In Istanbul feierte Nizamettin Ariç einen Erfolg nach dem anderen – bis er in Ungnade der türkischen Regierung fiel.
Foto: Derrick Brutel/Flickr CC BY-SA 2.0

Ein perfider Plan sollte alles Kurdische für immer aus der Türkei verbannen. Dafür instrumentalisierte die türkische Regierung auch unseren Autor, den Sänger, Regisseur und Maler Nizamettin Ariç. Doch ein lebensveränderndes Konzert brachte schließlich das wahre Gesicht des Staates zum Vorschein.

Von Nizamettin Ariç

Der Künstler und Autor dieses Textes Nizamettin Ariç
Foto: © Nizamettin Ariç

Mein Bruder Cemal ist sechs Jahre älter als ich. Er war in den 1960er und 70er Jahren einer der attraktivsten jungen Menschen von Ağrı/Ararat. Er hatte ein Bağlama-Saiteninstrument in unserem Haus, und immer, wenn er sich mit seinen Freunden traf, um gemeinsam Musik zu machen und sich darüber zu unterhalten, war ich dabei. Die Lieder waren auf Kurdisch und Türkisch. Mein Bruder war mein Idol. Wenn er nicht zu Hause war, holte ich sein Instrument von der Wand und versuchte, es zu spielen wie er. Danach war es jedes Mal verstimmt. Mein Bruder wusste, dass ich es vermasselt hatte. Manchmal wurde er wütend, manchmal lachte er und stimmte es neu. Unter meinen Verwandten waren auch Dengbêj, also kurdische Barden. Kurz gesagt: Musik nahm einen wichtigen Platz in meinem familiären Umfeld ein. 

Jeden Tag spielte der Eriwaner Radiosender aus der Sowjetunion ein kurdisches Programm. Ich stand vor dem Radio und wartete ungeduldig darauf, dass es anfing. Während des Programms hörten wir zusammen mit den Ältesten aufmerksam und gebannt zu. Die magische Wirkung von Kurdisch und Musik auf uns, in der Tiefe unserer Herzen, und die Atmosphäre in diesem Moment waren zu schön, um sie in Worte zu fassen. Ich versuchte, die im Radio gesungenen Lieder auswendig zu lernen und sie wie die Kurden von Eriwan zu singen. 

 

Das Kind mit der Engelsstimme

In meiner Grundschule ließ mich mein Klassenlehrer fast jeden Tag singen. Aber der Lehrer hatte ein Problem mit mir: Er mochte meine Stimme, aber er störte sich an meiner Aussprache. Meine Türkischkenntnisse waren nicht gut und ich hatte einen kurdischen Akzent. Besonders im Türkischunterricht drangsalierte er mich, rief mich an die Tafel und stellte Fragen. Mit einem Lineal schlug er mir auf meine Fingerspitzen, weil ich Wörter nicht wie ein Türke aussprechen konnte – oder er riss mir an den Ohren und drehte sie um. Tagelang schmerzten meine Ohren und Finger.

Doch entgegen der schlechten Erfahrungen in der Schule liebten mich meine Mitbürger von Ağrı. Die Gerüchte um die Schönheit meiner Stimme verbreiteten sich mit jedem Tag in der Stadt. Ich wurde zu einer unverzichtbaren Zierde aller Arten kultureller Aktivitäten – fast wie Ağrıs stimmhaftes Kindermaskottchen. Schließlich erreichte die Nachricht meiner guten Stimme sogar die Verantwortlichen von Radio Erzurum. Sie schickten ihre Mitarbeiter nach Ağrı, um meine Stimme aufzunehmen. 

Mit der Erlaubnis meiner Familie trafen wir uns in einem Hotelzimmer. Ich saß vor dem Tonbandgerät und dem Mikrofon am Tisch. Während ich neugierig die Instrumente betrachtete, sagte der Tonmeister mit einem väterlichen Lächeln zu mir: „Wir haben diese Instrumente den ganzen Weg von Erzurum mitgebracht, um deine Stimme aufzunehmen. Jetzt singe uns die Volkslieder vor, die du kennst. Ich nehme sie auf, dann darfst du sie auch selber hören. Du wirst sehen, wie schön es wird.“

 

Foto: Wikipedia; gemeinfrei
Bearbeitung: studio mediamacs Bozen

Ich fing an zu singen. Aber gleichzeitig starrte ich auf das Mikrofon vor mir und das Instrument, auf dem sich das Spulenband drehte. Ich fühlte mich wie in einer magischen Umgebung, war fasziniert und abgelenkt. Der Mann stoppte das Band, als er die Aufregung und das Zittern in meiner Stimme hörte. Diesmal sagte er mit Kälte in der Stimme: „Reg dich nicht auf, Junge, es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest. Sing einfach frei.“ Ich setzte erneut an, tauchte ein in die Musik, ließ mich frei. Meine helle, emotionale, klare Stimme, wie die Stimme eines Engels, füllte das Hotelzimmer. Sie hörten mir gerne zu. 

Zuerst sang ich Lieder wie „Konma bülbül konma nergis dalına“ (dt.: Lande nicht auf dem Narzissenzweig), „Ağrı Dağın’dan uçtum“ (dt.: Ich flog vom Berg Ararat) und „Makaram sari bağlar“ (dt.: Meine Spule knüpft gelb). Diese Lieder wurden aus dem Kurdischen gestohlen und ins Türkische übersetzt. Sie waren bekannte und beliebte Lieder in der Türkei, weil sie als türkische Volksmusik in das TRT-Musikrepertoire aufgenommen worden waren und in den Radios liefen (TRT ist die Abkürzung für die öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft der Türkei. Anm. d. Red.). Dann baten sie mich, auf Kurdisch zu singen.

Ich habe fast alle kurdischen Lieder unserer Region gesungen. Diese Erfahrung wird mir für immer in Erinnerung bleiben – obwohl ich die Aufnahmen nie anhören durfte. Es war ein gutes Gefühl für einen 11-Jährigen, von einem Radiosender aufgenommen zu werden. Aber ich wusste damals nicht, dass der Staat einen Plan namens „Reform-Plan für den Osten“ verfolgte, um die kurdische Sprache und Kultur zu stehlen. Ziel war die Assimilation meines Volkes. Zu diesem Zweck sammelten sie Lieder von Kurden wie mir. 

 

Ein Plan zur Verdrängung des Kurdischen

Tatsächlich hatten bereits Mustafa Kemal Atatürk, Ismet Inönü und ihre Verbündeten am 24. September 1925 einen geheimen Plan namens „Oriental Reform Plan“ (Şark İslahat Planı) vorbereitet. Punkte von diesem waren unter anderem: die Demografie in Kurdistan zu ändern; Strafen für das Sprechen von Kurdisch zu verhängen; insbesondere kurdische Mädchen in Internaten zu sammeln und zu assimilieren; Kurden insgesamt zu assimilieren; kurdische Lieder zu sammeln und ihre Texte durch türkische zu ersetzen, diese in Radios und im sozialen Leben zu verbreiten; die Systematisierung dieses kulturellen Diebstahls zu fördern und die Realisierung durch finanzielle Mittel zu ermöglichen. Doch von all‘ dem wusste ich damals noch nichts.

Der Staat mobilisierte alle seine Ressourcen und Energie, um die Sprache und Kultur von uns Kurden zu zerstören. Die für die Assimilationspläne erforderlichen Radiosender wurden zwischen 1940 und 1950 in allen Regionen der Türkei gegründet. Ab 1937 bis in die 1970er Jahre trugen staatlich speziell ausgebildete Musik- und Folkloreforscher wie Muzaffer Sarısözen unter der Kontrolle des Ministeriums für Nationale Bildung in vielen Regionen der Türkei Musikstücke zusammen. Nach den 1970er Jahren änderte der Staat seine Assimilationsmethode. Ich erlebte dies hautnah mit.

Aufgrund wirtschaftlicher Probleme meiner Familie mussten wir von Ağrı nach Ankara ziehen. Während meiner Sekundarschulausbildung suchte ich nach einer Institution, an der ich mich musikalisch betätigen und etwas lernen konnte. Ich sparte Geld und kaufte mir ein Bağlama, spielte jeden Tag stundenlang und entwickelte meine Fingertechnik. Ich bewarb mich an der von Atatürk gegründeten Zentrale der Volkshäuser in Ankara, an der es Chor- und Folkloreaktivitäten gab, die als reine kemalistische Ideologie gelten, und wurde angenommen.

In meiner zweiten Woche dort machte mich der Chorleiter zu einem der Solisten. Nach sechs Monaten war ich der beste Solist des Chores. Außerdem wurde ich Lehrer und gab Bağlama-Unterricht in den Volkshäusern. Die Konzerte, die ich mit dem Chor gab, und die Schönheit meiner Stimme erregten die Aufmerksamkeit von Plattenfirmen und des Radiosenders Ankara. Nida Tüfekçi, der damalige Leiter der Volksmusikabteilung, lud mich zum Radiosender Ankara ein. Unser Chorleiter und meine Freunde sagten, dies sei eine große Chance für mich, und sie gratulierten und ermutigten mich. Am wichtigsten für mich aber war, dass meine Familie sehr glücklich war. Sie sahen, dass Musik für mich wichtiger ist als alles andere, und sie waren stolz auf mich.

Ich traf Nida Tüfekçi im Sender. Er saß unter einem großen Atatürk-Gemälde. Der Raum war komplett mit Musikinstrumenten gefüllt. Mein Blick fiel auf das Tonbandgerät auf dem Beistelltisch. Es war das gleiche Werkzeug, das ich in Ağrı gesehen hatte. Ich sang ein Lied, das in Ağrı populär geworden war. Tüfekçi wollte mich als lokalen Künstler vermarkten. „Ich möchte, dass du neue Lieder singst, die noch niemand gesungen hat“, forderte Tüfekçi von mir. „Was soll ich ausschließlich mit Liedern, die schon von anderen gesungen wurden? Komm morgen um 10 Uhr wieder. Sei bereit.“ Ich antwortete: „Okay Meister, ich werde bereit sein“, stand auf, schüttelte Hände und ging respektvoll.

Als ich vom Radio zum Sıhhiye-Platz in Ankara ging, fühlte ich ein seltsames Gewicht, anstatt mich über meine erste Radiosendung zu freuen. Die Stimme von Tüfekçi in meinem Kopf sagte immer wieder: Du musst ein neues Lied mitbringen… Woher sollte ich ein neues Lied bekommen? Diese Frage ließ mich in Gedanken nicht los… 

Am nächsten Tag war ich pünktlich im Aufnahmestudio des Ankara-Radios. Ich gab den Musikern nacheinander die Hand. Ich kannte noch nichts, war fremd im Studio, wusste nicht, was ich tun oder wo ich stehen sollte. Ich war aufgeregt. Während die Musiker ihre Instrumente stimmten, betrat Tüfekçi das Studio. Alle Musiker standen auf und verbeugten sich. Dann ging es los. Als die Aufnahme begann, vergaß ich die Zeit und sogar meine Aufregung. Ich verstand, dass Singen in Gesellschaft professioneller Musiker noch besser möglich war. Nach zehn Minuten waren wir mit der Aufnahme und der Arbeit fertig. Alle waren sehr zufrieden, lobten mich und gratulierten mir. 

Tüfekçi machte sich Notizen. Ohne großartig aufzublicken, sagte er zu mir: „Ich will die nächsten Aufnahmen mit deinen Liedern machen.“ Er muss gespürt haben, dass ich das Thema nicht ganz verstanden hatte, denn jetzt wandte er sich mir ganz zu: „Schau, mein Sohn, geh in deine Heimatstadt Ağrı und mache Aufnahmen. Bring mir die dort gesungenen kurdischen Lieder, aber übersetz die Worte ins Türkische. Oder schreib deine eigenen Texte. Bring mir die Melodien mit türkischen Wörtern, verstehst du?“ Ich verstand, schüttelte Hände und verließ das Radio. 

 

Neue Hits aus alten Liedern

Als ich nach Hause kam, fragten mich alle, wie die Radioaufnahme gelaufen war und wann sie sie hören könnten. Ich verheimlichte meiner Familie, dass der Sender kurdische Lieder von mir haben wollte – mit türkischem Text. Ich überlegte, wie ich diesen Job umsetzen könnte. Zuerst fing ich an, mir zu Hause kurdische Kassetten anzuhören. Fast alle waren Dengbêj-Bänder und nicht für das türkische Radio geeignet. Leichtere, rhythmische und kürzere Songs waren gefragt. Ich dachte an die kurdischen Lieder, die wir im Radio von Eriwan hörten, und an unsere Halay-Lieder (Tanz-Lieder) in Ağrı. Diese unsere Lieder waren genau solche, wie Tüfekçi sie suchte. 

Ich hatte eine Idee davon, wie ein neuer Song entstehen könnte. Aber wie sollte ich den Text des Liedes schreiben? Ich hatte bis dahin nicht einmal ein Gedicht mit zwei Sätzen für das Mädchen schreiben können, das ich liebte – und dann auch noch auf Türkisch? Mit einem kleinen Notizbuch und einem Stift in der Hand versuchte ich, die kurdischen Liedtexte ins Türkische zu übersetzen. Doch die inhaltliche Bedeutung passte nicht mit der melodisch-rhythmischen Struktur zusammen. Ich erkannte, dass es Texte erforderte, die frei waren von den ursprünglichen Formulierungen. Kurzum: Ich schrieb die Zeilen, die mir in den Sinn kamen, ob sie mit dem ursprünglichen Liedinhalt übereinstimmten oder nicht.

Sechs Monaten suchte ich nach Wörtern. Ich hatte einige Verse selbst geschrieben, andere in alten Liedern und Büchern gefunden. Ich habe sie mit kurdischer Musik kombiniert und bekam endlich meine eigenen Lieder. Zwei bis drei aserbaidschanische Lieder, die bis dahin in der Türkei unbekannt waren, vervollständigten mein Repertoire. Die Plattenfirma Göksoy mochte meine Werke und wir begannen sofort mit der Aufnahmephase der Musik im Studio. 

Ich war mir sicher, dass mir sowohl meine Stimme als auch diese Werke, die ich der kurdischen Musik entnommen und mir zu eigen gemacht hatte, in der Türkei alle Türen öffnen würden. Tatsächlich war mein erstes Album namens „Telli Sazım“ (dt.: mein Saiteninstrument) sehr erfolgreich. Nachrichten und Interviews jagten sich in den Zeitungen. Ich wurde gebeten, ein neues Album vorzubereiten. Mir wurden Kinofilme angeboten. Ich fing an, Fernsehsendungen zu machen. Junge, schöne Mädchen um mich herum konkurrierten um meine Aufmerksamkeit. Es begann ein sehr intensiver, bunter Lebensrhythmus. 

Nida Tüfekçi und ich waren jetzt so eng wie zwei Freunde. Er hing abends mit mir rum und tat alles, um einer der Frauen um mich herum nahe zu kommen. Dann ging ich zum ersten Mal nach Istanbul. Ich hatte ein Angebot bekommen, eine Hauptrolle in einem Spielfilm zu übernehmen. Es klappte letztendlich nicht mit dem Filmprojekt. Aber ich begann, jeden Abend in den besten Musikcasinos der Türkei zu arbeiten und Programme zu machen. Mein königliches Leben begann in einem 5-Zimmer-Haus mit Bosporus-Blick in Gümüşsuyu, dessen rückwärtiger Balkon auf den Garten des deutschen Konsulats blickte. Istanbul war eine andere Welt und nun wusste ich, wie man nach den Spielregeln spielt. 

Mein zweites Album, „Ben yetim“ (dt.: Ich bin eine Waise), erstellte ich nach dem gleichen Muster wie das erste: kurdische Musik jedoch mit türkischen Texten. Wieder machte es großen Eindruck und steigerte meinen Ruf. Danach drehte ich meinen ersten Spielfilm „Die Story von einem Tag – Der Morgen“. Dann kam mein zweiter Film „Ich bin ein Opfer“. Ich unterschrieb einen Vertrag über fünf Filme mit einer Filmgesellschaft. Jetzt war ich ein gefragter Künstler, der in der ganzen Türkei bekannt war. Fast überall, in der Musikszene, im Fernsehen, im Radio, im Kino und in Zeitschriften, war ich präsent.

 

Ein Wendepunkt, der das Leben veränderte

Das ging eine Weile so, bis ich zum ersten Mal seit Jahren gebeten wurde, in meiner Heimatstadt Ağrı ein Konzert zu geben. Wir schreiben das Jahr 1979, 15. April. Die sogenannten Sozialdemokraten waren an der Macht. Bülent Ecevit regierte das Land. Yüksel Cakmur, der Jugend- und Sportminister der Regierung, und eine große Zahl weiterer Bürokraten aus Ankara nahmen an dem Konzert teil. Als Kind habe ich immer auf der Straße unsere Lieder auf Kurdisch gesungen. Jetzt spielte ich sie zwei Stunden lang auf der großen Bühne auf Türkisch. 

Aber meine Mitbürger von Ağrı forderten mich eindringlich auf, Kurdisch zu singen. Als die Rufe nach „Kurdî, kurdî, kurdî“ die ganze Halle erschütterten, konnte ich nicht widerstehen: Ich begann, das kurdische Lied „Ehmedo ronî“ zu singen. Dieses Liebeslied, in unserer Muttersprache Kurdisch gesungen, veränderte die Atmosphäre im Saal. Sie verwandelte sich in eine Flut von Liebe und Aufregung. Hüte und Jacken flogen an die Decke, vor Freude. Dieser Moment war der glücklichste meines Lebens. 

Der Minister und die vorne sitzenden Bürokraten empfanden offenbar das Gegenteil. Als ich sie ansah, spiegelte sich in ihren Gesichtern Zorn und Unbehagen. Sie redeten miteinander. Kurze Zeit später stürmten Soldaten, Polizisten und Gendarmerie die Halle. Mitten im Lied musste ich abbrechen. Die Polizei wartete hinter der Bühne bereits auf mich. Alles entwickelte sich sehr schnell. Sie legten mir Handschellen an und brachten mich zur Polizeiwache. 

Einige meiner Landsleute aus der Halle kamen uns nach. Auf dem Weg zum Polizeirevier ließen sie mich nicht allein. Am nächsten Tag wurde ich von der Wache ins Ağrı-Gefängnis verlegt und dort erneut vernommen. Danach ließen sie mich frei. Doch seit diesem Tag zeigte mir die Republik Türkei ihr wahres Gesicht – weil ich das Spiel verdorben hatte. Ich hatte etwas getan, was ich nach Willen der Regierung niemals hätte tun sollen: Ich hatte auf Kurdisch gesungen. Der Staat setzte mich auf seine rote Liste. Ich wurde von Radio und Fernsehen suspendiert. Mein Haus wurde zweimal vom Geheimdienst MIT durchsucht. Meine bereits aufgenommenen Programme wurden abgesagt. Die Casinos, für die ich arbeitete, feuerten mich. 

Schließlich wurde gegen mich Anklage erhoben. Der Antrag der Staatsanwaltschaft forderte eine Gefängnisstrafe von fünf bis 15 Jahren für die angeblichen Verbrechen des Verstoßes gegen Atatürks Prinzipien, der Spaltung der Republik Türkei, der kommunistischen Propaganda und des Separatismus. Wie konnte dieser Staat mich einsperren wollen, obwohl ich keine politischen oder sonstigen Hintergedanken gehabt hatte? Ich suchte in meinem Kopf nach einer Antwort auf diese Frage. Ich bin sicher, wenn ich statt Kurdisch Englisch, Italienisch oder Deutsch gesungen hätte, wäre nichts passiert. Aber jetzt hatte der Staat bei mir einen Nerv getroffen. Wenn er sich an meinem Kurdentum stört, würde ich es weiter nach außen tragen – solange ich lebe. 

 

Aufstehen nach dem Sturz

Am 12. September 1980 putschte in der Türkei das Militär. Mein Bewegungsspielraum war jetzt komplett eingeschränkt. Mit Hilfe mir bekannter Politiker überquerte ich zusammen mit einer Gruppe von Leuten der türkischen Linken die Minen und schwierigen Straßen bis nach Kobanî im syrischen Kurdistan. Meine Welt brach in dieser Zeit zusammen, ich hatte Angst vor der Zukunft und ich war getrennt von meiner Familie. Doch die ersten zwei Wochen meines Exils in einem anderen Teil meines Landes Kurdistan, unter meinen Leuten, ihrer Hilfe und Gastfreundschaft, linderten den Schmerz meiner schlaflosen Nächte und gaben mir eine großartige Moral. 

Ich begann sofort mit Arbeiten für eine neue Aufnahme in Kobanî. Ich traf die Künstler und Dichter der Region und nahm ihre Musik und Gedichte auf. Von dort ging ich weiter in die syrische Hauptstadt Damaskus. Nach einer Weile kehrte ich nach Kurdistan zurück, in die Dörfer von Afrîn. Ich lernte die wunderbare Geographie von Afrîn, die Olivenbäume und den warmen und sauberen Geist unseres Volkes kennen. Und ich nahm die Lieder der Menschen auf. (Jahre später teilte ich einige dieser Aufnahmen auf meinem YouTube-Kanal). Das Kennenlernen der Kurden von Afrîn, der Folklore und der Lieder von Aleppo war ein Prozess, der mich sehr glücklich gemacht hat. Kurze Zeit später kam ich nach Deutschland und lebte als Flüchtling im von Mauern umgebenen West-Berlin. 

43 Jahre sind seither vergangen. Auf meinen Alben und Konzerten singe ich weiterhin einige unserer aus dem Kurdischen gestohlenen Lieder in ihrer ursprünglichen Form. Damit enthülle ich weiterhin den unmenschlichen kulturellen Diebstahl und die Feindseligkeit des türkischen Staates gegenüber den Kurden. Auch drehe ich weiterhin Filme und male Bilder, die dieses Unrecht ausdrücken. 

Kulturraub wird nicht nur von staatlichen Institutionen begangen, sondern auch von Intellektuellen in der Türkei. Einer von ihnen ist der türkische Komponist, Sänger, Schriftsteller und Filmregisseur Zülfü Livaneli. Das Lied, das er gestohlen hat, ohne auch nur eine Note zu ändern, heißt „Keleşo“. Es ist ein sehr beliebtes und viel gesungenes Lied in Kurdistan. Es ist auch eines der Lieder, die ich den Mitarbeitern vom Erzurum-Radio vorgesungen habe, als ich 11 Jahre alt war. Ich bot Livaneli an, das Original unseres Liedes auf Kurdisch zu singen. Er lehnte ab.

Wir schreiben nun das Jahr 2023. Der Kulturraub geht auf Hochtouren weiter. Solange der Status Kurdistans ungerecht und rechtswidrig geteilt ist und die Welt diese Situation toleriert, wird uns Kurden weiterhin alles gestohlen, geplündert und zerstört werden. Es ist ein großes Unrecht... 

 

[Der Autor]
Nizamettin Ariç ist kurdischer Sänger und Filmregisseur. Er lebt in Berlin und schrieb diesen Artikel im Januar 2023. 



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