Pressemitteilung

03.05.2019

NACHRUF: Die internationale Märchenforscherin Dr. Ines Köhler-Zülch ist tot

(Pressemitteilung)

Sie hatte ein großes Herz - Die Menschenrechtlerin und Märchenforscherin Dr. Ines Köhler-Zülch ist tot. Bild: Kurt Weber

NACHRUF

Sie war klug und engagiert und selbstverständlich stand ihr Haus für jeden offen. Unzählige Gäste aus aller Welt hat sie beherbergt; oft standen mit ihrem Mann Tilman Zülch überraschend auch gleich mehrere vor ihrer Tür. Wer länger bleiben wollte oder musste, bekam den Schlüssel in die Hand gedrückt: Kurden oder assyrisch-aramäische Christen aus dem Nahen Osten, Sinti und Roma, indigene Delegierte aus Süd- und Nordamerika, Aeta aus den Philippinen, Kriegsflüchtlinge aus Bosnien und viele mehr. Sie waren sofort eingeladen, fanden neben Speis und Trank und einem Platz zum Schlafen stets ein offenes Ohr für ihre bedrückenden Berichte von Folter, Verfolgung und Vertreibung. Nur wenige Wochen vor ihrem 78. Geburtstag und liebevoll umsorgt von ihrem Mann ist die Menschenrechtlerin und Märchenforscherin Dr. Ines Köhler-Zülch jetzt nach langer schwerer Krankheit in Göttingen gestorben. 

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat mit Ines Köhler-Zülch die "Frau der ersten Stunde" verloren. Sie hat ihrem Mann Tilman Zülch, der die Menschenrechtsorganisation vor mehr als 50 Jahren gründete und bis Frühjahr 2017 leitete, stets den Rücken freigehalten. Als starke Wegbegleiterin unterstützte sie seine Ziele wach, kritisch und bedingungslos mit ganzer Kraft, blieb dabei jedoch bescheiden im Hintergrund. Sie sorgte in den Anfangsjahren für das Auskommen des Ehepaares, bis die GfbV zu einer bundesweit und dann auch international anerkannten Menschenrechtsorganisation herangewachsen war.

1941 in Magdeburg geboren, studierte Ines Köhler-Zülch Slavistik, Germanistik und Romanistik in Marburg und Hamburg. Nach ihrer Promotion ging sie 1974 nach Göttingen, um für die „Enzyklopädie des Märchens“ über Sprachgrenzen und Kontinente hinweg zu forschen. Hier gründete sie gleichzeitig die erste GfbV-Regionalgruppe, warb um Mitstreiterinnen und Mitstreiter für die Durchsetzung der Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten. Mit so großem Erfolg, dass ihr Mann schon auf ein tragfähiges Netzwerk bauen konnte, als auch er aus Hamburg in die südniedersächsische Universitätsstadt zog.

So ist es nur dem außerordentlichen Einsatz Ehrenamtlicher wie dem von Ines Köhler-Zülch zu verdanken, dass die GfbV in ihren Anfangsjahren für eine vielköpfige Delegation von Repräsentanten indianischer Volksgruppen aus allen Teilen Amerikas Vortragsreisen durch ganz Deutschland organisieren konnte. Die Berichte der Delegierten über unerträgliche Diskriminierung und schwere Menschenrechtsverletzungen stießen auf riesige Resonanz. Auch zur Organisation des dritten Welt-Roma-Kongresses 1981 in der Göttinger Stadthalle trug Ines Köhler-Zülch ganz entscheidend bei. Ihr Engagement - sei es für die Überlebenden von Völkermord in Bangladesch, Osttimor oder Guatemala, für Giftgasflüchtlinge aus dem Irak oder Vertreibungsopfer aus Bosnien - blieb bis zu ihrer schweren Erkrankung 2017 ungebrochen. Sie brachte sich bei konzentrierten Strategiediskussionen genauso ein wie bei hitzigen Diskussionen und gab wertvolle Impulse für wichtige Menschenrechtsinitiativen für bedrohte Minderheiten und Nationalitäten.

32 Jahre lang arbeitete sie in der Redaktion der Enzyklopädie des Märchens mit, einem Projekt der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Ihre Schwerpunkte bei der historisch-vergleichenden internationalen Märchenforschung lagen in Südosteuropa, auf alten und modernen Sagen und Märchen. Sie veröffentlichte gemeinsam mit einer Kollegin nicht nur das Buch „Schneewittchen hat viele Schwestern“, sondern auch zahlreiche wissenschaftliche Schriften und Buchbeiträge. Breite öffentliche Beachtung fanden ihre historisch-kritischen Forschungen zur Walpurgisnacht. Vortragsreisen führten sie ins europäische Ausland, nach Indien, in die USA und in den Nahen Osten.

Das wissenschaftliche Engagement von Ines Köhler-Zülch hat die Enzyklopädie des Märchens so entscheidend mitgeprägt, dass sie nach ihrem Ausscheiden nicht in den verdienten Ruhestand entlassen wurde. Vielmehr wurde sie ehrenamtlich zur Mitarbeit an diesem international konzipierten Handbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung verpflichtet und Mitherausgeberin der 15 Bände, die 1975 bis 2015 erschienen.

Wenn sie sich dann doch einmal mit ihrem Mann "Freizeit" gönnte, widmeten sich die beiden der blühenden Vielfalt ihres Gartens in Göttingen, durchwanderten den Harz zur Teufelsmauer oder dem Hexentanzplatz oder genossen die Seeluft auf der Nordseeinsel Amrum.