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Liebe Leserin, lieber Leser,

zwei-, dreimal schlägt der Vogel mit seinen Flügeln. Dann gleitet er elegant in einem Halbkreis durch die hohe Kuppel des Felsendoms: vorbei an den goldenen, grünen und blauen Schnörkeln, Ranken und Verzierungen. Vorbei an feinster Kalligraphieschrift. Ich stehe unten auf dem Teppichboden, bohre meine Zehen in die Fransen und recke meinen Hals. Ich versuche die Atmosphäre dieses besonderen Ortes aufzunehmen, zu begreifen. Dabei hätte ich Stunden einfach so dastehen können – an einem Ort, der den meisten Menschen verwehrt ist.

Es ist Juni 2022. Ich bin mit einer Gruppe Journalist*innen nach Jerusalem gereist. Irgendwie ist es unserer Reiseleitung gelungen, eine Sondergenehmigung für den Besuch des al-Haram al-Sharif mit dem Felsendom und der al-Aqsa-Moschee von der palästinensischen Verwaltung zu bekommen. In der aktuellen, konfliktreichen Zeit eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Doch wo, wenn nicht in Jerusalem, sind Wunder möglich?

Nach dem Felsendom und der al-Aqsa-Moschee besuchen wir die Westmauer. Hier pulsiert das Leben. Es ist ein krasser Kontrast zu der Ruhe in den Gotteshäusern zuvor – aber nicht weniger beeindruckend. Manche Jüdinnen und Juden sind in innige Gebete vertieft, mit fest verschlossenen Augen zusammengesunken auf einem Stuhl oder mit der Stirn angelehnt an den Stein. Andere unterhalten sich angeregt. Wieder andere singen und tanzen. Der Hauch einer Ahnung beschleicht mich, was dieser Mauerabschnitt und erst der dahinterliegende Tempelberg für das Judentum bedeuten muss. Denn die Mauer ist nur die Alternative. Der heiligste Ort ist das Areal des ehemaligen jüdischen Tempels – auf dem heute al-Aqsa-Moschee und Felsendom stehen.

In jeder Religion gibt es diese ganz besonderen Orte, die Glauben lebendig und erfahrbar machen. Nicht alle sind so konfliktbeladen wie in Jerusalem. Doch sie alle sind grundlegend für die Identität von Gemeinschaften. Sie geben Halt, machen aber auch angreifbar. Für die Yezid*innen ist Lalisch dieser heiligste Ort. Doch durch Angriffe von Islamisten gerät er immer wieder in Gefahr. Die Bahá’í haben ihre heiligsten Orte in der Heimat ihrer Religion, dem Iran, bereits verloren. Das Regime ließ sie zerstören. Jetzt pilgern die Bahá’í nach Israel in die Städte Haifa und Akko. Dort liegen ihre Religionsstifter begraben.

Aber nicht nur die heiligsten Orte sind Ankerpunkte einer Religion. Kirchen, Moscheen und andere Gotteshäuser bringen Gemeinschaften ebenfalls zusammen, verbinden sie mit dem Göttlichen. Wo Gotteshäuser für eine Gemeinschaft nicht möglich sind, geraten sie an die Grenzen ihrer Existenz. Das betrifft besonders kleine Religionsgemeinschaften wie die Mandäer*innen. Ihre Gotteshäuser müssen mit fließendem Wasser verbunden sein, da dieses für ihre spirituellen Rituale unabkömmlich ist. In ihrer Heimat, dem Irak und Iran, stehen ihre Gotteshäuser deswegen an Flüssen. Doch von dort müssen viele Angehörige der Religionsgemeinschaft fliehen. In Europa suchen sie Lösungen für ihre Gotteshäuser, um den Gegebenheiten der neuen Situation gerecht zu werden.

Öffnen Sie mit dieser Ausgabe Türen zu verschiedensten religiösen Orten der Welt und tauchen Sie ein in die jeweilige ganz besondere Faszination, die von ihnen ausgeht.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und alles Gute für das Jahr 2023!

Herzliche Grüße

Johanna Fischotter



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