22.04.2005

Vergewaltigung, Konzentrationslager, Mord und Vertreibung

Bosnien-Herzegowina

In Bosnien-Herzegowina gab die offizielle jugoslawische Aufstellung des Statistischen föderalen Büros Bosniens die Zahl der Roma mit 8.864 Roma an. Schon die "Fact-Finding Mission" des Europarates von 1996 beziffert die Vorkriegszahl mit 50.000 bis 60.000, andere Quellen geben 80.000, bosnische Roma-Bürgerrechtler 80.000 bis 120.000 Roma an. Die Lage der bosnischen Roma in der Tito-Ära hat sich von der Lage der Roma in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien nicht wesentlich unterschieden. Sie waren zweifellos mehrheitlich unterprivilegiert, litten aber nicht unter Pogromen. Sie besaßen aber das geringste soziale Prestige der jugoslawischen Völker. Es gab aber auch sehr wohlhabende Roma-Gemeinschaften. So gehörten z.B. ein großer Teil der Roma aus Bijeljina zu den wohlhabendsten Schichten der Stadt.

Nach der militärischen Aggression Serbien-Montenegros gegen Bosnien-Herzegowina und während des dreijährigen Bosnien-Krieges 1992-1995 kam es zu weitgehender Vertreibung, der Flucht von Zehntausenden nach Süd- und Mitteleuropa und der völligen Verarmung der im Lande zurückgebliebenen Angehörigen dieser Volksgruppe. Schwerpunkte der Roma-Siedlungen vor dem Krieg waren Ostbosnien mit dem Drina-Tal, Schauplatz der schlimmsten völkermordartigen Pogrome des Bosnien-Krieges, Sarajevo und das Gebiet um Banja Luka und Prijedor. Die Roma, die vielfach eher flüchteten als andere, teilten sonst das Schicksal der bosnischen Muslime als Opfer der "ethnischen Säuberungen", der Massenvertreibungen, der Deportationen in Konzentrations- und Internierungslager, wurden ermordet oder vergewaltigt.

Besonders von Morden betroffen waren Roma in Prijedor (Nordwestbosnien) und den umliegenden Dörfern Kozarac, Hambarine, Tukovi, Rizvanovici. Opfer schrecklicher Verbrechen wurden auch Roma in Vlasenica, Rogatica und Zvornik (Ostbosnien). Nach Angaben der Sektion der GfbV in Bosnien-Herzegowina wurden mindestens 70 Roma Opfer vom Massaker in Srebrenica 1995. Im Dorf Skelani, zehn Kilometer von Srebrenica entfernt, wurden 50 Roma ermordet. Opfer von Massakern wurden Roma auch in ihren Siedlungen in Bjelovac (Bratunac) und Drinjaca (Zvornik). Roma, die in ihren Siedlungen überlebt haben, mussten nach Restbosnien flüchten; sie wurden von serbischen Militärs über die Frontlinien geschickt. Wer blieb, musste in Behelfsunterkünften oder in den Kellern ihrer eigenen Häuser ausharren. Viele von ihnen mussten ihre Namen ins Serbische ändern. Auch während der kroatischen Aggression gegen Restbosnien wurden die meisten Roma vertrieben, u.a. in die von kroatischen Militärs eingeschlossene und fast ein Jahr lang täglich beschossene, von Bosniaken (die offizielle Bezeichnung für bosnische Muslime) verteidigte Altstadt von Mostar.

Seit 1997 sind viele Roma-Flüchtlinge aus ihren Exilländern zurückgekehrt. Sie konnten meist nicht in ihre Heimatorte zurückkehren, sondern müssen heute in der Föderation Bosnien-Herzegowina (vor allem in den von Bosniaken dominierten Teilen) leben, so im Nordosten Bosniens, dem Kanton Tuzla oder in Zentralbosnien, den Städten Sarajevo und Zenica.

Von 7.000 früheren Roma-Einwohnern Bijeljinas leben heute nur wieder 2.000 in der Stadt. In Prijedor leben heute 500 Roma (vor dem Krieg 3.000-3.500), 1.700 Roma in Bosanska Gradiska (vor dem Krieg 2.500-3.000), 560 in Brcko (vor dem Krieg 2.500). In Banja Luka lebten vor dem Krieg in der Siedlung Veseli brijeg ca. 8.000 Roma, heute leben dort 54 Roma-Familien.

Durch das am 14. Dezember 1995 in Paris unterschriebene Daytoner Abkommen beendete man die dreijährige Aggression Serbien-Montenegros gegen das UN-Mitglied Bosnien-Herzegowina. Das Land wurde daraufhin unter ein inoffizielles Protektorat der internationalen Gemeinschaft gestellt, das aus der Föderation Bosnien-Herzegowina, die in zehn Kantone aufgeteilt ist, der Republika Srpska und dem Distrikt Brcko besteht. Das von der USA und dem Westen der bosnischen Bevölkerung aufgezwungene Abkommen hat die "ethnisch gesäuberten" Regionen den serbischen Tätern ausgeliefert und die Rückkehr von 1,5 Millionen Vertriebenen – auch von Tausenden Roma – verhindert. Weil verfassungsgemäß nur serbische, kroatische und muslimische Bosnier vorgesehen sind, können Roma und andere ethnische Minderheiten keine hohen Ämter einnehmen. Die bosnische Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker setzt sich für die offizielle Anerkennung der Roma-Minderheit ein. Häufig ohne Personaldokumente können Roma ihr Wahlrecht, das Recht auf Unterkunft, medizinische Versorgung und Bildung nicht wahrnehmen.

Nur 10.000 Roma leben wieder in der Republika Srpska. Die Rückkehr wird behindert, Häuser werden nicht zurückgegeben, Schikanen sind an der Tagesordnung. Im September 2003 war ich Zeuge eines Bombenattentats auf eine zurückgekehrte Roma-Familie im serbisch kontrollierten Bijeljina. Drei Roma wurden verletzt. Die Polizei verfolgte die Täter nicht. Im gesamten Drina-Tal leben heute nur noch 50 Roma-Rückkehrer. Nach Srebrenica konnten nur vier Roma-Familien zurückkehren.

Die Mehrheit der Roma lebt heute auf dem Gebiet der Föderation Bosnien-Herzegowina. Im Kanton Tuzla leben zurzeit 5.000 Roma. In Zivinice wohnen 2.000 Roma in baufälligen Häusern ohne Strom und Wasser; 120 ihrer Kinder besuchen keine Schule. In Mostar müssen 1.000 Roma in Containern und in halbzerstörten Baracken vegetieren. 70 % der Roma sind auf Sozialhilfe" angewiesen. Sie beträgt 15 Euro pro Monat und wird nicht regelmäßig ausgezahlt. 60 % der Roma sind Analphabeten, 90 % haben keine Krankenversicherung, 80 % haben keine Ausbildung.

Der Leiter der OSCE in Bosnien-Herzegowina Robert Beecroft bezeichnete im Januar 2003 anlässlich eines zweitägigen Runden Tisches in Sarajevo die Situation der bosnischen Roma als "eine der schlimmsten auf dem Balkan" – dabei hatte er offensichtlich die Roma im Kosovo nicht im Auge.