Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o plädiert dafür, dass afrikanische Autor*innen in ihren Erstsprachen und nicht Englisch, Französisch oder sonst einer kolonialen Sprache publizieren sollen.
Foto: Shawn Miller/Library of Congress/Flickr gemeinfrei

Zwischen verschiedenen Sprachen besteht nach wie vor ein Machtverhältnis, das kolonial bedingt ist. Diese Kluft müssen wir überwinden. Ein Plädoyer für Sprachenpluralismus und die Entkolonialisierung von Sprache(n)

Von Nadja Grossenbacher

N’ko ist ein Schriftsystem, das 1949 von Souleymane Kanté entwickelt wurde. Es wird von rechts nach links geschrieben und zum Beispiel für die Sprache Maninka verwendet.
Foto: © Screenshot Wikipedia, Eintrag N’ko

Wer kennt sie nicht, diese unterbewusste Erwartungshaltung, wenn wir als Europäer*in in ein Land im Globalen Süden reisen und uns denken: „Ach, mit Englisch, Französisch oder Spanisch werde ich vor Ort schon durchkommen.“ Bei all‘ der Selbstverständlichkeit vergessen wir vielleicht manchmal uns zu fragen, warum das eigentlich so ist. Gleichzeitig denken wir meist nicht darüber nach, dass wir selbst kaum ein Wort Bambara, Damara, Fula, Hausa, Kikuyu, Lingala, Maninka oder sonst eine „afrikanische“ Sprache sprechen. Von unserem Gegenüber erwarten wir währenddessen, mindestens einer „europäischen“ – um nicht zu sagen kolonialen – Sprache mächtig zu sein. In vielen Fällen trifft das dann auch zu und wir erhalten Bestätigung für unseren verzerrten Glaubenssatz. Aber ist das fair? Und warum werden Menschen, die mehrere (Ex-)Kolonialsprachen sprechen, gefühlt mehr gewürdigt als jene, die sieben verschiedene Sprachen beherrschen, von denen vielleicht sechs lokale „afrikanische“ Sprachen sind?

Wie kommt es nun aber überhaupt zu einem Machtverhältnis zwischen Sprachen? Warum sollte Sprachen wie Englisch und Französisch mehr Wert zugesprochen werden als Sprachen wie Damara oder Kikuyu? Zumindest den afrikanischen Kontinent betreffend sind die Gründe höchstwahrscheinlich mitunter in der kolonialen Vergangenheit zu suchen, die das global vorherrschende Gedankenbild bis heute zu prägen scheint. Was eine einzelne individuelle Überlegung sein mag, scheint jedoch bei genauerem Hinblick System zu haben. Ein System, das geschaffen wurde, um die Unterdrückung von Menschen vermeintlich zu rechtfertigen. Dieses System sorgt dafür, dass ein Machtgefüge aufrechterhalten wird, das auf einem Narrativ basiert: Die (Ex-)Kolonialmächte wären den in anderen Teilen der Welt lebenden Menschen „übergestellt“. Auch Sprache – oder vielmehr die Wertung zwischen Sprachen – ist die Verkörperung eines von vielen Dingen, die als Machtinstrument missbraucht werden, um das dem Kolonialismus entspringende Machtgefälle aufrechtzuerhalten.

Stellen Sie sich vor, Sie wären an ihrem ersten Schultag nicht in Ihrer bisherigen Erstsprache, sondern in Ihrer Zweit-, Dritt- oder sogar einer für Sie gänzlichen Fremdsprache unterrichtet worden. Und dies hätte über ihre gesamte Schulkarriere angedauert. Der Einstieg ebenso wie das Weiterarbeiten wäre vielleicht eine große Hürde für Sie gewesen.

Dies ist und war die Realität für viele Schüler*innen, die nie die Möglichkeit hatten, in ihren Erstsprachen unterrichtet zu werden. In diversen afrikanischen Ländern ist es gang und gäbe, dass der Unterricht in den jeweiligen Kolonialsprachen stattfindet. Wie soll eine Person, die in einer Fremdsprache unterrichtet wird, inhaltlich dieselben Leistungen erzielen wie eine Person, die ihre ganze Schulkarriere hindurch in ihrer Erstsprache unterrichtet wird? Es scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, das dennoch von Vielen erreicht wird.

Um in dieser Hinsicht mehr Chancengleichheit zu schaffen, wird wohl vereinzelt dafür plädiert, beispielsweise in Tansania oder Kenia Kiswahili als führende Unterrichtssprache auf allen Schul- und Universitätsstufen zu etablieren und so einen dekolonialisierenden Effekt hervorzurufen. Dennoch wären jene, die Kiswahili nicht als Erstsprache sprechen, nach wie vor benachteiligt; ganz davon abgesehen, dass sich die Kontinuitäten des Sprachgebrauchs auf dem afrikanischen Kontinent eben nicht an die vom Westen gezogenen kolonialen Ländergrenzen halten.

Sprache, die Kultur und Wissen schafft

Das sprachliche Machtverhältnis, das bereits auf den Schulbänken beginnt, zieht sich auch später und in anderen Lebensbereichen weiter. Ein Beispiel dafür ist etwa die afrikanische Literatur. Der berühmte Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o plädiert dafür, literarische Werke vermehrt in afrikanischen Sprachen – also seiner Auffassung nach in Sprachen, die keine Kolonialsprachen sind oder waren – zu publizieren. Andere Berühmtheiten wie etwa Chinua Achebe in seinem Essay „English and the African writer“ (dt.: Englisch und der afrikanische Schriftsteller) oder Obiajunwa Wali in seinem Essay „The Dead End of African Literature“ (dt.: Die Sackgasse der afrikanischen Literatur) setzen sich ebenfalls mit dieser Thematik auseinander.

Ngugi wa Thiong’o selbst lebt seine Forderung auch vor: Seit 1977 schreibt er in seiner Erstsprache Kikuyu. Zuvor hatte er seine Werke auf Englisch verfasst. Die afrikanische Literatur müsse ihre Identität wiederfinden, meint der Kenianer. Dabei bezieht er sich auf ein Phänomen, welches er als „Identity theft“ (dt.: Identitätsdiebstahl) bezeichnet. Dies sei der Fall, wenn afrikanische Schriftsteller*innen nicht in ihren afrikanischen Erstsprachen, sondern in europäischen oder eben Kolonialsprachen schreiben und so indirekt zum Erhalt jenes Konstrukts beitragen, das der Kolonialismus zu erzielen versuchte: die fälschliche Annahme, dass literarische Kompetenz und afrikanische Sprachen nicht vereinbar wären. Die Identität wird insofern gestohlen, dass afrikanische Autor*innen wegen der Sprache als „glokal“ betrachtet werden, sie also ihre afrikanische Identität gegen eine kosmopolitische tauschen. Ihr Intellekt wird dann oft mit letzterer anstatt mit ersterer in Verbindung gebracht.

Außerdem besteht ein Machtgefälle zwischen schriftlicher Literatur und oraler Weitergabe. Gerade Behauptungen wie jene, dass es in vielen afrikanischen Sprachen keine verschriftlichte Form gäbe und diese deshalb vermeintlich „keine Geschichte hätten“, befeuerten das fälschliche koloniale Narrativ, dass Afrikaner*innen Europäer*innen unterlegen wären. Um damit zu brechen und gegen solche Falschannahmen vorzugehen, gibt es immer wieder positiven und konstruktiven Gegenwind von engagierten Menschen wie beispielsweise neben dem bereits erwähnten Ngugi wa Thiong’o auch Souleymane Kanté.

Souleymane Kanté hat 1949 das Schriftsystem N’ko erfunden, welches auf der Maninka-Sprache basiert – N’ko bedeutet auf Maninka „ich sage, dass“. Kanté hat unter Verwendung des N’ko Schriftsystems, das immer mehr auch eine tiefgehende kulturelle Bedeutung erhielt, auch Werke der Weltliteratur ins Maninka übersetzt.

Dass die Verschriftlichung und Inklusion afrikanischer Sprachen wichtig ist, wird nun sogar von Tech-Konzernen erkannt, die afrikanische Sprachen bislang weitgehend ignoriert haben. Ein Beispiel dafür ist Google, das nun wohl auch mehr afrikanische Sprachen in den Google-Übersetzungs-Service übernehmen möchte.

Auch jenseits der Technik, nämlich in der Wissenschaft, soll zukünftig mehr zwischen afrikanischen Sprachen und der in der Wissenschaft oft vorherrschenden Sprache Englisch übersetzt werden. Gerade auch in der akademischen Naturschutzdebatte, die den afrikanischen Kontinent sehr stark betrifft, ist Englisch die dominante Sprache. Laut dem südafrikanischen Ökologen Bheka Nxele könnten sich manche Personen dadurch, dass sie diese Diskussionen nicht in ihrer Erstsprache führen und in dieser nicht alle Konzepte und Fachbegriffe geläufig sind, von der Diskussion und dem damit einhergehenden Agieren der Politik auf dieser Ebene ausgeschlossen fühlen. Um solchen Phänomenen entgegenzuwirken, soll nun mehr Übersetzungsarbeit zwischen afrikanischen Sprachen und Englisch – auch in der Wissenschaft – forciert werden.

Der Weg zur Dekolonialisierung unserer Gedanken, Lebenswelten und auch von dem Verhältnis zwischen Sprachen ist lang. Doch immer mehr Menschen scheinen ihn antreten zu wollen und schüren Hoffnung.

 

[Die Autorin]
Nadja Grossenbacher arbeitet im Referat „Genozidprävention und Schutzverantwortung“ bei der Gesellschaft für bedrohte Völker. Ihr Schwerpunkt liegt auf Subsahara-Afrika. 2017 besuchte sie einen Vortrag von Ngugi wa Thiong’o in Wien.

 



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