Der Gipfel des Vulkans Llullaillaco: Der Sonne so nah wie möglich hatten die Inka diesen Ort zur ewigen Ruhestätte der heiligen Kinder bestimmt.  
Foto: Dick Culbert/Flickr CC BY 2.0

Hoch oben auf den Gipfeln der Anden im ewigen Eis ruhten sie: heilige Kinder. Ihre Grabstätten, heilige Orte des Inkareichs, verbanden die Erde mit der Sonne und schützten die umliegenden Gemeinschaften. Archäolog*innen fanden etwa 20 dieser Kindermumien. Seitdem herrscht eine heftige Debatte darüber, wer über ihre letzte Ruhe entscheiden darf – die Wissenschaft oder die indigenen Nachfahren?

Von Regina Sonk

Wikipedia; gemeinfrei
Bearbeitung: studio mediamacs Bozen

Am 04. Januar 1999 macht sich ein 14-köpfiges internationales Expeditionsteam auf den Weg. Sein Ziel ist der Gipfel des Vulkans Llullaillaco im Norden Argentiniens. Auf einer Höhe von 6.730 Metern wollen sie die bis heute höchste archäologische Stätte der Welt erreichen. Dort vermuten sie eine Ritualstätte der Inka mit heiligen Gräbern. Sie finden sie. Die Szenen der Ausgrabung werden per Kamera eingefangen und später vielfach von National Geographic verbreitet und vermarktet. Die US-amerikanische Gesellschaft zur Förderung der Geographie, die ein bekanntes Magazin herausgibt, hatte die Expedition mehrheitlich finanziert. Sie feiert den Fund als spektakulär: Drei 500 Jahre alte Kindermumien bergen die Forscher*innen. Doch diese wirken, als wären sie gerade erst verstorben. Wenig Sauerstoff, trockenes Klima und ewiges Eis haben ihre Körper, Haare und Haut sowie ihre Kleidung vollständig erhalten. Im Schlaf erfroren liegen sie samt Grabbeigaben in ihren Gräbern.

Capacocha

Durch spanische Chronisten von damals und aktuellen forensischen Untersuchungen an den Mumien wissen wir heute viel über das Leben der Kinder und das Opferritual „Capacocha“, bei dem sie ums Leben kamen. Lange hatten Menschenopfer in der sanften Inkaherrschaft als Mythos gegolten. Die Kindermumien sind der Beweis, dass es sie gab.

1500 erstreckte sich das Inkareich vom heutigen Ecuador bis nach Nordargentinien. In dem damals jungen Reich suchte der Inkakönig in den neuen Gebieten besonders schöne Kinder. Sie sollten als Heilige in das Jenseits übersiedeln, an die Seite des Sonnengottes Inti. Deswegen lagen ihre Gräber auf den höchsten Gipfeln der Anden, die nächsten Orte zur Sonne. Für die Inka waren Diesseits und Jenseits miteinander verbunden. Der Tod bedeutete kein Ende, sondern einen Übergang: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren miteinander verbunden. Die Kinder wurden zudem zu Schutzheiligen für die rings um den Vulkan lebende Bevölkerung.

Haarproben der Kinder ergaben, dass sich ihr Leben und ihre Ernährung ein Jahr vor ihrem Tod deutlich veränderten. Anstatt Kartoffeln aßen sie Mais und Fleisch. Sie tranken unter anderem „Chicha“, fermentierten Maiswein. Der spanische Chronist Juan de Betanzos schrieb Mitte des 16. Jahrhunderts vom Capacocha-Fest, das tagelang in der Hauptstadt Cuzco zu Ehren der Auserwählten gefeiert wurde. Nach dem Fest begann die Prozession zu den Ritualstätten, wo die Kinder sterben sollten. In Zeremonien wurden die Kinder mit Chicha und Koka-Blättern betäubt und auch aufgrund von Sauerstoffmangel schliefen sie ein. Danach erfroren sie. Man wickelte sie in Tücher und setzte dem ältesten Mädchen eine Krone aus Federn auf. Das Grab wurde verschlossen – für die Ewigkeit bestimmt.

Bei der Ausgrabung auf dem Llullaillaco handelt es sich nicht um den ersten Fund einer Kindermumie. 1954 wurde „der Junge von El Plomo“ in Chile von Grabplünderern gefunden und an das örtliche Museum verkauft. Viele weitere Grabplünderer machten sich auf die Suche nach heiligen Gräbern. Um ihnen zuvorzukommen, sollte Expeditionsleiter Johan Reinhard, Archäologe des National Geographic, möglichst viele dieser Orte ausfindig machen. Neben den drei „Kindern vom Llullaillaco“ fand er noch elf weitere Gräber und 40 Ritualstätten. Alle Kinder wurden exhumiert und der Forschung zur Verfügung gestellt.

Die Kinder von Llullaillaco (v.l.n.r.): „La Doncella de Llullaillaco“, „El Niño“ und „La Niña del
Rayo“. Wir bilden an dieser Stelle aus Respekt vor den Kindern und ihren Nachfahren keine Fotos ab.
Illustration: © Magdalena Otterstedt/GfbV

2004 wurde für „La Doncella de Llullaillaco“, „El Niño“ und „La Niña del Rayo“, wie die drei Kindermumien vom Llullaillaco getauft wurden, in der Provinzhauptstadt Salta der gleichnamigen nördlichsten Provinz Argentiniens ein eigenes Museum errichtet: das Museo salteño de Arqueología de Alta Montaña (MAAM). Hier sind die „Kinder vom Lullaillaco“ eine Touristenattraktion und werden erforscht. Vor zehn Jahren war ich während meines Auslandsemesters in Argentinien selber vor Ort. Ehrlich gesagt war ich verstört von dieser Ausstellung. Es fühlte sich alles mehr als falsch an: Verstorbene Kinder hinter Glas ausgestellt, in ihre komplett erhaltenen Gesichter zu sehen, herausgeholt aus ihren heiligen Gräbern. Hatten indigene Gemeinschaften zu all‘ dem zugestimmt? Wurden sie überhaupt gefragt?

Ein Mitglied des damaligen Expeditionsteams lässt Johan Reinhard in keinem guten Licht dastehen. „Ich wurde eingeladen, weil ich dort in den Bergen gelebt habe“, berichtet Antonio Mercado in der Radiosendung Cuarto Oscuro des argentinischen Senders FM La Cuerda 104.5 im Juli 2022, „ich schätze, deshalb riefen sie mich an. Denn Llullaillaco ist ein sehr abgelegener und sehr rauer Ort.“ Am Fundort angekommen, habe es heftige Diskussionen gegeben, das Grab zu öffnen. Mehrere Expeditionsteilnehmer seien dagegen gewesen: „Alejandro Lewis sagte: ‚Tu‘s nicht‘, ich sagte: ‚Tu‘s nicht‘, Cristian Vitry sagte: ‚Tu‘s nicht‘. Warum? Weil der Gipfel nicht verändert worden war, im Gegensatz zu den Strukturen eines Friedhofs, der sich weiter unterhalb des Gipfels befand.“ Mercado und weitere fanden, man könne den Ort vor Plünderungen schützen, ohne ihn zu verändern.

Mercado erinnert sich auch an eine andere Szene: „Er [Expeditionsleiter Johan Reinhard] wurde von National Geographic unterstützt, aber gleichzeitig gab es auch andere kleinere Unternehmen, die ihn förderten. Sogar das eines Satellitentelefons, das er beworben hat. Bei diesem Thema gab es auch eine heftige Diskussion, bei der ich ihn fast zu Boden geworfen hätte, weil er keine bessere Idee hatte, als das Telefon so zu platzieren, als ob die Leiche telefonieren würde. Das hat mich sehr wütend gemacht. Es war ein Mangel an Respekt: gegenüber dem Ort, gegenüber den Gemeinschaften, gegenüber allen“, konstatierte er.

Mercado und alle Mitglieder der Expedition mussten später eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnen. Zehn Jahre lang durften sie weder reden, noch etwas veröffentlichen.

Die Debatte hat gerade erst begonnen

Für die Nachfahren der Inka, die umliegenden indigenen Gemeinschaften, ist die Wissenschaft zu weit gegangen. Die Kinder hätten nie aus ihren Gräbern entfernt werden dürfen. Viele gehen noch einen Schritt weiter und führen die Dürren der vergangenen Jahre auf die zerstörten Gräber zurück. Die Ordnung sei gestört worden. Ein dazu von dem Journalisten Damián Carreras interviewter Indigener namens Angel erzählt, dass „in dem Moment, in dem die Kinder aus der Erde geholt wurden, die Wasserprobleme in der Gegend begannen. Und das hat damit zu tun. Warum? Weil sie etwas berührten, was ein Opfer war, das unsere Vorfahren für die Pacha Mama [Mutter Erde] gaben, damit es immer Wasser gab, damit all unsere Brüder trinken konnten.“

Von dem Nationalen Institut für Indigene Angelegenheiten (INAI) gibt es Unterstützung. Im Juli 2022 erklärte es den Fundort auf dem Llullaillaco offiziell zu einer „heiligen Stätte“. Damit entfachte es die Debatte über die Rückgabe der drei „Kinder von Llullaillaco“ neu, die von den indigenen Gemeinschaften schon Jahrzehnte zuvor angestoßen worden war. In ihrer Begründung erinnert die INAI daran, dass zahlreiche indigene Gemeinschaften und Organisationen in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Erklärung der Grabstätten zu heiligen Stätten und die Rückgabe der „Kinder“ gefordert hatten.

Fernando Pepe Tessaro, Verantwortlicher für den Bereich Identifizierung und Rückgabe menschlicher Überreste bei der INAI, erklärte, dass die nationale Einrichtung die indigenen Gemeinschaften begleite und unterstütze. „Es sind die Gemeinschaften, die über ihre Vorfahren entscheiden“, sagte er und fügte hinzu: „Wenn sie der Meinung sind, dass sie unter den Bedingungen der Konservierung in die Gemeinden überführt werden können, werden wir sie begleiten. Und wenn sie beschließen, dass sie an die Spitze dieses so wichtigen heiligen Altars des Llullaillaco zurückkehren sollen, wo sie 500 Jahre lang unter optimalen Bedingungen aufbewahrt wurden, werden wir den Prozess ebenfalls begleiten.“

Beschäftigte des MAAM und der Museums-Direktor Mario Bernaski sehen das anders. Für sie waren die Expeditionen des National Geographic Rettungsaktionen. Bernaski verweist auf illegale Plünderungen und Schändungen im Fall einer weiteren Mumie am Vulkan Quewar einige Jahre zuvor. Für ihn sind die Mumien nationales Eigentum und von besonderem Interesse für die Wissenschaft und Öffentlichkeit. Er findet, die Frage der Rückgabe der Kinder müsse „von der andinen Kosmovision aus“ gedacht werden. „Es ist mehr als eine territoriale Frage. Es ist eine Frage, die alles umfasst, was mit der Geschichte des Inkareichs zu tun hat. Llullaillaco ist ein sehr wichtiger zeremonieller Ort, vielleicht der wichtigste der Inka. Es ist der höchste Punkt, an dem es je ein zeremonielles Zentrum gab“, erklärte Bernaski gegenüber der argentinischen Nachrichtenagentur Télam.

Antonio Mercado ist sich sicher, dass die Provinzregierung von Salta der Forderung nicht nachgeben werde. Er ist auch nicht der Meinung, dass die Kindermumien dorthin zurückkehren sollten, wo sie waren. Zu groß sei die Gefahr, dass die Gräber sofort illegal geplündert würden. Aber: „Ich bin davon überzeugt, dass all‘ dieses Erbe von den Gemeinschaften verwaltet werden muss. Wenn die enormen Mittel, die in dieses Museum fließen, direkt an die Gemeinden gehen würden, wäre das ein Akt der Gerechtigkeit“, schließt Mercado.

Auch Angel, der Indigene, stellt klar: „Es ist uns gegenüber respektlos. Zu keinem Zeitpunkt hat die Regierung die Gemeinschaften konsultiert, ob sie damit einverstanden sind, dass sie sie [die Kinder] dorthin [ins Museum] bringen, dass sie sie aus ihrem Grab holen oder unter welchen Bedingungen sie dort sein werden. Auch nicht, dass sie analysiert würden und ob sie es tun dürfen oder nicht. Ich glaube, dass es weder dem Gouverneur noch dem Präsidenten noch sonst jemandem gefallen würde, wenn jemand die Gräber, in denen ihre Vorfahren ruhen, öffnen würde, sie herausnimmt und sie im Schaufenster zur Schau stellt.“

 

[Die Autorin]
Regina Sonk ist Referentin für indigene Völker bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.

 



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