13.11.2013

Udmurtien - Republik der Wasserquellen

Russlands Republiken (Teil XXI)

Udmurtinnen beim Volksmusikfestival "Worschud" 2012. Foto: Ekaterina Solovjova

Aus bedrohte völker_pogrom 276, 2/2013

Barfuß über die Wiese streifen, im Gras liegen und das Quellwasser murmeln hören, die Wolken am Himmel ziehen sehen, weite Wälder und rauschende Flüsse – viele Menschen sehnen sich nach einem harmonischen Rückzugsort abseits von Schnelllebigkeit und Stress, um Kräfte zu tanken. Für mich ist dieser Ort meine Heimat Udmurtien, in der ich immer Ruhe und Harmonie finden werde. Als Kind hatte ich Fernweh, war neugierig auf fremde Länder. Erst jetzt, nachdem ich mehrere Länder bereist habe, empfinde ich eine tiefe Verbundenheit mit meiner Heimat. Aber was heißt es für mich, eine Udmurtin zu sein?

Eine udmurtische Seele zu haben heißt, freundlich und bescheiden zu sein. Udmurten lieben die Musik und leben im Gleichklang mit der Natur. Seit wir denken können, haben wir die Natur geehrt und geliebt. Wir bedanken uns für alles, was wir von ihr bekommen: für den Honig von den wilden Bienen, für das Holz aus dem Wald, für das Getreide von den Feldern.

16 Stunden dauert die Zugfahrt von Moskau nach Izhevsk, Udmurtiens Hauptstadt, die westlich des Ural-Gebirges liegt. Die Republik ist mit 42.000 Quadratkilometern gerade mal so groß wie die Schweiz. Udmurtien liegt in der Taiga; 44 Prozent der Fläche bestehen aus Wald. Fast 9.000 Flüsse mit einer Gesamtlänge von etwa 30.000 Kilometern graben ihren Lauf durch die kleine Republik. 7.000 dieser Flüsse sind weniger als zehn Kilometer lang. Aufgrund dieser Quellen und Flüsse wird die Republik Udmurtien auch als das „Land der Wasserquellen“ bezeichnet. Das Wasser vieler unterirdische Quellen hat eine sehr hohe Qualität. Es wird als Heilmittel in medizinischen Einrichtungen verwendet oder in Flaschen für den Verkauf abgefüllt. Die Kurorte Uvinskij und Varzi-Jatschinskij sind in ganz Russland bekannte und beliebte Heilbäder, in denen beispielsweise Gelenks- und Nervenkrankheiten behandelt werden. Dieser Reichtum ist ein Geschenk der Natur, dennoch ist das schützenswerte Wasser gefährdet. Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass Mineralwasser und Heiltorf nicht unbegrenzt vorhanden sind. Auf Nachhaltigkeit bei der Nutzung dieser Naturschätze wird in Udmurtien kaum geachtet.

Zudem sind fast alle Oberflächengewässer, insbesondere in den Städten, verschmutzt. Sie enthalten Erdölrückstände, Schwermetalle und andere Gifte, seitdem Industrie und Landwirtschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Republik angekurbelt – Udmurtien ist heute einer der wichtigsten Standorte der russischen Verteidigungs- und Energie-Industrie. Selbst das Grundwasser ist durch Abwässer der Industrie bedroht. 2012 wurden in Udmurtien 172.400 Tonnen Schadstoffe ausgestoßen, 66 Prozent mehr als im Jahr 2011. Die Ölkonzerne verursachen den größten Schaden. In ihrem Besitz sind nach Angaben der staatlichen Abteilung für Statistik Udmurtstat 1.861 Industriegebiete. Der größte Anteil der Emissionen sind Gase und Flüssigkeiten mit 92,3 Prozent, der Anteil der festen Stoffe beträgt 7,7 Prozent.

Viele Dörfer haben keine Klärsysteme mehr. Während der Sowjetzeit gebaute Anlagen sind veraltet oder funktionieren nicht mehr. Die Bauern interessieren sich nur für die eigene Wirtschaft. Nach der Auflösung der Kolchosen, der landwirtschaftlichen Großbetriebe, privatisierte die russische Regierung in den 1990er Jahren die Technik und „das Eigentum des Volkes“. Nun gibt es niemanden mehr, der die Reparatur der Klärteiche finanziert.

Meine Verwandten stimmen überein, dass es sauberer gewesen wäre, als die Kolchosen noch existierten. Die notwendige Technik sei vorhanden gewesen, um die Kläranlagen in Stand zu halten. Selbst die Müllabfuhr hätten die Kolchosen organisiert. Die Dorfbevölkerung ist ohne Unterstützung nicht in der Lage, mit diesen Problemen allein fertig zu werden.

Nicht nur das Heilwasser und die vielen Quellbäche sind Schätze von Udmurtien, sondern auch die reiche Kultur und Sprache der finno-ugrischen Urbevölkerung, der Udmurten. Laut Volkszählung im Jahr 2010 leben dort etwa 410.000 Udmurten. Weltweit soll es 640.000 Udmurten geben; jedoch nur die Hälfte spricht die eigene Sprache. Udmurtisch ist nach Russisch die zweite Amtssprache der Republik und wird zumeist auf dem Land gesprochen. Im öffentlichen Leben, vor allem in den Städten, verständigen sich die Menschen jedoch auf Russisch. Das liegt vor allem an der sowjetischen Vergangenheit: Insbesondere unter dem Regime von Josef Stalin von 1927 bis 1953 wurden Udmurten diskriminiert sowie alle udmurtischen Intellektuelle zu Klassenfeinden deklariert. Viele wurden in Konzentrationslager nach Sibirien geschickt und dort erschossen. Obwohl diese Zeiten längst der Vergangenheit angehören, schämen sich die Udmurten noch heute ihrer Herkunft und ihres Akzents. Weder Regierung noch andere Organisationen setzen sich genug für den Spracherhalt des Udmurtischen ein.

Bei dem Grand Prix Eurovision de la Chanson im Jahr 2012 rückte Udmurtisch in den Blick der Weltöffentlichkeit, als die Gruppe „Buranowskije Babuschki“ Russland repräsentierte. Sechs ältere Udmurtinnen sangen in ihrer Sprache und belegten schließlich den zweiten Platz bei dem Musikwettbewerb. Das hat jedoch nicht geholfen, um den Status dieser finno-ugrischen Sprache aufzuwerten. Es hängt auch von den Udmurten selbst ab, ob ihre Sprache weiter überlebt und nicht nur von der Landbevölkerung gesprochen wird. Die indigenen Sprachen und Kulturen sind wie die vielen Wasserquellen genauso wichtig. Ohne Wasser und gesunde Natur wird der Mensch aussterben. Ohne die Weisheit der Generationen wird er die Wurzeln zu seinen Ahnen verlieren.

Zur Autorin

Tatiana Slesareva ist gebürtige Udmurtin. Seit 2011 studiert sie Ethnologie und Kunstgeschichte in München und engagiert sich in der bayerischen Hauptstadt auch in der Regionalgruppe der Gesellschaft für bedrohte Völker.