24.06.2005

Staatenlosigkeit, Arabisierung und politische Gefangene

Kurden in Syrien

Kinderdemonstration in Damaskus am 25.6.03 (Foto: Kurdish Rights Project)

Göttingen
Einleitung

Der Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein hat unter den ca. 30 Millionen Kurden weltweit große Hoffnungen geweckt. Nicht nur die Kurden im Irak fühlen sich befreit, auch in der Türkei und Syrien sehen sie nun endlich eine Perspektive für die Veränderung ihrer immer noch von Diskriminierung und Verfolgung geprägten Lebenswirklichkeit. Über die Situation der Kurden in Syrien ist dabei nur wenig bekannt. Sie haben unter großer Diskriminierung zu leiden. Hauptursachen sind eine ausgeprägte Arabisierungspolitik und das Bestreben, Kurden durch den Entzug ihrer Staatsbürgerschaft zu Ausländern in ihrem eigenen Land zu machen.

Syrien hat ca. 15.711.000 Einwohner. Etwa 10% von ihnen sind Kurden. Sie haben offiziell keinerlei kulturelle Rechte. Es gibt keinen Schulunterricht in kurdischer Sprache, auch die Gründung privater Schulen ist verboten. Kurdische Personennamen werden nicht registriert. Auch gegen die Verwendung kurdischer Namen für Geschäfte wird vorgegangen.

Etwa 300 Kurden, darunter 200 Kinder, demonstrierten vor dem Hauptgebäude des UN-Kinderhilfswerks UNICEF in Damaskus am 25. Juni 2003 gegen diese Beschneidung ihrer kulturellen Rechte. Sie wollten UNICEF einen Appell übergeben, in dem sie die Einführung von Kurdischunterricht an den Schulen und die Zuerkennung sämtlicher Bürgerrechte forderten. Die Demonstration wurde von den syrischen Sicherheitskräften aufgelöst und es kam zu Verhaftungen. Schon im Jahr zuvor war es nach einer Demonstration anlässlich des internationalen Tags der Menschenrechte am 10. Dezember 2002 vor dem Parlamentsgebäude in Damaskus zu Verhaftungen unter den teilnehmenden Kurden gekommen. Schon diese beiden Beispiele machen deutlich, wie gefährlich die Lage der Kurden in Syrien ist.

Die EU unterhält einen Dialog mit Syrien im Rahmen ihrer Initiative, mit den Mittelmeeranrainerstaaten Assoziierungsabkommen zu schließen. Als 13. Staat könnte nun Syrien hinzukommen (Reuters, 27. November 2003). Die EU ist Syriens wichtigster Handelspartner, d.h. etwa 60% der Exporte Syriens gehen in die EU. Italien, Deutschland und Frankreich sind die Hauptabnehmer in Europa. Das Assoziierungsabkommen hat den Aufbau einer Freihandelszone zum Ziel. Auch in Menschenrechtsfragen sei man sich näher gekommen, teilte der Leiter der EU-Delegation in Damaskus, Frank Hesske, mit. Die Gesellschaft für bedrohte Völker protestierte gegen diese Fehleinschätzung und wandte sich in einem Appell an die EU-Außenminister, vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens die Freilassung der folgenden 10 kurdischen politischen Gefangenen durchzusetzen, die bei den beiden oben genannten Demonstrationen verhaftet worden sind:

Khalid M. Ali, Student (30 Jahre)

Muhamed Mustafa, Rechtsanwalt (45 Jahre)

Amir Murad, Student (22 Jahre)

Salar Salih, Student (19 Jahre)

Hosan Ibrahim, Student (20 Jahre)

Husen Ramandan, selbständig (23 Jahre)

Muhamed Sharif Ramadan, selbständig (35 Jahre)

Mas'oud Hamid, Journalist (30 Jahre)

Hassan Salih, Lehrer (60 Jahre)

Marwan Osman, Schriftsteller (47 Jahre)

Staatenlose Kurden in Syrien

Am 23.08.1962 wurde das republikanische Dekret Nr. 93 über eine Volkszählung in der Provinz Al-Hassaka erlassen, einem Teil der großen kurdischen Gebiete im Norden Syriens. Als Ergebnis dieser Volkszählung, die am 5.10.1962 statt fand, wurden 120.000 Kurden zu Staatenlosen erklärt. In den vier seither vergangenen Jahrzehnten ist diese Gruppe auf 200.000 staatenlose Kurden angewachsen, die in die Gruppe der "Ausländer" und die Gruppe der "Nichtregistrierten" untergliedert werden.

Als "Ausländer" gelten Kurden, denen 1962 die syrische Staatsangehörigkeit entzogen wurde. "Nichtregistrierte" sind nach offizieller syrischer Lesart Kurden, die nach der Volkszählung 1962 illegal in die Provinz Al-Hassaka eingereist sind und sich dort niedergelassen haben. Die "Ausländer" erhalten Sonderausweise, die "Nichtregistrierten" haben nicht einmal das. Häufig gibt es in ein und derselben Familie sowohl registrierte als auch unregistrierte Staatenlose. Sie alle haben keinen Anspruch auf die syrische Staatsbürgerschaft, auf Stimmrecht, Landbesitz oder staatliche Anstellung. Ehen werden nicht anerkannt. Auch den Kindern wird die Staatsbürgerschaft vorenthalten.

Hinsichtlich der Bildungsmöglichkeiten sind die "Nichtregistrierten" besonders benachteiligt. Schon die Einschulung der Kinder erweist sich oft als Problem, da sie keinen Rechtsanspruch auf den Schulbesuch haben. Für die Einschulung ist außerdem eine Genehmigung des politischen Sicherheitsdienstes erforderlich. So sind aus der Stadt Quamishli und der Provinz Al-Hassaka mehrere aktuelle Fälle bekannt, in denen die Versuche von Eltern, ihr nicht registriertes Kind in der Schule anzumelden, Verhöre durch den politischen Sicherheitsdienst zur Folge hatten. Bei diesen Verhören wurde gefoltert.

Arabisierungspolitik

Die Unterdrückung der Kurden begann in Syrien zurzeit der "Vereinigten Arabischen Republik", einer großarabisch inspirierten Konföderation Ägyptens mit Syrien, die zwischen 1958 und 1961 bestand. Ihr folgten syrische Militärdiktaturen. Die wechselnden Diktatoren konnten sich die Republik Syrien nur als ein rein arabisches Land vorstellen. Die größte Minderheit des Landes musste deswegen arabisiert werden - oder sie hatte zu verschwinden. Das Schicksal der Kurden schien damit vorläufig besiegelt.

Besonders verheerende Auswirkungen hatte die Schaffung eines so genannten arabischen Gürtels von 10 bis 15 km Breite und 350 Kilometer Länge entlang der Grenze Syriens zur Türkei und zum Irak. Kurdisches Land wurde enteignet. Die dort ansässigen Kurden mussten ihre Höfe räumen. An ihrer Stelle wurden anschließend arabische Wehrbauern angesiedelt. Jahrelang wurde dieser Prozess der gezielten Bevölkerungsumschichtung auch von Landwirtschaftsexperten und Technikern aus der ehemaligen DDR begleitet.

Zehntausenden von kurdischen Familien wurde dadurch das auch in Syrien verbriefte Recht auf Eigentum genommen, ebenso das Recht auf Arbeit auf dem Land ihrer Vorfahren. Tausende ehemals freie Bauern und ihre Kinder müssen sich mit landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten durchschlagen, sich in den syrischen Metropolen Damaskus und Aleppo als Taxifahrer, Müllmänner und Hilfsarbeiter verdingen oder in den Häfen von Lattakia, Banjuls oder auch soweit entfernt wie in Beirut im Libanon Dreckarbeiten übernehmen - wenn sie überhaupt Arbeit finden. Tausende sind so in den Großstädten verelendet oder versuchten, nach Europa zu fliehen, um dort Asyl zu bekommen.

Im Herbst 1973 wurden arabische Stämme aus dem mittleren Tal des Euphrat in moderne Siedlungseinheiten umgesiedelt, die mit sauberem Trinkwasser, Schulen, landwirtschaftlichen Betrieben und einem Sicherheitsdienst ausgestattet waren. Jede Familie erhielt 200 Dönüm (1 Dönüm = 1000 m²) landwirtschaftliche Fläche in den fruchtbarsten Gebieten in Al-Djazira. Bis 1975 wurden dort 720.000 Dönüm der fruchtbarsten Ländereien an 4.500 angesiedelte arabische Familien vergeben. Die kurdischen Einwohner wurden entschädigungslos enteignet. Dieser Landraub wurde durch Ausgabe von Grundbesitzurkunden legalisiert. Inzwischen werden sogar die steinigen unbebaubaren Landstücke der Kurden enteignet, die ebenfalls an die arabischen Siedler verteilt werden sollen. Während in den drei nördlichen Gebieten Syriens frühre die Kurden etwa 80% der Bevölkerung stellten, machen sie Schätzungen zufolge heute nur noch zwischen 55 und 60% der Bevölkerung aus.

Die Auswirkungen der Arabisierungspolitik auf die Kurden in Syrien sind verheerend.

     

  • Die kurdische Sprache wird nicht unterrichtet, kurdische Kultur und Folklore sind verboten.

  • Die historischen Namen hunderter kurdischer Dörfer und Städte werden gegen arabische Namen ausgetauscht; auch viele Berge, Täler, Wasserquellen und kulturellen Stätten werden umgetauft.

  • Vielen Kurden, die in staatlichen Ämtern und Institutionen arbeiten, werden willkürlich versetzt oder sogar entlassen; das gleiche Schicksal trifft häufig auch kurdische Schüler und Studenten, deren Bildungsinstitutionen verschiedenen Ministerien unterstellt sind.

  • Kurdische Jugendliche werden diskriminiert, indem man ihnen den Zugang zu Militärakademien und zum diplomatischen Dienst verwehrt, ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Qualifikation oder ihres Bildungsniveaus.

  • Die Baathisierung in den kurdischen Gebieten wird fortgesetzt, kurdische Schüler und Studenten werden diskriminiert, wenn sie nicht der Baath-Partei beitreten.

  • Kurden, die als Folge der Volkszählung von 1962 ausgebürgert wurden, bleiben staatenlos, ebenso wird der so genannte Arabische Gürtel beibehalten.

  • Immer wieder kommt es zu willkürlichen Festnahmen kurdischer Politiker.

  • Kurdische politische Gefangene werden gefoltert.

  • Der Führer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK hatte mit dem Regime in Damaskus zusammengearbeitet und in bestimmten Dörfern und Städten um die Stadt Afrin junge Kurden für den Kampf für ein freies Kurdistan rekrutiert. Nach Schätzungen sind 3.500 dieser zumeist aus der Studentenschaft stammenden jungen Männer umgekommen.

     

Kurdische Politische Gefangene

Seit 1963 gilt ununterbrochen der Ausnahmezustand. Dies gibt dem syrischen Staat die Möglichkeit, die Bevölkerung zu kontrollieren und einzuschüchtern. Telefone, Post, Faxe und persönliche Kontakte werden überwacht. Verhaftungen sind jederzeit möglich. Dies gilt für die syrische Bevölkerung insgesamt, für die Kurden jedoch in besonderem Maße. Gerade nach Demonstrationen oder Protestkundgebungen werden regelmäßig Verhaftungen vorgenommen. Opfer dieser Willkür sowie kurdische und internationale Menschenrechtsorganisationen berichten von systematischer Folter in den Gefängnissen, die in der Regel überbelegt sind und in denen unhaltbare hygienische Verhältnisse herrschen. Die Ernährung ist ungenügend, die medizinische Versorgung mangelhaft oder gar nicht vorhanden. "Politische Gefangene sollen selbst wenn sie erkrankt waren in unterirdischen Einzelzellen festgehalten und mit Foltermethoden wie der Falaqa (Schläge auf die Fußsohle) sowie Fußtritten in den Rücken und auf die Hüften, die Wirbelbrüche zur Folge hatten, gequält worden sein", schreibt amnesty international. Und weiter heißt es: "Darüber hinaus soll politischen Gefangenen befohlen worden sein, Mitinsassen zu schlagen, vor allem Mitglieder ihrer eigenen Partei. Wer sich weigerte, diese Befehle zu befolgen, wurde Berichten zufolge selbst gefoltert."

In Appellen und Protestbriefen hat sich die Gesellschaft für bedrohte Völker für die Freilassung der acht Personen eingesetzt, die während der Demonstration am 25. Juni festgenommen wurden. Zusätzlich hat sich die GfbV für die Freilassung der beiden Mitglieder der Yekiti Partei engagiert, die nach der Demonstration am 10. Dezember 2002 festgenommen wurden.

Forderungen der Gesellschaft für bedrohte Völker

An die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union

     

  • ein Assoziierungsabkommen mit Syrien soll erst unter der Bedingung der Einhaltung der sprachlichen und kulturellen Minderheitenrechte der Kurden und einem fairen Prozess für die genannten kurdischen politischen Gefangenen unterzeichnet werden.