23.04.2005

Völkermord in Tibet

Die tibetische Nonne Sherab Ngawang war erst 15 Jahre alt, als sie im Mai 1995 an den Folgen schwerer Mißhandlungen starb, die sie in chinesischer Haft erlitten hatte. Als Zwölfjährige war sie zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden, nachdem sie mit vier anderen Nonnen und einem Mönch einige Minuten in der tibetischen Hauptstadt Lhasa für die Unabhängigkeit Tibets demonstriert hatte.

Weil sie friedlich gegen die chinesische Besetzung ihres Landes protestierten, verbüßen Hunderte Mönche und Nonnen zum Teil langjährige Haftstrafen. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres 1995 wurden mehr als 110 Nonnen und Mönche festgenommen. Den Inhaftierten drohen Folter, Demütigung, Vergewaltigung, die Verschleppung in Arbeitslager oder sogar der Tod.

Seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch chinesischer Truppen 1950 in Tibet führt China einen beispiellosen Vernichtungsfeldzug gegen die tibetische Bevölkerung, ihre buddhistische Kultur und Tradition. Allein zwischen 1959 und 1979 sind etwa eine Million Tibeter ermordet worden: Hunderttausende wurden in Arbeitslager verschleppt, in denen sie elend ums Leben kamen. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft führte zu Hungersnöten, die ein Massensterben verursachten. Nahezu 6 000 Klöster, Tempel und religiöse Stätten wurden völlig zerstört.

Lhasa: Sanierung mit dem Bulldozer

 

Ganze Stadtviertel der tibetischen Hauptstadt werden seit 1989 dem Erdboden gleichgemacht, um ein sozialistisches Lhasa aufzubauen. In Anlehnung an architektonische Projekte der Diktatoren der Sowjetunion und Rumäniens, Josef Stalin und Nicolae Ceausescu, soll der historische Kern der viele Jahrhunderte alten Stadt abgetragen und bis zum Jahr 2000 durch Wohnblocks ersetzt werden. Mehr als 5 000 Bewohner der historischen Altstadt wurden bereits zwangsumgesiedelt. Weitere 10 000 Menschen werden bis zur Jahrtausendwende ihre Häuser verlieren. Die chinesische Regierung verspricht sich von der Sanierung mit dem Bulldozer eine wirksamere Kontrolle der tibetischen Bevölkerung, die seit der chinesischen Invasion immer wieder in der Altstadt Lhasas gegen die Besetzer demonstrierte. Nachdem sogar die lückenlose Überwachung mit Fernsehkameras die Proteste nicht verhindern konnte, geht man nun zur totalen Zerstörung des historischen Stadtkerns über.

Gewalt gegen friedlichen Protest

 

Jeglicher Widerstand gegen die chinesischen Besatzungstruppen wird blutig unterdrückt. Mindestens 500 000 chinesische Soldaten sind in Tibet stationiert. Jeder dritte Bewohner Lhasas ist Angehöriger der chinesischen Militär- und Sicherheitskräfte. Mit ihrer erdrueückenden Präsenz sollen die Besatzungstruppen die Bevölkerung einschüchtern, jedes Aufbegehren soll bereits im Keim erstickt werden. So schießt die Polizei auf friedliche Demonstranten und inhaftiert angebliche Unterstützer der Unabhängigkeitsbewegung. Die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Tibet ist nicht im geringsten garantiert. Es ist sogar lebensgefährlich, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu veröffentlichen. Zehn Mönche aus dem Kloster Drepung wurden deswegen zu fünf bis 19 Jahren Gefängnis verurteilt. Fünf Mönche des Klosters Dinggar, die bei einer Demonstration im März 1991 eine tibetische Flagge entrollten, müssen vier bis sechs Jahre hinter Gittern verbringen. Oft genügen noch geringere Anlässe, um jahrelang inhaftiert zu werden. So wurde der buddhistische Philosoph Dawa Tsering 1989 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sich mit einem Touristen in einem privaten Gespräch üeber die Perspektiven der Unabhaeängigkeit Tibets unterhalten hatte.

Nicht einmal die in der chinesischen Verfassung zugesicherte Religionsfreiheit wird von den chinesischen Behörden in Tibet respektiert. Einige Klöster konnten mit privaten Spenden wiederaufgebaut werden, aber Nonnen und Mönche werden streng überwacht. Während tibetischer Festtage und politischer Demonstrationen werden sie oft unter Hausarrest gestellt. Neue Klöster dürfen nur mit Genehmigung der chinesischen Behörden gebaut werden. Auch hat die Besatzungsmacht die Zahl der Nonnen und Mönche strikt begrenzt.

Sinisierung zerstört alte Kultur

 

Die etwa sechs Millionen Tibeter sind zur Minderheit im eigenen Land gemacht worden. Unter Androhung harter Strafen wird ihnen eine strikte "Geburtenkontrolle" aufgezwungen. Regelmäßig werden Frauen in Krankenhäusern ohne ihr Wissen unmittelbar nach einer Entbindung sterilisiert. Planmäßig wird die Ansiedlung von Chinesen gefördert. Sie stellen mindestens zwei Drittel der etwa 170 000 Bewohner Lhasas. Auch in anderen großen Städten Tibets bilden die Chinesen inzwischen die größte Bevölkerungsgruppe.

Schon heute leben sieben Millionen Chinesen in Tibet. Dies hat auch katastrophale ökologische Folgen. Ohne Rücksicht auf das empfindliche Ökosystem wird immer mehr Land für Ackerbau, Viehzucht und die Erschließung von Bodenschätzen genutzt. Nahezu 50 Prozent der Waldfläche Tibets wurden bereits abgeholzt. In manchen Regionen wurden schon zwei Drittel des Waldbestandes gerodet. Das dichtbesiedelte Ostchina, das selbst kaum noch über Wälder verfügt, deckt seinen Holzbedarf in Tibet.

Im Rahmen dieser Sinisierungspolitik hat China auch das Bildungssystem gleichgeschaltet. Zwar wird Tibetisch an den Schulen gelehrt, doch werden alle anderen Fächer in Chinesisch unterrichtet. So benötigen chinesische Kinder keine tibetischen Sprachkenntnisse, während junge Tibeter fast nur in der Fremdsprache Chinesisch unterrichtet werden. Menschenrechtsorganisationen warnen davor, daß angesichts der Unterdrückung der tibetischen Religion und Sprache nach der Jahrtausendwende die traditionelle Kultur der Tibeter vernichtet sein könnte.

Deutsche Rücksichtnahme auf China

 

Deutschland ist einer der wichtigsten Wirtschaftspartner Chinas. Statt ihren Einfluß zu nutzen, um die Demokratisierung und die Beachtung der Menschenrechte zu fördern, schwieg die Bundesregierung jahrelang zum Völkermord in Tibet. Im Gegensatz zu den Staatschefs Großbritanniens, Frankreichs und der USA lehnt es Bundeskanzler Helmut Kohl ab, den Dalai Lama offiziell zu empfangen. Nach zahllosen Protesten von Menschenrechtsorganisationen begrüßste schließlich im Mai 1995 Außenminister Klaus Kinkel offiziell das geistliche und weltliche Oberhaupt des tibetischen Volkes und sicherte ihm zu, sich für die Beachtung der Menschenrechte und die Gewährung religiöser und kultureller Autonomie für Tibet einzusetzen. Eine völkerrechtliche Anerkennung Tibets wird von Bonn jedoch ausgeschlossen.

Redaktion: Inse Geismar