Die Tempelkuppeln von Lalisch haben eine besondere Architektur, die die Grundzüge verschiedener geometrischer Formen trägt.
Foto: Levi Clancy/ Wikipedia CC BY-SA 4.0
Das Tal Lalisch ist für die Yezid*innen der Ausgangspunkt allen irdischen Lebens. In seinen Tempeln, Brücken und Symbolen spiegelt sich die gesamte yezidische Mythologie. Es ist ihr heiligster Ort – und ist deswegen im Lauf der Geschichte auch immer wieder Angriffsziel der Feind*innen der Yezid*innen gewesen.
Von Mirza Dinnayi
Zwischen drei heiligen Bergen im Norden Irakisch-Kurdistans, 60 Kilometer nordöstlich der Stadt Mossul, befindet sich der wichtigste Tempel der Yezid*innen: der Lalisch Tempel. Das Tal, in dem dieser Tempel liegt, ist ein mystischer Ort, an dem sich die lange Geschichte eines Volks verdichtet – eine Geschichte, die mindestens 5.000 Jahre alt ist, voll von spirituellen und mythologischen Wurzeln. Das Tal ist wunderschön und ruhig: mit alten, heiligen Höhlen; Wasserquellen; vieleckigen, prismenförmigen Tempeln; Bäumen und Olivenhainen, die von Gläubigen ehrenamtlich in religiösen Zeremonien gepflegt werden. Gleichzeitig ist es aber auch ein Tal, das Zeuge von 74 Genoziden an den Yezid*innen geworden ist. In Massengräbern in Hohlräumen unterhalb der Tempel sind zum Beispiel mindestens 1.000 Opfer des Massakers von 1832 versteckt.
Die Wurzeln des Worts „Lalisch“ sind nicht klar. Einige Historiker und Sprachwissenschaftler interpretieren die Bedeutung „Lalisch“ als einen Ort für „Ruhe und Schweigen“ („Lal û Hisch“ auf Kurmancî). Andere denken, dass das Wort „Hefe“ bedeute und aus der yezidischen Philosophie/Mythologie stamme: Nach yezidischer Schöpfungstheorie erschuf Gott das Universum aus einem einzigen Atom mittels einer großen Explosion. In diesem Universum war die Erde am Anfang wie ein Feuerball. Auf diesen schickte Gott den Erzengel Tawisî Melek in Form eines Vogels. Er brachte die Wasserquelle „Kaniya Sipî“ (die „Weiße Wasserquelle“) nach Lalisch. Dank dieser Quelle verfestigte sich der Feuerball und die Erde wurde grün. Es sprossen Pflanzen und Leben. Daher ist Lalisch im übertragenen Sinn die „Hefe“ der Erde. Die heilige Wasserquelle „Kaniya Sipî“ wurde zur Taufquelle. Mit ihrem Wasser sollen sich alle Yezid*innen taufen lassen.
Tempel und Symbole
Die sechs Tempel im Lalisch Tal zeugen von einer außergewöhnlichen Architektur, gerade die kegelförmigen Kuppeln fallen auf. Ihre Wände sind nicht glatt, sondern zackig, sodass der Grundriss der Kuppeln einem vieleckigen Stern gleicht. Die Kuppeln thronen auf kurzen, prismenförmigen Türmen, die wiederum auf quaderförmigen Gebäuden stehen.
Die ersten drei Tempel sind auf der Haupttempelanlage gebaut. Auf dieser befinden sich das Grab von Sheikh Adi, dem Reformer der yezidischen Religion im 11. Jahrhundert, und die Höhlen des „Çile-Xane“, „Berê Şibakê“ und die Höhle mit der „Zimzim“-Wasserquelle. Im anderen Teil des Tals befinden sich drei weitere Tempel. Einer steht über der Tauf-Wasserquelle „Kaniya Sipî“, die anderen beiden sind der Tempel von „Sêdera Şêşms“ (Engel der Sonne) und der Tempel „Xefûrê Riya“ (Schutzengel der Reisen/Routen).
Gewöhnlich haben die Prismen der Tempel entweder 24, 12 oder 7 Ecken. Auf der Spitze der Kuppeln prangen Bronzestatuen, die mit Gold verkleidet sind. Die Statuen haben entweder die Form einer Sonne, drei aufeinanderliegender Kugeln oder Teilen eines Vogels. Sie sind mit farbigen Stoffstücken behängt, die „Peri“ genannt werden.
Außerdem gibt es in Lalisch weitere 365 heilige Symbole oder Standorte, an denen jeden Dienstagabend (nach yezidischem Kalender Mittwoch) besondere Öl-Kerzen angezündet werden. Auch die Bäume in Lalisch sind heilig, dürfen nicht geschnitten werden und haben bestimmte Namen. Ein besonderer yezidischer Clan, die sogenannten „Xilmetkaran“ (die Diener) kümmern sich seit Jahrhunderten freiwillig um die Bäume. Während bestimmter ritueller Feierlichkeiten werden die Bäume gepflegt, Oliven geerntet und Olivenöl für die Kerzen hergestellt. Ebenso sorgen die „Xilmetkaran“ für die Sauberkeit der Tempel und des gesamten Tals.
In Lalisch werden auch kleine, heilige Bälle („Barata“) hergestellt. Diese „Barata“ bestehen aus der Erde des heiligen Bergs Lalisch und werden in vielen religiösen Zeremonien benutzt. Beispielsweise tauschen zwei zerstrittene Familien zur Versöhnung ihre „Barata“ und werden so wieder zu Geschwistern. Ebenso werden die „Barata“ für die Zeremonien zur Auswahl der Jenseitsschwester oder des Jenseitsbruders benutzt. (Der heilige Schutzpatron der Jenseitsschwester oder des Jenseitsbruders trägt im Jenseits die moralische Mitverantwortung für die Taten des anderen. Die Auswahl eines Jenseitsbruders oder einer -schwester ist für alle Yezid*innen eine religiöse Pflicht. Es spielt keine Rolle, ob eine weibliche oder männliche Person gewählt wird.)
Pilgerfahrt, Glauben, Mythologie
Die Pilgerwoche der Yeziden nach Lalisch findet jedes Jahr vom 6. bis 13. Oktober statt. Diese Woche und alle anderen yezidischen Feiertage sind mit unterschiedlichen Naturphänomenen verbunden: mit Jahreszeitenwechseln, landwirtschaftlichen Abfolgen, Sonnen- oder Mondphänomenen. In jeder Saison haben die Yeziden Feiertage.
Aber Lalisch ist für die Yeziden nicht nur der heiligste Ort der Erde, sondern ist auch mythologisch ein Duplikat von Himmelssymbolen und -gericht. Am Haupteingang zum Tal befinden sich die heiligen Symbole des Himmelsgerichts, vor dem jeder Mensch nach dem Tod befragt wird. Außerdem steht dort die „Ewigkeitsbrücke“ (Pira Enzel). Der steilste Teil des Tals fällt östlich des Haupttempels ab. Er wird „Newala Wawaylê“ genannt. Dort finden sich die gefallenen Seelen nach dem Tod ein. Eine Reinkarnation und göttliche Gnade sind zwar ein fester Teil des yezidischen Glaubens, aber dennoch wird eine Seele erstmal geprüft, bevor Gott entscheidet, in welchem neuen Körper sie zurückkehren wird.
In die Steine über dem Eingangsportal des Haupttempels ist eine Ikone aus dem dritten Jahrtausend vor Christus eingemeißelt: ein Taus-Symbol aus zwei Löwen und zwei Pfauenvögeln. Das Taus ist das Symbol der Engel. Neben dem Haupteingang befindet sich eine Abbildung der schwarzen Schlange – als Symbol der Ewigkeit; eine Abbildung von Krücken des „Babascheikh“ – als Symbol der Weisheit; sowie Ikonen der Sonne – als Symbol des Glaubens und der Reinheit; Kreise – als Symbol der göttlichen Würde; und Sterne – als weitere Symbole der Engel.
Geschichte und Genozide
Die Abbildung über dem Eingang und verschiedene andere Symbole in Lalisch zeigen, dass die Geschichte des Orts etwa 5.000 bis 6.000 Jahre alt ist. Zu Anfangszeiten muss es ein heiliger Ort für Sonnen-Gläubige wie Mithraiten und andere Kulte gewesen sein. Eine nicht-verifizierte Geschichte besagt, dass es kurz vor dem Eintreffen von Sheikh Adi (11. Jh.) ein christliches Kloster gewesen sein könnte. Hierfür fehlen jedoch Beweise. Die historischen Indizien deuten eher darauf hin, dass der Tempel seit mehreren Tausend Jahren ausschließlich von Sonnengläubigen als mystischer Ort angesehen wurde. Sheikh Adi führte von Lalisch aus die großen Reformen des Yezidentums durch, weshalb es als Hauptort der religiösen Führung immer wichtiger wurde.
Lalisch wurde, wie die Yeziden selbst, oft Opfer von islamischen Extremisten. Die Angriffe verstärkten sich im Laufe der Geschichte. Oft wurden die Tempel in Brand gesteckt – auch die sterblichen Überreste des Sheikh Adi. Die Yeziden wurden häufig aus Lalisch vertrieben und der Tempel von den muslimischen Nachbardörfern zur islamischen Schule umfunktioniert. Dies geschah zuletzt 1896, als der ottomanische General Omar Wahbi Pasha einen Genozid an Yeziden verübte und Lalisch und alle heiligen Symbolen beschlagnahmte.
Im Jahr 2014 fielen mehr als 80 yezidische Tempel in den Hauptsiedlungsgebieten der Yeziden, Sinjar und Bashiqa, dem sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) zum Opfer. Die Terroristen zündeten sie an und zerstörten alles yezidische. Da die islamistische Terrororganisation Irakisch-Kurdistan jedoch nicht vollständig erobern konnte, war der Lalisch Tempel eines der wenigen yezidischen Gotteshäuser, das von den Attacken verschont blieb.
[Der Autor]
Mirza Dinnayi ist yezidischer Aktivist und Menschenrechtler. Er ist Träger des „Aurora Prize for Awakening Humanity“ 2019 und ist Vorsitzender der humanitären Hilfsorganisation Luftbrücke Irak e. V. und Gründer von House of Coexistence in Sinjar.
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