Die anderen 68-er

Von der Protestbewegung zur Menschenrechtsorganisation

 

„Als wir mit 50 Studentinnen und Studenten das britische Generalkonsulat an der Alster besetzten, schockierte das den Botschafter Großbritanniens mehr als das Sterben im Hungerkessel von Biafra“, erinnert sich Tilman Zülch an eine seiner ersten provokanten Menschenrechtsaktionen in Hamburg. In Ostnigeria, das sich als Republik Biafra unabhängig erklärt hatte, verhungerten im Juni 1968 täglich rund 10.000 Kinder, kranke und alte Menschen. Hunger wurde in diesem Krieg als Waffe eingesetzt. Die britische Labour-Regierung und die Sowjetunion unter Breschnjew unterstützten die Aggression Nigerias gegen Biafra militärisch, ökonomisch und sicherten sie politisch international ab. Zwei Millionen Ibo verloren damals ihr Leben. Doch politische Initiativen, diesem Genozid Einhalt zu gebieten, gab es nicht. Deshalb gründete Zülch, Student der Volkswirtschaft und Politik, gemeinsam mit dem Medizinstudenten Klaus Guercke 1968 die „Aktion Biafra-Hilfe“, nicht ahnend, dass sie damit die Basis für eine internationale Menschenrechtsorganisation legten.

 

„A wie Auschwitz – B wie Biafra“

Schnell schlossen sich Menschen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen wie Pastoren, Ärzte, Arbeiter, Angestellte und Studenten der „Aktion Biafra-Hilfe“ an. Der Zorn der engagierten Menschenrechtler über die Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft entlud sich in drastisch-aufrüttelnden Zeitungsanzeigen, auf Plakaten mit anklagenden Slogans wie „A wie Auschwitz – B wie Biafra“ oder in scharf formulierten Appellen, denen namhafte Persönlichkeiten wie Ernst Bloch, Paul Celan, Günter Grass,  Erich Kästner, Golo Mann, Marcel Reich-Ranicki oder Martin Walser als Unterzeichner Gewicht gaben.

Doch es bleibt nicht nur bei den Aktionen: Tilman Zülch reiste nach Biafra und sah mit eigenen Augen das Ausmaß des Völkermords. Nach seiner Rückkehr intensivierte er seine Mühen nochmals und führte weitere Initiativen durch. Parallel reifte der Entschluss, die „Aktion Biafra-Hilfe“ als Menschenrechtsorganisation weiter zu führen. 1970 wird die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ offiziell gegründet – eine Organisation mit dem Anspruch, weltweit Menschenrechte von ethnischen und religiösen Minderheitengruppen zu schützen und durchzusetzen.

 

Seit 50 Jahren: Kampf gegen Genozid

Es gibt kaum ein Land der Welt, in dessen Politik wir uns in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht freundlich bittend, unmissverständlich fordernd oder hartnäckig anklagend eingemischt haben. Als einzige Menschenrechtsorganisation im deutschsprachigen Raum setzen wir uns für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten, indigene Gemeinschaften und Nationalitäten ein und wenden uns entschieden gegen jede kulturelle, religiöse, ethnische oder rassische Unterdrückung. Oberste Priorität hat immer das Engagement gegen Völkermord und Vertreibung.

Telefonate, Briefe, E-Mail- und Postkarten-Aktionen, Demonstrationen, Mahnwachen, Presseerklärungen, Interviews und Vorträge, aber auch Online-Petitionen – das sind die Mittel der GfbV, um Menschenrechte einzufordern oder zu verteidigen. Wie wirksam diese „Waffen“ sind, offenbaren unsere Erfolge. Dabei haben wir uns unseren ideologisch unverstellten Blick bewahrt. Die Vereinten Nationen und auch der Europarat haben unsere parteipolitisch unabhängige konsequente Menschenrechtsarbeit anerkannt und der GfbV als Nichtregierungsorganisation beratenden bzw. mitwirkenden Status verliehen.

 

„Auf keinem Auge blind“

Das Engagement der GfbV ähnelt nicht selten dem Kampf von David gegen Goliath. Resigniert haben wir deswegen jedoch nie. Mit beharrlichem Durchhaltevermögen weisen wir seit Jahrzehnten auf die bedrohliche Lage von ethnischen und religiösen Minderheiten hin und klären Politiker und Wirtschaftsunternehmen über alle Facetten der Menschenrechtsverletzungen auf.

„Auf keinem Auge blind“ ist seit 1968 Leitlinie der Gesellschaft für bedrohte Völker. Für uns sind Verfolgung, Vernichtung und Vertreibung, die Einrichtung von Konzentrations- und Vergewaltigungslagern immer und überall ein Verbrechen - in der Vergangenheit wie in der Gegenwart. Zurückliegendes Leid können wir nicht ungeschehen machen. Wir können jedoch dazu beitragen, heutige Verbrechen zu beenden.

 

 

Header Foto: Fritz Berger