Das Denkmal in der armenischen Hauptstadt Jerewan erinnert an die Opfer des Völkermordes im ehemaligen Osmanischen Reich. In der Mitte brennt eine ewige Flamme. Alljährlich am 24. April kommen tausende Menschen zum Denkmal und legen Blumen nieder.
Foto: young shanahan/Flickr CC BY 2.0
Seit nunmehr hundert Jahren deckt die türkische Regierung einen Mantel des Schweigens über den Genozid an den Armenier*innen im ehemaligen Osmanischen Reich. Kein Erinnern, kein Mahnen, keine Übernahme von Verantwortung. Das Tabu wird durch die Türkei aktiv bewirtschaftet, denn die Leugnung des Völkermordes ist für das Land identitätsstiftend geworden.
Von Tessa Hofmann
Völkermord geschieht, wenn einem zur Opfergruppe erklärten Kollektiv das Lebensrecht abgesprochen wird. Durch die strafrechtliche, politische oder gesellschaftliche Verurteilung des Verbrechens als Genozid wird diese Aberkennung aufgehoben. Im Fall einer Leugnung des Verbrechens wird umgekehrt die Aberkennung des Lebensrechts fortgeführt. Leiden und Schuld werden somit verstetigt. Leugnung von Völkermord verursacht den überlebenden Opfern und ihren Nachfahren fortgesetzten Schmerz. Denn die Leugnung stellt nicht nur das an ihnen verübte Verbrechen in Abrede, sondern unterstellt den Opfern und ihren Nachfahren mutwillige Lüge beziehungsweise üble Nachrede.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Schuld – und ganz besonders Schuld für Verbrechen gegen die Menschheit – ist stets persönliche Schuld, keine Kollektivschuld. Die nachgeborenen Generationen in der Türkei tragen keine Schuld für den Genozid an etwa drei Millionen osmanischen Christ*innen im Zeitraum 1912 bis 1922. Aber sie sind mit der historischen Verantwortungsübernahme konfrontiert. Man darf von ihnen erwarten, dass sie vergangene Verbrechen erkennen und verurteilen.
Nach dem Zehn-Stufen-Modell, das der Genozid-Forscher Gregory Stanton 2013 entwickelte, bildet Leugnung die letzte von zehn Stufen des Genozids. Demnach sei Leugnung ein integraler Bestandteil jeden Völkermordes. Allerdings erscheint diese Stufe unterschiedlich ausgeprägt. Der osmanisch/jungtürkisch-kemalistische Fall ist vermutlich der hartnäckigste, der sich in der gesamten Geschichte der Republik Türkei in der staatlichen Geschichts-, Erinnerungs- und Bildungspolitik bis hin zur Strafgesetzgebung niederschlug. [1] In der türkisch-republikanischen Außenpolitik wurde die zur offiziellen Staatspolitik erhobene Leugnung des Völkermordes der Vorgängerregierungen zur außenpolitischen Doktrin. Sie verpflichtet zum Beispiel türkische Auslandsdiplomat*innen seit dem Jahr 2001 zu förmlichen Protesten, falls in ihren jeweiligen Amtsbereichen wissenschaftliche, kulturelle oder sonstige Aktivitäten im Zusammenhang mit dem osmanischen Genozid erfolgen.
Das Bildungswesen der Republik Türkei wurde, von der Grundschule bis zu den Universitäten, früh zentralistischer Kontrolle unterworfen. In türkischen Schulbüchern findet sich eine pervertierte Geschichtsdarstellung, wie der deutsche Soziologe Joachim Savelsberg Wissen über Genozid: Armenisches Leid und epistemische Kämpfe (2021) feststellte:
„(…) die türkischen Lehrbücher beschreiben viel Leid, mannigfaltige Todesfälle und Vertreibung der Bevölkerung. Doch die Opfer sind in erster Linie Türken und jene Armenier, die dem Aufruf ihrer radikalen Brüder, Türken zu töten, nicht gefolgt sind. Verantwortlich für die Gewalt sind entweder Armenier im Allgemeinen, radikale armenische Organisationen, oder ausländische Mächte. Manchmal stellen Schulbücher die Armenier als innere Feinde dar, die ihr eigenes Land (das Osmanische Reich) an fremde Mächte verraten haben. (…) Wie es in Schulbüchern üblich ist, ist die Erzählung vereinfacht. Die Konturen sind noch deutlicher erkennbar als in den anderen Dokumenttypen. Türken als Trägergruppe, mit dem türkischen Staat als mächtigem Wissensunternehmer, laden sedimentiertes Wissen auf, um es an neue Generationen weiterzugeben.“ (Aus dem Englischen übersetzt.)
Gründe der Leugnung
Bis heute übernehmen große Teile der türkischen Gesellschaft sowohl im Herkunftsland, als auch in der deutschen Diaspora, die offizielle Geschichtsversion des türkischen Staates. Fragt man nach den Gründen für die Schuld- und Erinnerungsabwehr, dann sind diese vielfältig, je nach der Situation und der Generationszugehörigkeit. Unmittelbare Täter*innen wollen nicht juristisch zur Verantwortung gezogen werden; sie berufen sich auf Pflichtausübung und Befehle. Für ihre Nachfahren bildet die emotionale Bindung an Angehörige der Tätergeneration ein wesentliches Motiv der Abwehrhaltung: „(Ur)opa war nicht in der Kemach-Schlucht und an dortigen Massakern beteiligt!“ (Beim Massaker in der Kemach-Schlucht 1915 töteten osmanische Truppen circa 25.000 Armenier*innen; Anm. d. Red.)
Wie schmerzhaft die Erkenntnis sein kann, dass ein Vorfahr doch ein Massenmörder war, erlebte ich, als sich in den 1980er Jahren die Urenkelin von Mehmet Kemal an mich wandte. Ihr Urgroßvater war als Vorsteher (mutessarif) des Bezirks Boğazlıyan und als Vizegouverneur der Provinz Yozgat verantwortlich für die Ermordung von 86.000 Armenier*innen in der Gegend von Yozgat. Mehmet Kemal wurde im Yozgat-Verfahren zum Tode verurteilt und als einer der wenigen gerichtlich zum Tode Verurteilten am 10. April 1919 in Konstantinopel öffentlich hingerichtet.
Doch schon drei Jahre später, am 10. Oktober 1922, wurde er per Erlass der kemalistisch-nationalistischen Gegenregierung zu Ankara zum „Nationalen Märtyrer“ (osmanisch: şehid-i millî; türkisch: Millî Şehit) erklärt. Der türkische Staat schenkte seiner Familie auf der Grundlage eines Sondergesetzes aus dem Jahr 1926 zwei Etagenwohnungen aus dem beschlagnahmten Besitz deportierter Armenier*innen. Im Jahre 1973 wurde sein Grab renoviert und zu einem „Ehrendenkmal“ erklärt.
Kemals Tochter, die in Izmir lebte, wurde dort als Nationalheldin gefeiert und regelmäßig zu öffentlichen Anlässen eingeladen. Kemals Urenkelin jedoch, die in der Zeitschrift der Gesellschaft für bedrohte Völker, damals noch „pogrom“, einen Bericht über die Verbrechen ihres Vorfahren [2] gelesen hatte, überwarf sich mit ihrer türkischen Familie. Diese verwahrte sich heftig gegen jegliche Kritik an Mehmet Kemal. Die deutsche Mutter der Urenkelin schlug sich auf die Seite ihres türkischen Ehemannes. Die Auseinandersetzung mit ihrer Familie stürzte die Urenkelin in eine tiefe Depression und machte sie zeitweilig sogar arbeitsunfähig.
Breite Koalition des Schweigens
Zu den türkischen Intellektuellen, die es – meist um den Preis ihres Exils – gewagt haben, das allgegenwärtige Genozid-Tabu zu durchbrechen, gehört der in den USA lebende Sozialwissenschaftler und Genozid-Forscher Taner Akçam. Auf einer Veranstaltung zum Thema „Genozid und Leugnung“ der Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung (AGA) sagte er im Januar 2022:
„Was 1915 geschah, bildet das kollektive Geheimnis der türkischen Gesellschaft, und der Völkermord ist in das ‚schwarze Loch‘ unseres gesellschaftlichen Gedächtnisses verbannt worden. Seit der Gründung der Türkischen Republik haben wir alle, Rechte und Linke, Muslime, Alewiten, Kurden und Türken, eine kollektive ‚Koalition des Schweigens‘ zu diesem Thema gebildet, und wir mögen es nicht, wenn man uns an dieses verborgene Geheimnis erinnert, das uns wie eine warme, kuschelige Decke umhüllt. Die Erinnerung daran ist lästig und irritierend (…). Denn wenn wir gezwungen sind, uns mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen, wird alles in Frage gestellt: unsere sozialen Institutionen, unsere Mentalität, unsere Glaubenssysteme, unsere Kultur und sogar die Sprache, die wir verwenden. (…) Das führt dazu, dass wir die ‚Mahnungen‘ nicht schätzen. Wir betrachten sie als ‚Zwang‘ und reagieren ziemlich gereizt auf sie. (…) Es scheint, als ob wir als Nation diese kollektive Erklärung abgeben: ‚Falls ihr glaubt, dass wir die soziokulturelle Identität, die wir in 95 Jahren mit großer Sorgfalt geschaffen haben, mit einem Federstrich zerstören werden, dann denkt noch einmal nach!‘“
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Verweigerte Verantwortungsübernahme für die türkische Geschichte ist mithin also eher ein Identitätsproblem als ein kognitiver Mangel. Doch auch dieser besteht. Der Pädagoge Martin Stupperich nannte 2016 die Unkenntnis deutscher Pädagog*innen über den osmanischen Genozid als einen der Gründe, warum in deutschen Schulen dieses Beispiel von Völkermord, das immerhin der Genozid-Konvention der Vereinten Nationen zugrunde liegt, kaum unterrichtet wird. Die Handreichungen der Bundesländer Brandenburg und Sachsen-Anhalt haben diesbezüglich wenig gebessert beziehungsweise sind nicht mehr verfügbar. Eine neue, inklusive, das heißt auf alle christlichen Opfer des osmanischen Genozids bezogene Handreichung soll Abhilfe schaffen.
Im Internet ist bereits die Webseite Virtual Genocide Memorial der Fördergemeinschaft für eine Ökumenische Gedenkstätte für Genozid-Opfer im Osmanischen Reich (FÖGG) verfügbar. Sie dokumentiert den jungtürkisch-kemalistischen Genozid des Zeitraums 1912 bis 1922 für alle Opfergruppen – Armenier*innen, griechisch-orthodoxe und syrische Christ*innen – in 16 osmanischen Provinzen und deren Bezirke sowie Kantone (https://virtual-genocide-memorial.de). Die Bundeszentrale für Politische Bildung bietet seit 2015 ein Dossier zum Genozid an den Armenier*innen an (https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/genozid-an-den-armeniern/).
[Die Autorin]
Prof. h.c. Dr. phil. Tessa Hofmann ist Philologin und Soziologin und war bis April 2015 am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin tätig. Sie publizierte zahlreiche Bücher zur Geschichte, Kultur und Gegenwartslage Armeniens, der armenischen Diaspora, zur Genozid-Forschung und zu Minderheiten in der Türkei und im Südkaukasus. Seit 1979 ist sie ehrenamtliche Armenien-Koordinatorin der Gesellschaft für bedrohte Völker und seit 2009 Ehrenmitglied.
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