26.04.2005

Tschetschenen:Von Stalin deportiert - von Jelzin bombardiert

Russlands Krieg von 1994/95 Dokumentation von 1995

Der Einmarsch von Dezember 1994

Im Dezember 1994 marschierten die Truppen der Russischen Föderation unter dem Vorwand, die verfassungsmäßige Ordnung Rußlands zu verteidigen, in Tschetschenien ein. Russische Kampfflugzeuge und Panzer bombardierten wahllos Wohnviertel, Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten. Russische Scharfschützen schossen auf Warteschlangen an Bushaltestellen und auf Trauergaeste bei Beerdigungsfeiern.

Mindestens 73.000 Menschen waren bis Mitte 1995 durch die russischen Angriffe umgekommen, 500.000 wurden vertrieben: Tschetschenen, Inguschen, Armenier, Juden, Osseten, Dagestaner und Angehörige anderer Nationalitäten ebenso wie die russische Volksgruppe, die in der Region seit Generationen ansäßig ist. Doch das nur 900.000 Personen zählende Volk der Tschetschenen, die zu den Ureinwohnern des Kaukasus gehören, wurde das Hauptopfer der Bombardements und Massenvertreibungen. An ihm begingen russische Truppen - ein halbes Jahrhundert nach Stalin - einen zweiten Völkermord.

Deportation unter Stalin

In der Nacht zum 23. Februar 1944 wurden die Dörfer der Tschetschenen und Inguschen auf Befehl des sowjetischen Diktators Josef Stalin von Truppen des sowjetischen Sicherheitsdienstes NKWD umstellt. Die Einwohner wurden mit Maschinengewehren aus den Betten getrieben. Binnen 15 Minuten mußten sie ihre Häuser verlassen haben, die von Soldaten anschließend geplündert wurden. Schon während des Transportes in Güterwaggons starben viele Vertriebene, vor allem Kranke, Kinder und Alte. 479.000 Tschetschenen und Inguschen sollen den kollektiven Deportationen und der Zwangsarbeit in der Verbannung in Zentralasien sowie in Sibirien zum Opfer gefallen sein. Erst 1957 wurden die deportierten Völker rehabilitiert und durften in ihre Heimat zurückkehren.

1991: Tschetschenien wird unabhängig

Im November 1991 erklärten die Tschetschenen die Unabhängigkeit ihrer Republik. Genau wie die baltischen Republiken, die Ukraine, Weißrußland u.v.a. machte Tschetschenien von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch, wie es ihm die 1991 noch gültigen Verfassungen der UdSSR und der Russischen Föderation garantierten. Da die russische Verfassung für die Tschetschenen keine Bedeutung mehr hatte, beteiligten sie sich nicht an Volksabstimmungen und Wahlen in Rußland, sondern entwickelten ihre eigene Staatlichkeit. Mit seiner Invasion brach Moskau also das Völkerrecht.

Blut für Öl

Schon im Frühjahr 1992 hatte Moskau eine Wirtschaftsblockade gegen Tschetschenien verhängt. Die Erdölproduktion der Raffinerien in Grosny kam zum Erliegen. Rußland lieferte Waffen an die Opposition gegen den 1991 gewählten tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew, so daß es bereits im September 1994 zu schweren Gefechten kam. Ein wesentlicher Grund für die Invasion war die Erschließung von Ölvorkommen am Kaspischen Meer durch ein Konsortium westlicher Firmen in Zusammenarbeit mit Aserbaidschan. Rußland kann nämlich den lukrativen Transit nur kontrollieren, wenn die Pipeline über Tschetschenien führen würde. Dazu muß Tschetschenien unter russischer Kontrolle sein. Im September 1994 schlossen die Westkonzerne und Aserbaidschan die ersten Verträge - im. Dezember 1994 begann Rußland, Tschetschenien zu befrieden.

Die russische Armee betrieb eine Strategie der verbrannten Erde. Raketen, Bomben, Artillerie und Minenwerfer wurden gegen unverteidigte Dörfer eingesetzt. Russische Soldaten warfen Handgranaten in Keller, in denen sie Menschen vermuteten, und verfolgten Flüchtende mit Flammenwerfern. Ganze Regionen wurden durch das Militär abgeriegelt, Hilfsorganisationen in der Arbeit behindert. Der Gesellschaft für bedrohte Völker liegen Berichte über Massaker, Plünderungen und Vergewaltigungen durch Militärs und Soldaten der Sondereinheiten vor. Inzwischen (November 1996) mehren sich auch die Hinweise darauf, daß Splitter- und Nagelbomben, Vakuumbomben und Chemiewaffen zum Einsatz gekommen sein dürften.

Folter in Filtrationslagern

An 20 Orten im Kriegsgebiet richteten die russische Armee und die Sondereinheiten des russischen Innenministeriums seit Dezember 1994 sogenannte Filtrationslager ein: Zeitweise bis zu 4.000 Zivilisten wurden als angebliche Kombattanten unter menschenunwürdigen Bedingungen in stillgelegten Eisenbahnwaggons - wie im nordossetischen Lager Mosdok - , aber auch in Fabriken und anderen Räumlichkeiten gefangengehalten und gefoltert.Freigekommene Häftlinge berichteten über folgende Foltermethoden:

     

  • stundenlanges Schlagen bis zur Bewußtlosigkeit mit Gummipeitschen und Schlagstöcken
  • Schläge mit Schlagstöcken ins Gesicht
  • Ausdrücken brennender Zigaretten auf der Haut
  • Elektroschocks
  • Brechen der Rippen
  • Hetzen von scharfen Hunden auf die Gefangenen
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Westliche Kredite ermöglichten Rußlands Invasion

Die westlichen Regierungen tadelten Boris Jelzin nur milde, die deutsche Bundesregierung erklärte dieses Kriegsverbrechen zur inneren Angelegenheit. Die russische Invasion in Tschetschenien kostete 1995 nach Schätzungen der renommierten Schweizer Tageszeitung Neue Zürcher Zeitung NZZ täglich drei bis fünf Millionen US-Dollar. Trotzdem gewährte der Internationale Währungsfond (IWF) Russland im April 1995 einen Kredit in Höhe von 6,8 Milliarden US-Dollar: den zweitgrößten Kredit in seiner Geschichte. IWF-Direktor Michel Camdessus hatte Boris Jelzin lediglich aufgefordert, den Krieg in Tschetschenien zu einem Konflikt niedriger Intensität herabzuschrauben, um das Vertrauen im Investitionsbereich wiederherzustellen. Vergeblich appellierte die Gesellschaft für bedrohte Völker an die deutsche Bundesregierung, alle Zahlungen und Kredite einzufrieren, solange Moskaus Truppen in Tschetschenien Völkermord begehen. Die deutsche Bundesregierung weigerte sich, gegen Rußland Sanktionen zu verhaeängen: die demokratischen Reformen dürften nicht gefährdet werden.

Anfang 1997 fanden in Tschetschenien Wahlen statt. Formal endgültig abgesichert ist die Souveränitaet des Landes jedoch nicht. Über den Status Tschetscheniens soll endgültig erst in einigen Jahren entschieden werden. Im Februar nahm die GfbV-Osteuropareferentin Felicitas Rohder die Gelegenheit wahr und besuchte Tschetschenien und Inguschetien. Ein Bericht ihrer Reise erschien in pogrom 194.

Zum Weiterlesen empfohlen

     

  • Human Rights Watch/Helsinki: Russia. Partisan War in Chechnya on the Eve of the WWII Commemoration, New York/Washington 1995, Vol. 7, No. 8
  • Robert Conquest: Stalins Völkermord, Wien 1974
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Bei uns können Sie bestellen:

 

     

  • Tschetschenien kann sich wiederholten. Pulverfaß Kaukasus; pogrom Nr. 192, Dez.1996-Jan. 1997; DM 9.00
  • Arbeitsdokumentation Tschetschenien, 1994/1995
  • Pogrom Nr. 183, Juni-Juli 1995, mit Schwerpunkt Tschetschenien
  • pogrom 194, Mai/Juni 1997, mit einem Reisebericht der GfbV-Delegation, die im Februar 1997 Inguschetien und Teschetschenien besuchte;
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