01.06.2005

Warlords gefährden Wiederaufbau in Afghanistan

Zusammenfassung

Ein Jahr nach der Unterzeichnung des Petersberger Abkommens vom 5. Dezember 2001 ist die Bilanz des Bonner Übereinkommens enttäuschend. Zwar wurde Hamid Karzai von der Grossen Ratsversammlung, der Loya Jirga, als Staatspräsident Afghanistans bestätigt, doch wurden Chancen für eine umfassende Demokratisierung und für einen gerechten Ausgleich zwischen den ethnischen Gruppen in dem Vielvölkerstaat nicht genutzt. Angesichts einer schwachen Zentralregierung in der Hauptstadt Kabul wächst der Einfluss der Warlords, die mit ihrer Willkürherrschaft die Bevölkerung terrorisieren, so dass die Sicherheit ausserhalb Kabuls nicht mehr gewährleistet ist. Vertreibungen und Übergriffe gegen Paschtunen, die pauschal der Unterstützung der Taliban beschuldigt werden, beeinträchtigen das Zusammenleben der Völker Afghanistans. Die auch in den ständig zunehmenden Drogenhandel verstrickten Kriegsfürsten geniessen nicht nur weitgehend Straflosigkeit, sondern wurden bis Ende Oktober 2002 auch von der US-Armee mit Waffen aus Beständen der Taliban und der Terrorgruppe El Kaida ausgerüstet. Aus machtpolitischen Erwägungen und um den Einsatz eigener ausländischer Soldaten auf ein Mindestmass zu reduzieren praktiziert die Antiterror-Koalition eine äusserst bedenkliche Doppelmoral: So verurteilt sie die Menschen verachtende Politik des gestürzten Taliban-Regimes, während sie schwere Menschenrechtsverletzungen ihrer heutigen Verbündeten der siegreichen Nordallianz ignoriert.

Die Zusammenarbeit mit den Warlords ist nicht nur aus

menschenrechtlicher Perspektive äusserst fragwürdig. Schon einmal haben diese Kriegsfürsten das Land nach dem Abzug der sowjetischen Armee 1989 in den Ruin gestürzt. Die Warlords sind nicht an Sicherheit und dem Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates oder überhaupt zentralstaatlicher Autorität interessiert. Ihr einziges Interesse gilt der Sicherung ihrer Partikularinteressen, dem Ausbau ihrer persönlichen Macht und der rücksichtslosen Ausbeutung aller Ressourcen. Ihre katastrophale Schreckensherrschaft führte zur Machtergreifung der Taliban, die anfangs von vielen Afghanen mit Sympathie aufgenommen wurden, weil sie endlich dafür sorgten, dass wieder ein Minimum an staatlicher Ordnung und Autorität entstand.

Immer wieder aufflammende Kämpfe zwischen Warlords, die offiziell vorgeben, die afghanische Regierung zu unterstützen, gefährden den Wiederaufbau und die Rückkehr der Flüchtlinge. Eine geographische Ausweitung des Mandats der Internationalen Schutztruppe (ISAF) über Kabul hinaus ist daher dringend erforderlich. Deutschland und die Niederlande werden voraussichtlich im Februar 2003 das Kommando der

ISAF übernehmen.

Die Freude über den Sturz des Taliban-Regimes weicht in der Bevölkerung immer mehr einem Unmut darüber, dass sich ihre Lebenssituation nicht spürbar bessert. Studentenproteste gegen katastrophale Lebensbedingungen wurden Mitte November 2002 von der Polizei brutal niedergeschlagen. Weitere Proteste sind zu erwarten, wenn sich die humanitäre Versorgung der Bevölkerung nicht bessert und der Wiederaufbau massgebliche Fortschritte macht. Ohne eine Verbesserung der Sicherheitslage ist dies jedoch nicht möglich, so dass die Sicherheitsfrage heute zentrale Bedeutung für die Zukunft Afghanistans hat.

Ausdrücklich warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker davor, den Erfolg des Wiederaufbaues nur anhand der Höhe der von internationalen Geldgebern in Aussicht gestellten oder bereits geleisteten Zuwendungen zu messen. Viele der Gelder erreichen die Betroffenen nicht aufgrund von Misswirtschaft, Korruption und hoher Personal- und Sachaufwendungen internationaler Nichtregierungsorganisationen.

Enttäuschende Bilanz der Umsetzung des Petersberger Abkommens

Ein Jahr nach der Unterzeichnung des Petersberger Abkommens am 5. Dezember 2001 weicht die Freude über den Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan Ernüchterung. Warlords behindern mit ihrer Willkürherrschaft und wieder aufflammenden Kämpfen zwischen einzelnen Milizen den Wiederaufbau und die Rückkehr der Flüchtlinge. Auch sind die Kriegsfürsten für eine wachsende Zahl von Menschenrechtsverletzungen verantwortlich.

ISAF-Mandat erweitern

Angesichts der besorgniserregenden Sicherheitslage setzten sich Staatspräsident Hamid Karzai, der Generalsekretär der Vereinten Nation Kofi Annan, sein AfghanistanSonderbeauftragter Lakhdar Brahimi sowie

zahlreiche Menschenrechtsorganisationen für eine geographische Ausweitung des Mandats der Internationalen Schutztruppe (ISAF) über die Hauptstadt Kabul hinaus ein. Gedacht ist an eine Präsenz ausländischer Soldaten in weiteren Städten Afghanistans, um eine Stabilisierung der Macht der Zentralregierung und eine Eindämmung des

Einflusses lokaler Kriegsfürsten zu erreichen. Beharrlich weigert sich die internationale Staatengemeinschaft einer Mandatsausweitung der ISAF zuzustimmen und nimmt somit eine weitere Eskalation der Gewalt und Destabilisierung Afghanistans in Kauf. So behindert die AntiterrorKoalition einen wirksamen und nachhaltigen Wiederaufbau des

Landes. Es war ein Schlag ins Gesicht der Opfer der Warlords, als im Oktober 2002 bekannt wurde, dass die USA die Milizen dieser Kriegsfürsten mit erbeuteten Waffen ausrüsten. Nach internationalen Protesten gegen die Aufrüstung der Warlords, beschlossen die USA Ende Oktober 2002, vorläufig Kriegsfürsten keine beschlagnahmten

Waffen mehr zur Verfügung zu stellen, sondern sie der im Aufbau befindlichen Armee Afghanistans zu übereignen. Da die Armee jedoch bislang weitestgehend von der Nordallianz kontrolliert wird, ist auch diese Weitergabe der Waffen problematisch. Nur eine Öffnung der Armee gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen bietet die Gewähr, dass die

Waffen nicht zu einer weiteren Eskalation der Gewalt in dem

Vielvölkerstaat beitragen werden.

Entwaffnung der Milizen durchsetzen

Mindestens 30 Menschen wurden alleine im November 2002 bei Kämpfen zwischen den Milizen des Uzbeken-Generals Abdul Rashid Dostum und des Generals Atta Mohammad im Norden des Landes getötet. Dostum ist stellvertretender Verteidigungsminister, während der Tadschike Mohammad enger Weggefährte des mächtigen Verteidigungsministers Mohammed Fahim ist. Seit Monaten streiten sie mit Waffengewalt um ihre Einflusszonen im Norden Afghanistans. Leidtragende ist die Zivilbevölkerung, die immer wieder zwischen die Frontlinien gerät und Opfer von Übergriffen wird. Auch kommt der Wiederaufbau in dieser Region zum Erliegen. So wurde das Dorf Shulgara allein zwölf mal in diesem Jahr Schauplatz von Kämpfen. Zwar bemühen sich die Vereinten Nationen seit Wochen um eine Entwaffnung aller Milizen im Norden Afghanistan, die jedoch immer wieder am Widerstand der Milizionäre scheitert. Zuletzt scheiterte ein Versuch der Entwaffnung am 16. November 2002, als nur 110 Waffen von beiden verfeindeten Milizen abgegeben wurden. Ihre tatsächlichen Bestände dürften mindestens 50 mal grösser sein. Eine freiwillige Entwaffnung scheitert am mangelnder gegenseitigen Vertrauen der Milizen, die um den Ausbau ihres Herrschaftsgebietes streiten.

Willkür beenden

Mit systematischer Einschüchterung, Vergewaltigung, Folter, Mord sowie der Behinderung der Presse- und Meinungsfreiheit versuchen Warlords ihre Herrschaft langfristig abzusichern. Auch mehren sich Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen an Paschtunen im Norden und Westen des Landes. Weil Paschtunen der Unterstützung der Taliban verdächtigt werden, werden sie Opfer von Übergriffen oder aus ihren Dörfern vertrieben. So wurden Paschtunen nicht nur in grosser Zahl aus den nördlichen Landesteilen vertrieben, auch in der im Westen gelegenen Provinz Herat liess der dortige Gouverneur Ismail Khan Häuser von Paschtunen plündern und verwüsten sowie Frauen vergewaltigen. Schläge und Folter sind alltäglich in Polizeistationen in der Provinz, um Geständnisse zu erzwingen, wie viele glaubwürdige Zeugenberichte ehemaliger Gefangener dokumentieren.

Bis auf einen besonders extremen Einzelfall, in dem ein Warlords durch Morde an seinen Familienangehörigen besonderes Aufsehen erregte, werden die Kriegsfürsten für die in ihrem Namen begangenen Menschenrechtsverletzungen nicht juristisch zur Rechenschaft gezogen. Straffreiheit für Warlords schürt das Misstrauen der Bevölkerung gegen eine schwache Zentralregierung, die aufgrund innerer Konflikte oft handlungsunfähig ist.

Kriegsverbrechen nicht länger tabuisieren

Menschenrechtsverletzungen dürfen nicht mit zweierlei Mass gemessen werden. Die Antiterror-Koalition verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie den Terror der Taliban verurteilt, jedoch nicht entschieden gegen Verbrechen ihrer heutigen Bündnispartner in der siegreichen Nordallianz vorgeht.

So wird dem Uzbeken-General Abdul Rashid Dostum vorgeworfen, für den gewaltsamen Tod von mehr als 1.000 gefangenen Taliban-Anhängern im Dezember 2001 im Norden Afghanistans verantwortlich zu sein. Die Gefangenen des heutigen stellvertretenden Verteidigungsministers sollen aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen in Container-Lastwagen auf dem Transport in ein Kriegsgefangenenlager durch Ersticken zu Tode gekommen sein. Ihre Leichen seien in Massengräbern in Dasht-e-Leili geworfen worden, kritisieren Angehörige der Opfer. Erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass General Dostum Zeugen dieses Massakers inhaftieren und foltern liess, um sie daran zu hindern, ihn vor einer Untersuchungskommission mit ihren Aussagen zu belasten.

Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, so hätte sich General Dostum eines Kriegsverbrechens schuldig gemacht. Im Rahmen einer unabhängigen internationalen Untersuchung müsste auch geklärt werden, wann die zu dieser Zeit in dieser Region operierenden US-amerikanischen Bündnispartner von diesem Verbrechen Kenntnis erhielten. Der britische Dokumentarfilmer James Doran behauptet nach der Auswertung von Zeugenaussagen, Eliteeinheiten der US-Armee hätten sich am Tatort aufgehalten, als "3.000 gefangene Taliban in den Containern zu Tode kamen" (Le Monde Diplomatique, September 2002). Sie stützen sich dabei unter anderem auf Aussagen der Fahrer der Container-Lastwagen. Der Wahrheitsgehalt dieser Zeugenaussagen wird von vielen Beobachtern jedoch in Frage gestellt.

Nur eine unabhängige internationale Untersuchungskommission wird den Wahrheitsgehalt dieser Vorwürfe abschliessend prüfen und bewerten können. In jedem Fall muss sich die US-Regierung jedoch vorwerfen lassen, nicht entschlossen genug nach Bekannt werden der Massaker-Vorwürfe gehandelt zu haben. Schon im Januar 2002 hatte die amerikanische Menschenrechtsorganisation Physicians for Human Rights über einen möglichen Massenmord in Dasht-e-Leili berichtet. Systematisch haben sowohl die US-Regierung als auch die afghanische Führung die Massakervorwürfe ignoriert und vor konkreten Initiativen zur Klärung des Tathergangs zurückgeschreckt. Erst als immer mehr internationale Medien über das mutmassliche Kriegsverbrechen berichteten, entsandte Präsident Karzai eine Delegation in die Region, deren Untersuchungsergebnisse jedoch nicht veröffentlicht wurden. Das US-Verteidigungsministerium hat bis heute keine Untersuchung des Vorfalles angeboten. Mit jedem Tag, der verstreicht, wird es schwieriger, den Tathergang zu rekonstruieren und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Auch die Vereinten Nationen schwiegen zu lange zu den Vorwürfen. Ein im Mai 2002 in ihrem Auftrag verfasster Untersuchungsbericht wurde nicht veröffentlicht. Leider stellte sich auch die Behauptung des Afghanistan-Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Lakhdar Brahimi, die Massengräber seien bewacht und damit vor jeder Zerstörung von Beweismaterial geschützt, als haltlos heraus. Doch auch in den Vereinten Nationen wächst nun die Kritik an der Verschleppung der Untersuchung der Vorwürfe. So forderte die Sonderberichterstatterin der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen für extralegale Hinrichtungen; Asma Jehangir, nach einem Besuch im Norden Afghanistans im Oktober 2002 eine unabhängige internationale Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen von Warlords.

Ohne Sicherheit scheitert Wiederaufbau

Hilflos reagiert die afghanische Regierung mit immer neuen Appellen an die internationalen Geberländer, mehr Mittel für den Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen, auf die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Statt die Ursachen des schleppenden Wiederaufbaues, d. h. die ungelöste Sicherheitsfrage schwerpunktmässig anzugehen, beschäftigt sich die Regierung Karzai mit den Symptomen der Krise und fordert immer neue internationale Finanzhilfen. Um die sicherlich benötigten weiteren finanziellen Hilfen jedoch sinnvoll nutzen zu können, muss zunächst die Sicherheitslage verbessert werden. Ansonsten wird diese internationale Hilfe für Afghanistan das Los der betroffenen Zivilbevölkerung kaum verbessern können. Zwar begrüssen die meisten Afghanen den Sturz der Taliban und die neuen demokratischen Freiheitsrechte nach 23 Jahren Krieg, Menschenrechtsverletzungen und Zerstörung. Vergeblich warten sie bislang jedoch auf eine tiefgreifende Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Als Studenten der Kabuler Universität am 11. November 2002 gegen katastrophale Engpässe bei ihrer Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser und Strom protestierten, erschossen Polizisten drei Demonstranten und verletzten mehr als 20 Personen.

Loya Jirga enttäuschte

Enttäuschend war auch das Ergebnis der gemäss dem Petersberger Abkommen vom 10. bis 21. Juni 2002 in Kabul tagenden Grossen Ratsversammlung, der Loya Jirga. Zwar nahmen Repräsentanten aus ganz Afghanistan an der Konferenz teil, doch sie vermochte nicht die Zentralregierung zu stärken und die Demokratisierung zu fördern. Die Loya Jirga trug entgegen den Schlussbestimmungen (Paragraph V, Absatz 4) des Petersberger Abkommens nicht zu einer repräsentativen Vertretung aller ethnischen Gruppen des Vielvölkerstaates in den Führungspositionen des Staates bei. Zwar wurde der Paschtune Karzai zum Staatspräsidenten gewählt, doch an der Vorherrschaft der Tadschiken in allen Führungspositionen änderte dies nichts. Sie üben insbesondere die Kontrolle über die Geheimdienste, die Polizei und die im Aufbau befindliche Armee aus.

Viele Afghanen vermissten eine offene Diskussion der

Zukunftsperspektiven des Landes bei der Loya Jirga. Wie schon bei der Unterzeichnung des Petersberger Abkommens entstand bei ihnen der Eindruck, die zukünftige Struktur des Landes sei durch Vorgaben des Auslandes bereits festgelegt, den Afghanen hätten gar nicht die Möglichkeit, eigene Konzepte zu entwickeln. Die Loya Jirga dürfe nur offiziell beschliessen, was ausländische Experten an Vorgaben entwickelt hätten, mutmassten afghanische Kritiker. Die mangelnde Transparenz der Entscheidungsprozesse beeinträchtigt auch den Ruf und die Stellung des Staatspräsidenten Karzai, dem Kritiker entgegenhalten, ein willfähriger Erfüllungsgehilfe ausländischer

Kräfte zu sein.

Auch liess die Demokratie während der Ratsversammlung zu wünschen übrig. Mehrere Provinzgouverneure übten massiven Druck auf die Delegierten aus, um ihr Abstimmungsverhalten in der Loya Jirga zu beeinflussen. Auch wurde massiver Druck auf Karzais Gegenkandidaten ausgeübt, um sie zur Aufgabe ihrer Kandidatur zu bewegen. Engagierte Menschenrechtler wie die frühere Frauenministerin Sima Samar wurden unter dem Vorwurf der Gotteslästerung eingeschüchtert und aus politischen Führungspositionen gedrängt.

Frauen leiden noch immer unter Menschenrechtsverletzungen

Trotz der Appelle des Petersberger Abkommens an die afghanische Führung, sich für die Rechte der Frauen einzusetzen, bleibt die Lage der Frauen prekär. Im Einflussbereich der Warlords sind Übergriffe auf

Frauen alltäglich, obwohl der zuständige Innenminister Taj Mohammad Wardak abstreitet, dass Menschenrechte von Frauen auch nach dem Sturz des Taliban-Regimes verletzt werden. Die afghanische Regierung ist in der Frauen-Frage tief zerstritten. Während liberale Kreise um Präsident Karzai die unter den Taliban eingeführten strikten Kleidervorschriften für Frauen- insbesondere die Pflicht, den Ganzkörperschleier (Burqa) zu tragen - sowie andere die Rechte von Frauen verletzende Vorschriften aufhoben, plädieren konservative Kräfte in der Regierung für eine restriktive Frauenpolitik. Dass die Stellung der Frauen in Afghanistan nach dem Sturz des Taliban-Regimes noch immer sehr umstritten ist, machten folgende Zwischenfälle in jüngster Zeit deutlich: So wurden zwei Mädchenschulen in der Provinz Wardak (Zentralafghanistan) Ende Oktober mit Raketen beschossen. Zwei weitere Mädchenschulen wurden niedergebrannt. Für die Anschläge, die glücklicherweise nur schwere Sachschäden verursachten, werden Taliban-Anhänger verantwortlich gemacht. Die Taliban hatten Mädchen und Frauen, den Besuch von Schulen verboten und ihnen auch untersagt, eine Ausbildung zu machen. Bereits im September 2002 waren in der Nordprovinz Sar-e-Pol zwei Schulzelte bei einem Anschlag niedergebrannt worden.

Während die afghanische Regierung mit internationaler Unterstützung die schulische Ausbildung von Mädchen und Frauen massiv fördert, macht die Entlassung einer Richterin am Obersten Bundesgericht deutlich, wie schwierig die Stellung von Frauen in Führungspositionen der afghanischen Gesellschaft noch immer ist. So wurde die Richterin Marzeya Basil am Obersten Gerichtshof Afghanistans Ende Oktober 2002 ihres Amtes enthoben, nachdem sie bei einem Treffen mit US-Präsident George Bush in Washington ohne Schleier fotografiert worden war. Wenige Tage nach ihrer Rückkehr von einer beruflichen Fortbildung in den USA wurde die 44 Jahre alte Mutter mehrerer Kinder auf Anweisung der Gerichtsleitung aus dem Justizdienst entlassen, weil sie die Bekleidungsvorschriften nicht beachtet habe. Ironischerweise hatte US-Präsident Bush noch im Januar 2002 in einer Ansprache an die Nation jubiliert: "Letztes Mal, als wir in diesem Amtszimmer zusammentrafen, wurden die Mütter und Töchter Afghanistan noch in ihren eigenen Häusern als Gefangene festgehalten und es wurde ihnen verboten, Schulen zu besuchen oder eine Arbeitsstelle anzunehmen. Heute sind die Frauen frei."

Zensur "unislamischer" Medien

Auch in der Medienpolitik nimmt der Einfluss konservativer

afghanischer Politiker zu. Zwar erklärte Präsident Karzai während der Loya Jirga, "Radio, Fernsehen und die Presse sind frei", doch nur wenige Wochen später wurde die Ausstrahlung indischer Filme im Fernsehen sowie "unislamischer" Musik im Radio verboten. Besorgt ist unsere Menschenrechtsorganisation auch über Übergriffe auf Musiker, Kinos und Video-Ausleihen.

Warlords finanzieren sich mit Drogengeschäften

Im Jahre 2002 hat der Drogenanbau in Afghanistan massiv

zugenommen. Afghanistan ist heute erneut der bedeutendste

Opium-Produzent der Welt, nachdem die Produktion im Jahr 2001 aufgrund eines Verbotes des Drogenanbaues durch die Taliban stark rückläufig war. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird die Opium-Produktion in Afghanistan im Jahr 2002 rund 19mal höher ausfallen als im Vorjahr: 3.400 Tonen im Vergleich zu 185 Tonnen im Jahr 2001. Rund 75 Prozent der weltweiten Heroinproduktion werden somit aus Afghanistan stammen.

Im Petersberger Abkommen hatte sich die afghanische Führung verpflichtet, im Kampf gegen Drogen mit der Internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten. Zwar kooperieren die afghanischen Behörden mit verschiedenen Staaten in der Drogenbekämpfung, doch sind die Anreize für Bauern für eine alternative Nutzung der Felder zu gering, um eine Substitution erfolgreich zu betreiben. Anfangs schreckte Präsident Karzai vor einer Zerstörung der Opiumfelder zurück, weil er fürchtete, Bauernproteste könnten seine Herrschaft gefährden. Später startete er ein Programm, dass Bauern für die Zerstörung ihrer Opium-Felder mit 350 US Dollars honorierte. Doch die Entschädigung verlief so schleppend, dass viele Bauern abgeschreckt wurden. Auch ist ein Opium-Feld immer noch 40 mal lukrativer als ein Weizen-Feld. Nun sollen Bauern mit 500 US Dollars-Prämien gelockt werden, die Opium-Produktion aufzugeben. Mit der spektakulären Zerstörung eines Drogenmarktes in der Provinz Helmand am 16. November 2002 machte man zwar weltweit Schlagzeilen, eine Eindämmung der Opium-Produktion bewirken solche Medienspektakel jedoch nicht.

Die meisten Warlords und Provinzgouverneure im Norden des Landes sind in den Drogenhandel verstrickt und finanzieren damit ihre Milizen. In den von Kriegsfürsten der Nordallianz kontrollierten Gebieten im Norden des Landes wurde auch nach der Verhängung des Anbau-Verbotes durch die Taliban weiter Opium produzieret. Dieser Opium-Anbau und -Handel wird auch nicht gestoppt werden, da er höchste Deckung aus Kreisen der afghanischen Führung geniesst. Er ist eine der Haupteinnahmequellen der Nordallianz, der Bündnispartner der Antiterror-Koalition.