde auf Lemkins Initiative eine Resolution verabschiedet, die Genozid als ein völkerrechtswidriges Verbrechen charakterisierte und die Organisation beauftragte, eine internationale Konvention zu erarbeiten. Am 9. Dezember nahm die Vollversammlung diese einstimmig an, 1951 trat sie – nachdem die Mindestanzahl von Ratifizierungen erreicht war – in Kraft.

Die Konvention blieb jedoch weit hinter den Vorstellungen ihres Initiators zurück. Die Forderung nach einem internationalen Gerichtshof, die Ausweitung des Genozidbegriffs auf politische und soziale Gruppen sowie der Begriff des "kulturellen Völkermordes", der an Lemkins Konzept der "Akte der Barbarei" aus der Vorkriegszeit anknüpfte, boten in der Zeit des beginnenden Kalten Krieges reichlich Konfliktpotential zwischen den Mitgliedsstaaten: insbesondere zwischen den USA, die den Begriff des "kulturellen Genozids" sowie die Ahndung der Propaganda zum Genozid ablehnten, sowie der UdSSR, die sich gegen die Aufnahme "sozialer" bzw. "politischer Gruppen" als mögliche Opfergruppen wandten. Ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit, als die unangezweifelte Priorität staatlicher Souveränität eine Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts verhindert hatte, standen nun die systempolitischen Gegensätze einer Formulierung universal zu schützender Rechtsgüter im Wege.

Lemkins letzte Lebensjahre waren durch das rastlose Engagement geprägt, möglichst viele Staaten zu einer Annahme der Konvention zu bewegen. In diesem Zusammenhang wandte er sich in den Jahren 1953 und 1954 auch an deutsche Politiker und die deutsche Öffentlichkeit. Er wies darauf hin, dass bei einer Ratifizierung der Konvention durch die Bundesrepublik, diese die Vertreibung der Deutschen vor den Vereinten Nationen als einen "Völkermord" deklarieren könne. In Lemkins sehr weiter Definition war die Tatsache, dass die Deutschen aus den nun unter kommunistischem Einfluss stehenden Staaten Mittel- und Osteuropas nicht aufgrund individueller Schuld, sondern in ihrer Eigenschaft als Mitglieder einer ethnischen Gruppe vertrieben worden waren, hinreichend für die Benennung dieses Ereignisses als "Genozid". Die sehr breite Definition von "Genozid", die bereits Planungen bzw. generell Beeinträchtigungen von Gruppen in ihrer ökonomischen oder kulturellen Existenz mit einschloss, hatte Lemkin vor dem Hintergrund der vielfältigen Entrechtungs- und Vernichtungspraktiken der nationalsozialistischen Herrschaft in Europa entwickelt. Die Genozid-Konvention sollte damit nicht nur zur Bestrafung, sondern auch zur frühzeitigen Verhinderung genozidaler Gewalt gegenüber Gruppen dienen. Von manchen politischen Vertretern der Vertriebenen wurde diese Offenheit der Definition nun für eine politische Lobbyarbeit genutzt, die vor allem die Leiden der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Mittelpunkt rückte und damit zu unzulässigen Gleichsetzungen unterschiedlicher Formen staatlich sanktionierter Gewalt gegen Gruppen führte.

Lemkin kann als ein früher Geistesverwandter eines anderen exzellenten polnischen Wissenschaftlers betrachtet werden. Der Soziologe Zygmunt Bauman hat in seinen Werken auf den übermächtigen und unkontrollierbaren Nationalstaat in der Moderne hingewiesen, der zur tödlichen Gefahr für seine Bürger werden kann. Lemkin hat bereits in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dieses bedrohliche staatliche Gewaltmonopol nicht nur identifiziert, sondern auch eine weitsichtige Lösung angeboten, indem er die Differenz der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Nationalstaat nicht negierte, sondern deren Schutz an die Gültigkeit und die Beachtung universaler Rechtsnormen koppelte.