Geben nicht auf: Gulbahar Haitiwaji, Lagerüberlebende, Gulbakhar Jalilova, Lagerüberlebende, und Zumretay Arkin vom Weltkongress der Uiguren (von links nach rechts) auf dem Gelände des UN Menschenrechtsrats in Genf.
Foto: © Hanno Schedler/GfbV
Ist es Völkermord, was die chinesische Regierung den Uigur*innen antut? Den Kriterien der UN-Völkermord-Konvention zufolge ja. Etliche Beweise liegen vor. Trotzdem sind die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft sträflich zögerlich.
Von Hanno Schedler
Vier Jahre, von 2018 bis 2022, war Michelle Bachelet UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. In dieser Zeit erschienen viele, viele Berichte von Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler*innen über die Gräueltaten der chinesischen Regierung gegenüber Uigur*innen, Kasach*innen und Angehörigen anderer Turkvölker im Nordwesten des Landes. Satellitenaufnahmen zeigten den Bau großer Lager, die Zerstörung von Moscheen und Friedhöfen. Augenzeug*innen, die in Nachbarländer wie Kasachstan fliehen konnten, berichteten von Folter und medizinischen Zwangseingriffen bei Frauen im gebärfähigen Alter. Expert*innen zeigten anhand der Analyse chinesischer Regierungsdokumente auf, wie hunderttausende Beauftragte der chinesischen Regierung monatelang in uigurischen Familien lebten, ohne dass diese sich dagegen hätten wehren können. Sie sammelten Informationen über die Kontakte und Gewohnheiten der Familien. Auf Grundlage dieser Informationen wurden hunderttausende Familien auseinandergerissen, weil Eltern in Umerziehungslager oder Gefängnisse und ihre Kinder in staatliche Internate gesteckt wurden.
Die Hochkommissarin für Menschenrechte hatte vier Jahre Zeit, um ihrer Rolle gerecht zu werden und den Völkermord an den Uigur*innen öffentlich zu verurteilen. Regelmäßig demonstrierten Angehörige der in China Verschwundenen vor dem Gelände des Menschenrechtsrates in Genf für eine eindeutige Stellungnahme Bachelets. Was sie erleben mussten, war Abwarten und jahrelange Verhandlungen zwischen dem Büro der Hochkommissarin und der chinesischen Regierung über einen Besuch in Xinjiang, der Region, die die Uigur*innen Ostturkestan nennen.
Dieser Besuch kam erst im Mai 2022 zustande, choreographiert von der chinesischen Regierung. Ein unabhängiges Bild der Lage konnten sich Michelle Bachelet und ihre Mitarbeiter*innen nicht machen. So blieb den Uigur*innen nur noch die Hoffnung, dass trotzdem endlich ein Report von Bachelets Büro über die Menschenrechtslage in Ostturkestan veröffentlicht würde. Menschenrechtsorganisationen hatten bereits seit 2017 einen solchen Bericht gefordert. Seit 2019, so berichtet es die Financial Times, intensivierten Bachelets Mitarbeiter*innen ihre Recherche über die Lage in Ostturkestan. Im September 2021 verkündete Bachelet, dass der Bericht kurz vor der Fertigstellung stehe. Aber erst am 31. August 2022, kurz vor Mitternacht, ein paar Minuten vor dem Ende ihrer Amtszeit, veröffentlichte Michelle Bachelet den Bericht.
Auf 48 Seiten wird beschrieben, wie systematisch und umfassend die chinesische Regierung die Menschenrechte von Uigur*innen und Angehörigen anderer Turkvölker verletzt. Wichtigste Erkenntnis des Berichts: Die Verbrechen der Regierung könnten als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft werden. Der Bericht zeigt die Brutalität des chinesischen Staatschefs Xi Jinping und seiner Kommunistischen Partei (KP), aber auch die wachsende globale Macht Chinas. Der Journalist Stuart Lau berichtete am Tag nach Erscheinen des Bachelet-Reports, dass ein Abschnitt über Zwangssterilisierungen noch kurzfristig verwässert worden sei.
Es ist Völkermord
Im Internationalen Strafrecht werden Angriffskriege, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord als gleichermaßen schwerwiegend angesehen. Wenn es um die beiden letzten geht, haben viele Menschen aber eine andere Wahrnehmung. Völkermord wird häufig als das „Verbrechen der Verbrechen“ (Crime of Crimes) angesehen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sind zum Beispiel Versklavung, Deportation oder Morde. Um in diese Kategorie zu fallen, müssen Verbrechen nicht an nur einer bestimmten Bevölkerungsgruppe begangen werden. Und um sie nachzuweisen, muss man keine Belege über die explizit erklärte Absicht, diese Taten zu begehen, erbringen.
Um besser zu verstehen, warum es sich bei dem chinesischen Vorgehen gegenüber den Uigur*innen um Völkermord handelt, muss die Völkermord-Konvention von 1948 betrachtet werden. Sie definiert Völkermord als eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, „rassische“ oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
a) Die Tötung von Gruppenmitgliedern;
b) Die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden an Mitgliedern der Gruppe;
c) Vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen, die darauf abzielen, die physische Zerstörung der Gruppe ganz oder teilweise herbeizuführen;
d)Auferlegung von Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten innerhalb der Gruppe;
e) Zwangsweise Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
(Aus dem Englischen übertragen; Anm. d. Red.)
Die Uigur*innen sprechen Uigurisch, das dem Türkischen näher ist als dem Chinesischen. Ihre Kultur, Lebensweise und Religion unterscheiden sich ebenfalls stark von der han-chinesischen Bevölkerungsgruppe, die mehr als 90 Prozent der in China lebenden Menschen stellt. Daher sind die Uigur*innen eine nach den Vorgaben der Völkermordkonvention zu schützende Gruppe.
Zu a)
Wie viele Uigur*innen in den vergangenen Jahren vom chinesischen Staat umgebracht wurden, ist nicht genau bekannt. Es gibt aber Berichte über Uigur*innen, die in den Umerziehungslagern oder Gefängnissen des chinesischen Staates getötet wurden. Dennoch wird das erste Kriterium aufgrund eines Mangels an genauen Informationen nicht erfüllt.
Zu b)
Über das zweite Kriterium der Konvention, die Verursachung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden, gibt es jedoch viele Berichte von Überlebenden der Lager und Gefängnisse. Sie erzählen von Folter, bis zu zwölf Stunden täglicher Indoktrinierung mit KP-Propaganda und Vergewaltigungen. Die Überlebenden der Lager zeichnen auch Jahre später sicht- und unsichtbare Narben.
Zu c)
Das dritte Kriterium der Konvention, die Auferlegung extremer Lebensbedingungen, ist ebenfalls erfüllt. Selbst wenn die Uigur*innen irgendwann aus den menschenunwürdigen Lagern oder Gefängnissen herausgekommen sind, müssen viele Uigur*innen Zwangsarbeit leisten und dürfen ihre Kultur und Religion nicht mehr praktizieren.
Zu d)
Beim vierten Kriterium, den Maßnahmen zur Geburtenverhinderung, ist anhand der Analyse von Regierungsdokumenten und Zeug*innen-Aussagen offensichtlich, dass die chinesische Regierung in hoher Zahl uigurische Frauen zu Abtreibungen gezwungen und viele zwangssterilisiert hat. Dies hat zu einem starken Geburtenrückgang innerhalb der uigurischen Gemeinschaft geführt. Die chinesische Regierung arbeitet mit diesen grausamen Mitteln daran, dass es weniger Uigur*innen gibt.
Zu e)
Die Kinder der in Lagern oder Gefängnissen eingesperrten Uigur*innen werden hunderttausendfach in staatliche Internate gezwängt, wo sie nur noch Chinesisch lernen und von ihrer Familie und ihrer Kultur entfremdet werden. Damit ist das fünfte Kriterium der Völkermord-Konvention erfüllt.
Vier von fünf Kriterien der Völkermord-Konvention sind also nachweislich erfüllt. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages erstellte auf Anfrage der damaligen Grünen-Abgeordneten Margarete Bause ein Gutachten über den Völkermord-Vorwurf. Es erschien im Mai 2021. Die Frage, ob nur dann von Völkermord gesprochen werden darf, wenn die Mitglieder einer Gemeinschaft in hoher Zahl ermordet werden, verneint es. Begründend zitiert es einen Abschnitt eines Urteils des Bundesgerichtshofes aus dem Jahr 1999 zum Völkermord von Srebrenica:
„...der Tatbestand...[setzt] nicht zwingend voraus, daß der Täter die körperliche Vernichtung, die physische Zerstörung der Gruppe anstrebt. Es reicht aus, daß er handelt, um die Gruppe in ihrer sozialen Existenz („als solche“), als soziale Einheit in ihrer Besonderheit und Eigenart und in ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl zu zerstören.“
Das Gutachten kommt zum selben Schluss wie zahlreiche Expert*innen, die die Lage der Uigur*innen verfolgen: „Unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung deutscher Gerichte lässt sich somit die Auffassung rechtlich gut vertreten, dass an den Uiguren in Xinjiang ein Genozid […] begangen wird.“
Die Folgen Xi Jinpings kolonialer Denkweise
Weiß der chinesische Staat, was er den Uigur*innen antut? Nimmt er die Taten „nur“ in Kauf bei dem Versuch, das uigurische Volk linientreuer zu machen? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt es sich, die Person Xi Jinpings genauer in den Blick zu nehmen.
Als Xi Jinping Generalsekretär der Chinesischen Kommunistischen Partei und Staatspräsident Chinas wurde, betonte er, dass die KP aus dem Schicksal der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow lernen müsse: Eine Öffnung des politischen Systems habe zum Zusammenbruch der Sowjetunion beigetragen. Dies dürfe sich in China nicht wiederholen. Deswegen müsse die Partei dafür sorgen, dass es keinen öffentlichen Dissens gebe. In den folgenden Jahren wurden in China immer mehr Menschenrechtsanwält*innen verhaftet oder verloren ihre Lizenz.
Auch in der Nationalitätenpolitik drängte Xi Jinping auf ein stärkeres Durchsetzen der Parteiinteressen, darauf, dass die KP überall präsent sein und die als rückständig angesehenen Minderheiten wie Tibeter*innen, Mongol*innen, Kasach*innen und vor allem Uigur*innen erziehen müsse. Die Entscheidung, seit 2016/2017 in Ostturkestan massenhaft Umerziehungslager zu errichten und mehr als eine Million Uigur*innen und Kasach*innen einzusperren, egal ob es sich um Bäuer*innen oder Künstler*innen handelte, war Xi zufolge „vollkommen korrekt“. Ohne ihn hätte diese Entscheidung nicht getroffen werden können. Er ist überzeugt davon, dass die uigurische Sprache und Kultur den Vorgaben der Partei angepasst, also zurückgedrängt werden muss.
Für Xi waren die Uigur*innen schon immer chinesisch. Er steht ihnen keine Eigenständigkeit zu. So ist es für ihn folgerichtig, dass auch die Zeugnisse der uigurischen Kultur und Geschichte zu beseitigen sind. Deswegen werden beispielsweise Friedhöfe zerstört und in Parkplätze umgewandelt. Der mächtigste chinesische Politiker seit Mao Zedong ist der Hauptverantwortliche für den Völkermord des chinesischen Staates an den Uigur*innen. Er will, dass es in Zukunft weniger Uigur*innen gibt und diejenigen, die übrigbleiben, tanzend und lächelnd dem Staatsfernsehen vorgeführt werden. Der chinesische Kolonialismus in Form der Kommunistischen Partei, die die Uigur*innen seit Gründung der Volksrepublik China 1949 unterdrückt hat, hat sich unter Xi nochmal radikalisiert.
Eine knappe, aber bittere Niederlage bei den Vereinten Nationen
Nachdem der Report von Michelle Bachelet erschienen war, gab es bei Uigur*innen und Menschenrechtler*innen kurzzeitig große Hoffnungen, dass bekannte Firmen wie Volkswagen sich aus Ostturkestan zurückziehen und es im UN-Menschenrechtsrat in Genf zu einer Diskussion über die chinesischen Verbrechen kommen könnte. Bei der 51. Sitzung, die am 12. September 2022 begann, unternahmen mehrere westliche Staaten, darunter auch Deutschland, den Versuch, für Anfang 2023 eine Debatte über die Verbrechen Chinas an den Uigur*innen herbeizuführen. 17 Staaten, vor allem westliche Demokratien, stimmten am 6. Oktober 2022 für die Resolution, 19 dagegen. Elf Staaten enthielten sich. Abgelehnt.
Zum Entsetzen der Uigur*innen stimmte nur ein muslimisch geprägter Staat, Somalia, für die Resolution. Die chinesische Regierung feierte das Abstimmungsergebnis als „Sieg für Wahrheit und Gerechtigkeit“. Sie hatte bereits den Report von Michelle Bachelets Büro, einen Report der Vereinten Nationen, als „illegal“ bezeichnet. Menschenrechtler*innen von der Gesellschaft für bedrohte Völker mussten miterleben, wie vom chinesischen Staat bezahlte Pseudo-Nichtregierungsorganisationen die Politik der chinesischen Regierung bei Veranstaltungen im Rahmen der UN-Menschenrechtsrats-Sitzung lobten. Das chinesische Staatsfernsehen berichtete ausführlich zurück nach China.
Die chinesische Regierung hat in den vergangenen Jahren auch vermehrt Ausländer*innen für ihre Propaganda gewinnen können. In schön gefilmten Youtube-Videos leugnen sie konsequent die Wahrheit über die Gräueltaten und tun Kritik, gerade aus dem Westen, als von den USA gesteuert ab. In Deutschland sind es ehemalige Politiker*innen wie Gerhard Schröder (ex-Bundeskanzler, Putin-Apologet, SPD), Rudolf Scharping (ex-Verteidigungsminister, SPD) oder aktuelle Mitglieder des Bundestages wie Hans-Peter Friedrich (ehemaliger Innenminister, CSU), die sich nicht explizit zu den chinesischen Verbrechen äußern, aber in ihren Interaktionen mit Vertreter*innen der Kommunistischen Partei immer lobende Worte für die KP finden. Friedrich sagte sogar vergangenes Jahr im Deutschlandfunk, bei China handele es sich um einen Einparteienstaat, aber keine Diktatur.
Was jetzt zu tun ist
Die deutsche Bundesregierung muss weiter gemeinsam mit gleichgesinnten Staaten jede Gelegenheit nutzen, um die chinesischen Verbrechen anzuprangern: auf UN-Ebene, im EU-Verbund, auf G7-Gipfeln. Im Verbund mit anderen Staaten ist dies leichter gegenüber einer Weltmacht. Aber weil der Völkermord weitergeht, in diesem Moment, muss die Regierung entschlossener und deutlicher zeigen, dass sie sich für die Uigur*innen einsetzt. Mehrere Parlamente, darunter das kanadische und niederländische, haben die chinesischen Verbrechen als Völkermord bezeichnet. Die US-amerikanische Regierung unter Joe Biden spricht ebenfalls von Völkermord. Der Deutsche Bundestag und die deutsche Regierung müssen nachziehen.
Bundeskanzler Olaf Scholz plant Anfang November 2022 nach China zu reisen. Er wird auf einen Xi Jinping treffen, der kurz zuvor eine dritte Amtszeit als Chef der Chinesischen Kommunistischen Partei erhalten hat, seine kolonialen Projekte in Ostturkestan, in Tibet und der Inneren Mongolei weiterführen möchte und Taiwan bedroht. Scholz, der als Hamburger Bürgermeister großen Wert auf gute Wirtschaftsbeziehungen mit China gelegt hat, muss jetzt öffentlich ein Ende der Verfolgungspolitik der KP fordern. Bei der UN-Generalversammlung in New York hat er das im September 2022 bereits getan. Jetzt muss er dafür auch bilaterale Treffen nutzen. Die Anliegen der Wirtschaftsdelegationen, die in den vergangenen Jahrzehnten Bundeskanzler*innen nach China begleitet haben, dürfen nicht mehr im Vordergrund stehen.
Wirtschaftsminister Robert Habeck hat bereits Volkswagen, das in Ostturkestan Geschäfte macht und sich weigert, trotz Völkermord und weit verbreiteter Zwangsarbeit die Region zu verlassen, Investitionsgarantien mit der Begründung der Menschenrechtslage verweigert. Scholz muss nun nachziehen und auch in Peking die Schließung der Lager und ein Ende der chinesischen Verbrechen fordern. Die Wirtschaftsvertreter*innen in seiner Delegation würden es nicht gerne hören. Aber die in Ostturkestan Verschwundenen haben ein Recht darauf.
Volkswagen wiederholte in einem Schreiben, das die Gesellschaft für bedrohte Völker als Antwort auf einen gemeinsam mit 98 weiteren Menschenrechtsorganisationen verfassten Brief an den neuen Volkswagen-Chef Oliver Blume erhielt, dass es sich keiner Verfehlungen bewusst sei. Oliver Blumes erster Arbeitstag begann am 1. September 2022, wenige Stunden, nachdem Michelle Bachelet ihren UN-Report veröffentlicht hatte. Dass der Konzern auch unter Blume sein Schweigen zum Völkermord fortsetzen wird, ist keine Überraschung. Eine eindeutige Benennung der Verbrechen in Ostturkestan durch die Regierung würde auch den Druck auf Unternehmen wie Volkswagen erhöhen, ihr Schweigen endlich zu brechen. Was Völkermord ist, muss auch Völkermord genannt werden.
[Der Autor]
Hanno Schedler ist Referent für Genozid-Prävention und Schutzverantwortung bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.
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