Bei der Filmpremiere von „Geliebt und geächtet“ in Bielefeld im September 2019 diskutieren Zuschauende die zentrale Frage: „Wie können wir in unserer Mitte Kinder aufnehmen, die die Religion unserer Verfolger haben?“ Foto: Niels Keilhack/GfbV

Sie sind die jüngsten Opfer von Kriegen und Genoziden. Es gibt sie auf der ganzen Welt und dennoch werden sie vergessen oder versteckt. Sie sind unschuldig und werden trotzdem zu Täter*innen gemacht: Kinder des Krieges, also Kinder, die in Vergewaltigungen in Konflikten gezeugt wurden. Die GfbV nimmt sich der Thematik aus dringendem Anlass seit 2019 an.

 

Von Lina Stotz

Es ist Ende April 2019. Mich und meine Kolleg*innen bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen erreichen wunderbare Neuigkeiten: Der Yezidische Hohe Geistliche Rat hat beschlossen, Yezidinnen, die vom „Islamischen Staat“ entführt wurden, zusammen mit ihren Kindern wieder in die Gemeinde aufzunehmen. Der Jubel ist groß!

Die yezidische Gemeinschaft aus dem Nordirak war eine der Hauptleidtragenden der „IS“-Grausamkeiten. Bis heute, mehr als sechs Jahre nach dem Völkermord an der Gemeinschaft, sind die Auswirkungen verheerend. Hunderte Yezid*innen, die vom „IS“ verschleppt und auf Menschenmärkten verkauft worden sind, sind noch verschollen. Zudem gibt es hunderte Kinder yezidischer Mütter, die in Gefangenschaft in Vergewaltigungen durch vermeintlich muslimische „IS“-Kämpfer gezeugt wurden.

Da die Religion der Yezid*innen von Mutter und Vater vererbt wird, gelten diese Kinder unter den religiösen Regeln der Gemeinschaft nicht als yezidisch. Die Tradition besagt, dass nicht-yezidische Kinder nicht mit yezidischen Familien leben. Auch irakisches Recht betrachtet diese Kinder nicht als yezidisch sondern als muslimisch – also der Religion der „IS“-Kämpfer angehörig. Vor diesem Hintergrund ist der Erlass des Hohen Rats, die Kinder zu akzeptieren, revolutionär. Bis zu dem Zeitpunkt hatten tausende Yezidinnen, die in „IS“-Gefangenschaft gewesen waren, vor der Wahl zwischen ihrer Gemeinschaft und ihren Kindern gestanden.

Enttäuschung

Doch ein paar Tage später kommt ein erneuter Erlass: Es wird nun betont, dass nur Kinder gemeint seien, deren Eltern beide yezidisch sind. Kinder, die in Vergewaltigungen durch „IS“-Kämpfer gezeugt wurden, dürften nicht mit der yezidischen Gemeinschaft leben.

Diese Entscheidung ist für uns als Menschenrechtler*innen ein schwerer Schlag. Unschuldige Kinder abzuweisen, erscheint gnadenlos. Doch als Organisation, die sich seit Jahrzehnten für die Belange der yezidischen Gemeinschaft einsetzt, versuchen wir zu verstehen. Die Yezid*innen haben 2014 einen grausamen Genozid erlitten, der immer noch weitergeht. Das Leben ist für die Hinterbliebenen schwer. Die Flüchtlingslager im Irak und in Syrien sind unzureichend ausgestattet, eine Rückkehr in die Heimat im Sinjar im Nordirak bis heute keine Option. Es ist ein Leben im Schwebezustand mit Erinnerungen an Grausamkeiten, die selbst erfahren, Verwandten und Freund*innen angetan worden sind. Die Wahrung von Traditionen kann in solch einer Situation besonders wichtig erscheinen.

Zudem hat die yezidische Gemeinschaft in ihrer Geschichte schon etwa 73 Genozide erfahren. Es ist diese Vergangenheit der Verfolgung, die man verstehen muss, um die Entscheidung des Hohen Rats nachvollziehen zu können. Bisher ist die Überlebensstrategie der Yezid*innen gewesen, sich vor anderen zurückzuziehen. Die Traditionen der Gemeinschaft verlangen Heirat nur innerhalb der yezidischen Gemeinschaft, die Religion wird vererbt. Dadurch hat die Gemeinschaft ihre Identität bewahren können und trotz jahrhundertelanger Verfolgung überlebt.

Ajna Jusic ist ein Kind des Krieges aus dem Bosnienkrieg. Seit Jahren kämpft die mutige Frau für die Enttabuisierung des Themas und für Anerkennung. Auch sie wirkte am GfbV-Film „Geliebt und geächtet“ mit. Foto: GfbV

Instrument des Kriegs

Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe. Das ist mittlerweile allgemein anerkannt. Weniger bekannt ist jedoch, dass auch die Zeugung von Kindern durch Vergewaltigungen als Waffe funktionieren kann. Familien und ganze Gemeinschaften werden darüber entzweit, dass Frauen vergewaltigt werden und dann auch noch ein Kind austragen. Denn Verwandtschaft orientiert sich vielerorts entlang der väterlichen Linie. Die Kinder werden „Kinder des Feindes“ genannt – sie werden der ethnischen, religiösen oder politischen Gruppe des Vergewaltigers zugeordnet. Da solche patriarchalen Strukturen fast auf der ganzen Welt vorherrschen, tritt Stigmatisierung von Kindern des Krieges auch weltweit auf.

Die Kinder in der yezidischen Gemeinschaft werden „Kinder des ‚IS‘“ genannt. Ähnlich abwertende und spaltende Bezeichnungen gibt es für Kinder des Krieges auf der ganzen Welt. Diese Bezeichnungen stehen für ein Netz aus Stigma, Tabu und Diskriminierung, in dem die Kinder gefangen sind. Es ist wissenschaftlicher Konsens, dass Kinder des Krieges geringere Bildungschancen haben, Gesundheits- und Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind, rechtliche Einschränkungen wie mangelnde Staatsbürgerschaft haben und teilweise lebenslang psychisch unter der Stigmatisierung leiden. Dies ist kein neues Phänomen. Es kam vor in Ruanda, in Bosnien, in Europa nach dem zweiten Weltkrieg, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich habe vor einem Jahr bei einer Veranstaltung eine fast 80-Jährige getroffen, die noch immer darunter leidet, als „Deutschenkind“ beschimpft worden zu sein.

Das Schicksal der Kinder

Wenn sie freikommen, geben viele Yezidinnen, die in Gefangenschaft Mutter geworden sind, ihre Kinder in Waisenhäuser. Andere bleiben beim „IS“, nur weil sie sich nicht von ihren Kindern trennen wollen. Nächstes Jahr kommen die ersten der Kinder in die Schule. Aber es ist nicht klar, wie ihre Zukunft aussehen wird. Sie sitzen zwischen allen Stühlen, werden vergessen oder versteckt. Unter Tränen erzählte mir eine Partnerin, die im Irak eine Frauenrechtsorganisation leitet, vor wenigen Tagen vom Schmerz der Mütter, die sie betreut. Keine, so meinte sie, habe ihr Kind freiwillig zurückgelassen.

Schnelle Taten

In den Tagen nach der Entscheidung des Hohen Rats sitzen wir im Team zusammen und überlegen, wie es weitergeht. Wir wissen, wir müssen etwas tun. Wir wissen auch, dass wir den Hintergrund der Yezid*innen dabei auf keinen Fall außer Acht lassen können und wollen. Wir wollen nicht mit dem Finger auf Schuldige zeigen, sondern auf Lösungen hinarbeiten – und zwar mit der yezidischen Gemeinschaft zusammen.

Wir schreiben ein Drehbuch und beginnen die Filmarbeiten zu der kurzen Dokumentation „Geliebt & Geächtet“. Unter anderem erzählt Grace Acan in dem Film ihre Geschichte: Die Frauen- und Kinderrechtlerin aus Uganda ist als junges Mädchen in Norduganda entführt worden und lebte acht Jahre in Gefangenschaft der Rebellen der Lord’s Resistance Army (dt.: Widerstandsarmee des Herrn). Sie bekam in der Zeit zwei Kinder. Sie und ihre Kinder begegneten nach der Rückkehr in das Dorf ihrer Eltern Ablehnung ihrer Gemeinschaft.

Mit diesem 20-minütigen Film im Gepäck reisen wir durch Deutschland. Deutschland beherbergt die größte yezidische Diaspora. Von Oldenburg bis zum Bodensee zeigen wir den Film in yezidischen Gemeindezentren und anderen Versammlungsorten. Es kommt zu lebendigen Diskussionen. Ältere und junge Yezid*innen tauschen sich aus, Nicht-Yezid*innen teilen ihre Geschichten und Sichtweisen mit. Viele Teilnehmende äußern konkrete Ideen oder Forderungen, was geschehen müsse, damit die Kinder des Krieges in der yezidischen Gemeinschaft aufgenommen werden könnten.  

Podiumsgast Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan sagt bei der Filmpremiere: „Wenn diese Diskussion auch nur einem, zwei Kindern das Leben rettet, dann ist das der größte Erfolg meines Lebens.“ Foto: Niels Keilhack/ GfbV

Unsere Erfolge

Diese Ideen und Forderungen sammelten wir und trugen sie zusammen zu einer Liste von sieben Forderungen – zu finden in der Publikation „Die Zukunft der Kinder des ‚IS‘“.

In einem weiteren Report trugen wir erstmalig Informationen zu Kindern des Krieges in der Rohingya Gemeinschaft zusammen. Ein Erfolg unserer Arbeit: Eine Ermittlungsbehörde der Vereinten Nationen (UN) will sich auf unsere Initiative hin stärker mit dem Thema Kinder des Krieges in der Rohingya Gemeinschaft befassen.

Auch gaben wir in einer online-Aktion Kindern des Krieges aus Bosnien-Herzegowina anlässlich des 25. Jahrestags des Völkermords in Srebrenica eine Bühne. Die Zeugung von Kindern in Vergewaltigung ist in Bosnien bis heute ein Tabu. Wir interviewten drei dieser „Kinder“, die heute Mitte Zwanzig sind. Mehr als 15.000 Menschen aus Bosnien, Deutschland und weiteren Ländern haben sich die Interviews angesehen.

Außerdem verlangten wir beim UN-Menschenrechtsrat mehr Einsatz der Mitgliedsstaaten und der UN für Kinder des Krieges. Die UN haben Kinder des Krieges selten auf dem Schirm. Selbst wenn sie sich mit sexualisierter Gewalt beschäftigen, finden Kinder des Krieges oft keine Erwähnung. Diese Unsichtbarkeit und mangelnde Hilfe verschlimmert die Situation der Kinder oft. Wir wollen die Kinder mit unserer UN-Arbeit sichtbarer machen.

GfbV-Adventskalender. Foto: GfbV

Das Thema bleibt aktuell

Doch wie bei fast allen Themen in der Menschenrechtsarbeit gibt es auch bei diesem keine schnellen Erfolge. Daher bleiben wir weiter daran, das Thema Kinder des Krieges anzusprechen. Minderheiten weltweit bedürfen Unterstützung. Aktuell beschäftigen wir uns vermehrt mit dem Kontext Nigeria. Der Norden des Landes sowie benachbarte Staaten leiden seit Jahren unter dem Terror von Boko Haram. Die Gruppe hat immer wieder Mädchen und Frauen entführt. In Gefangenschaft bekamen viele von Ihnen infolge von sexueller Gewalt Kinder. Die Mütter und ihre Kinder werden „Frauen von Boko Haram“ oder „böses Blut von Boko Haram“ genannt. In einem Adventskalender, der mit einem Appell an die deutsche Politik gekoppelt ist, machen wir auf ihre Situation aufmerksam. Mehr als tausend Menschen verfolgen so analog und digital in der Adventszeit die fiktive aber realitätsnahe Geschichte zweier nigerianischer Mädchen, die sich aus ihrer Gefangenschaft befreien.

Größere Aufmerksamkeit und größeres Verständnis gekoppelt mit politischen Apellen sind wirksame Mittel gegen Stigma: Für eine Zukunft, in der Kinder des Krieges weltweit nicht länger übersehen, vergessen oder versteckt werden. Für eine Zukunft, in der Kinder des Krieges nicht mehr als Symbol für Hass und Schmerz gesehen werden, sondern für Hoffnung und Frieden.


Lina Stotz ist Referentin für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten und Nationalitäten bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.



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